Buchtipps: Mittelalter

Das Mittelalter umfasst vom Untergang des weströmischen Reichs am Ende der Spätantike bis zum Anbruch der Frühen Neuzeit, die man gemeinhin in etwa mit der Entdeckung Amerikas durch Kolumbus und mit der Reformation einsetzen lässt, um die 1000 Jahre, und Bücher, die sich mit der gesamten Epoche oder mit irgendeinem Teilaspekt davon beschäftigen, gibt es wie Sand am Meer. Gerade die Publikationen, die sich nicht an ein reines Fachpublikum richten, bedienen jedoch gern gewisse Klischees und lassen einen manchmal aus dem Blick verlieren, dass es auf dem sattsam beackerten Feld auch abseits von Ritterromantik einerseits und Schreckensszenarien um Pest und Gewalt andererseits einiges zu entdecken gibt. Die folgenden Buchtipps sollen den Einstieg in ein ganz anderes Mittelalter als das in der populärwissenschaftlichen Literatur so oft beschworene erleichtern.

1. Steffen Patzold: Ich und Karl der Große. Das Leben des Höflings Einhard. Stuttgart, Klett-Cotta 2013, 407 Seiten.
ISBN:978-3608947649

Das Frühmittelalter wird gern auf die Themen Krieg und Glauben reduziert, und selbst beim Stichwort „karolingische Renaissance“ hat man meist wohl vor allem gebildete Geistliche vor Augen. Mit Einhard, der heute vor allem als Biograph Karls des Großen bekannt ist, präsentiert Steffen Patzold jedoch einen weltlichen Gelehrten, der abseits ausgetretener Pfade Karriere machte und dessen Weg ihn durch ganz verschiedene Umfelder führte, von der Welt der vermögenden Landbesitzer über das Kloster (wo er seine Ausbildung erhielt) bis zum Herrscherhof. Neben einem Blick auf eine facettenreiche und ungewöhnliche Persönlichkeit lässt einen die quellennah gearbeitete Biographie deshalb auch den ein oder anderen Blick auf die unterschiedlichsten Formen des Alltags zur Karolingerzeit erhaschen, ganz gleich, ob gerade Reliquien gestohlen werden, ein Trauerfall brieflich aufgearbeitet wird oder ein mit einer freien Frau durchgebrannter Leibeigener Fürsprache benötigt. Einhards Lebensbeschreibung gegenübergestellt sind dabei umfangreiche Auszüge aus seiner Karlsvita, die Kontrastprogramm und ständiger Bezugspunkt zugleich ist. Karl, so wird deutlich, prägte Einhard entscheidend – doch umgekehrt hat dieser bis heute großen Einfluss auf die Wahrnehmung des Königs und Kaisers.
Wer neugierig auf Einhard geworden ist, findet übrigens meine ausführlichere Rezension dieses Titels als Gastbeitrag im Textmultiversum.

2. Arnold Esch: Wahre Geschichten aus dem Mittelalter. Kleine Schicksale selbst erzählt in Schreiben an den Papst. München, C.H. Beck 2012, 223 Seiten.
ISBN: 978-3406630958

Interessante Alltäglichkeiten hat auch das Spätmittelalter zu bieten, und sie sind wohl in kaum einem Buch so unmittelbar nachzuempfinden wie in Arnold Eschs Auseinandersetzung mit Bittschriften an den Papst, in denen Menschen der verschiedensten Stände ihre Probleme schildern, um irgendetwas zu erreichen, sei es nun die Lossprechung von einer Buße, die Erlaubnis zum Umzug in ein anderes Kloster oder die Auflösung einer erzwungenen Ehe. Angesichts der teilweise betroffen stimmenden Schicksale ist es tröstlich, dass Esch schon eingangs auf Folgendes hinweist: „Die registrierten Suppliken sind alle positiv entschieden worden, wenn auch teilweise mit Auflagen“. Obwohl der Autor quellenkritisch darauf hinweist, dass man bei dieser Textgattung natürlich bedenken muss, dass die Verfasser sich selbst im günstigsten Licht darstellen wollen, hat man das Gefühl großer Authentizität. Was einem hier in winzigen Versatzstücken entgegentritt, ist bisweilen tragisch, oft auch amüsant, immer spannend und häufig unerwartet, aber vor allem sehr, sehr menschlich. Fast bedauert man, dass jeder einzelne Fall nur sehr knappe Erwähnung findet, aber natürlich lebt das Gesamtbild gerade von der Fülle der unterschiedlichen Begebenheiten, die Esch an einem vorüberziehen lässt. Anlesetipp für alle (aber insbesondere für diejenigen, die das Mittelalter bisher primär für eine langweilige Epoche halten): Die Geschichte um den rabiaten Mönch und Gelegenheitssöldner, den Priester, das gestohlene Pferd und die resolute Großmutter auf S. 112f.

