Augustus

Historische Romane sind immer ein Balanceakt zwischen Überlieferung und Phantasie. Dementsprechend bietet auch Augustus  – wie John Williams einen gleich im Vorwort warnt – nicht die historische Wahrheit über den ersten römischen Kaiser, sondern nur eine literarische. Doch diese zu finden, mithin also eine überzeugende Figurenriege in einer plausiblen Welt heraufzubeschwören, die den geschichtlichen Tatsachen nicht allzu sehr widerspricht, gelingt dem amerikanischen Schriftsteller in seinem zuerst 1971 erschienenen Werk sehr gut.
Gaius Octavius – der spätere Augustus – ist ein kränklicher und vermeintlich harmloser junger Mann, als ihn die Nachricht von der Ermordung seines Großonkels Caesar erreicht, der ihn testamentarisch adoptiert. Gegen den Rat seiner Mutter macht er sich in Begleitung seiner drei besten Freunde Agrippa, Maecenas und Salvidienus Rufus auf, das schwierige Erbe anzutreten. Getrieben wird er dabei nicht nur von seinem Ehrgeiz, sondern auch von seiner Vision eines besseren Rom, das an die Stelle der bürgerkriegsgeplagten späten Republik treten soll. Wider Erwarten haben seine hochfliegenden Pläne Erfolg, doch der wiederum hat seinen Preis, denn Octavius verliert auf dem Weg zur Macht nicht nur Freunde, sondern opfert ihr nach und nach auch das Glück seiner Schwester, seine Tochter, seine Ehe und den Menschen, der er hätte sein können.
Es ist nicht allein dieses deutliche Fragezeichen hinter der Geschichte eines kometenhaften Aufstiegs, das die Besonderheit von Augustus ausmacht, sondern vor allem auch die Art des Erzählens. Ungewöhnlich für einen in der Antike angesiedelten Text wählt Williams die Form des Briefromans (wobei sich zwischen Schreiben mit Absender und Empfänger auch autobiographische Aufzeichnungen und dergleichen mehr mischen). So hat man es in den drei großen Abschnitten, in die das Buch unterteilt ist, gleich mit einer ganzen Schar mehr oder minder unzuverlässiger Erzähler zu tun, deren Blick aufs Geschehen jeweils recht viel über bewusst gespielte Rollen und Lebenslügen verrät. Beeindruckend ist, wie gut Williams dabei jedem eine unverwechselbare Stimme zu verleihen weiß. In den Fällen, in denen die historischen Vorbilder Schriftliches hinterlassen haben, ist er dabei oft nahe am Original (vor allem bei dem einerseits geistreichen, andererseits aber auch von seiner Eitelkeit geblendeten Cicero).
Die Annäherung an Augustus selbst erfolgt schrittweise. Schildern im ersten Buch überwiegend politische Gegner und Weggefährten den Aufstieg eines lange Unterschätzten, dominiert im zweiten Buch das persönliche Umfeld aus Intellektuellen und Familienangehörigen, insbesondere in Gestalt der in Ungnade gefallenen Tochter Julia, die in ihrer Verbannung auf der unwirtlichen Insel Pandateria auf ein Leben zurückblickt, in dem nicht nur Eheschließungen und öffentliche Auftritte, sondern sogar scheinbar aus Neigung eingegangene Liebesbeziehungen eine politische Dimension hatten. Erst in der letzten Phase des Romans kommt der sterbende Kaiser selbst ausführlich zu Wort und lässt manch bisherige Gewissheit noch einmal in ganz neuem Licht erscheinen. Gerade die hier aufscheinende desillusionierte Beobachtung, dass Frieden und Wohlstand allein den Menschen anscheinend nicht genügen und darum auch nicht von Dauer sind, wirkt verblüffend aktuell. Dass Williams Augustus in diesem Kontext auch den künftigen Untergang des römischen Reichs und sogar eine religiöse Entwicklung, in der man das Christentum vermuten kann, vorausahnen lässt, verrät ein wenig zu stark die Perspektive des Autors. Insgesamt jedoch berührt der nachdenkliche Monolog, und es ist gewiss kein Zufall, dass er mit einer Erinnerung an ein Opfertier schließt, das mit Augustus die im Roman oft beschworenen blauen Augen gemein hat.
Die Übersetzung von Bernhard Robben fängt brillant die unterschiedlichen Stilebenen und Ausdrucksweisen ein. Sprachlich irritiert nur, dass Williams (und das laut Vorwort absichtlich) heutige und antike Ortsnamen munter mischt: Reggio steht neben Brundisium, Arezzo neben Perusia. Auch abgesehen davon muten einzelne Formulierungen etwas zu modern an, wenn Ich-Erzähler etwa auf Metaphern aus dem den Römern noch unbekannten Schachspiel zurückgreifen oder wenn mehrfach von Oboen die Rede ist (sind hier vielleicht Auloi gemeint?).
Von solchen Details einmal abgesehen, ist Augustus jedoch ein Lektüregenuss, vor allem, wenn man sich in der römischen Geschichte ein bisschen auskennt und Vergnügen daran hat, die Figuren mit dem, was man über ihre realen Vorbilder weiß, zu vergleichen.

John Williams: Augustus. 3. Aufl. München, DTV, 2016 (Original: 1971, Neuausgabe 2014), 474 Seiten.
ISBN: 9783423280891


Genre: Roman