3. Leah Otis-Cour: Lust und Liebe. Geschichte der Paarbeziehungen im Mittelalter. Frankfurt am Main, Fischer Taschenbuch 2000, 232 Seiten.
ISBN: 978-3596601073

Das moderne Bild von Liebesbeziehungen und Ehen im Mittelalter ist oft verzerrt und vielfach stärker von der Rückprojektion eigener Wunsch- oder Angstvorstellungen geprägt als von einer Auseinandersetzung mit den Quellen. Wenn es ein Buch gibt, das man gern all denen in die Hand drücken möchte, die entweder hehren Träumen von ritterlicher Minne nachhängen oder dem diametral entgegengesetzten Irrglauben verfallen sind, dass düstere Historien- und Fantasyschinken mit ihren Welten voller Vergewaltigungen und Zwangsheiraten eine besonders realistische Darstellung der Vergangenheit bieten, dann dieses. Leah Otis-Cour sieht die Ursprünge des heutigen Liebes-, Ehe- und Familienverständnisses bereits im westeuropäischen Mittelalter angelegt, macht aber vor allem deutlich, dass es schon damals eine Fülle unterschiedlicher Abstufungen des Umgangs von Paaren miteinander gab und dass Einzelne oftmals die Dinge entspannter sahen, als es der geistlichen oder weltlichen Obrigkeit recht war. Die relative Kürze der Darstellung, die eine lange historische Entwicklung (mit Schwerpunkt auf dem Hochmittelalter) und einen recht großen geographischen Raum in den Blick nimmt, bedingt natürlich, dass manche Details nur angerissen werden, aber als Denkanstoß taugt die Untersuchung allemal, macht sie doch deutlich, dass es dort, wo oft primär Exotik, Märchenhaftes und Grauenvolles vermutet werden, auch viel unaufgeregte Normalität gab.

4. Marina Münkler: Marco Polo. Leben und Legende. 2., überarbeitete und erweiterte Auflage München, C. H. Beck 2015, 128 Seiten.
ISBN: 978-3406676826

Zugegeben, ein Werk über Marco Polo scheint in einer Auflistung ungewöhnlicher Zugänge zum Mittelalter erst einmal fehl am Platze zu sein; auch über ihn ist schließlich schon viel geschrieben worden. Marina Münklers Werk hebt sich jedoch positiv vom Durchschnitt ab, weil sie deutlich zu machen versteht, dass das Spektakuläre an dem berühmten Venezianer eigentlich nicht seine lange Reise an sich war (da in der Hinsicht zahlreiche italienische Kaufleute derselben Epoche mit ihm mithalten konnten), sondern dass er einen Bericht darüber verfasste bzw. schreiben ließ. Münkler spricht Marco Polo seinen Asienaufenthalt dabei nicht ab (und verwahrt sich auch eindeutig gegen die insbesondere von Frances Wood popularisierte These, er sei nur ein Hochstapler gewesen), und man erfährt aus ihrem Buch durchaus einiges über die Geschichte der Mongolen, ihre Kontakte mit Europäern und die venezianische Handelstätigkeit allgemein. Vor allem aber ist Marco Polo. Leben und Legende eine glänzende Darstellung der Art, wie im Mittelalter Texte produziert wurden und wie sie in übersetzter und vielfach umgeschriebener Form ihre Wirkung über Jahrhunderte hinweg entfalten konnten – in diesem speziellen Fall bis hin zu Kolumbus, dessen Exemplar von Marco Polos Reisebericht samt Anmerkungen erhalten ist.

Nicht nur das letzte Beispiel, das den Bogen zur Neuzeit schlägt, macht deutlich, wie prägend das Mittelalter bis heute für die europäische Kultur und Geschichte ist – und das nicht immer nur in offensichtlicher Hinsicht. Ein Abstecher auch in die unbekannteren Winkel dieser fernen Zeit lohnt sich also, und vielleicht bietet dieser Beitrag ja ein paar erste Anregungen dazu.


Genre: Geschichte