Die Kinder des Prometheus. Eine Geschichte der Menschheit vor der Erfindung der Schrift.

Beim Stichwort „Geschichte der Menschheit“ denken selbst historisch Interessierte wohl vorwiegend an die letzten zweieinhalb bis drei Jahrtausende. Geschichte, so möchte man meinen, erstreckt sich vom alten Ägypten und Mesopotamien über die griechische und römische Antike bis hin zum europäischen Mittelalter und der Neuzeit, in der allmählich auch der Rest der Welt – soweit von Europäern „entdeckt“ und kolonisiert – in den Blick gerät. Vielleicht denkt man nebenbei noch an einzelne Kulturen in Asien, ans Perserreich, die Herausbildung des Islam, die chinesischen Dynastien, die indischen Moghulen oder das alte Japan. Mehr hat man in der Regel nicht parat und übersieht dabei, dass diese durch Schriftquellen überlieferte und erschlossene Geschichte eigentlich nur einen verschwindend geringen Abschnitt der Menschheitsentwicklung umfasst.
Eine Erweiterung der Perspektive strebt Hermann Parzinger mit Die Kinder des Prometheus an. Der Titel beschwört mit seinem Verweis auf den Titanen, der in der griechischen Sage nicht nur die Menschen formte, sondern ihnen auch das Feuer brachte, mythische Dimensionen herauf. Das ist nicht verfehlt, ist Parzingers Ansatz doch nicht nur global, sondern zugleich auch auf große Zeiträume ausgerichtet, die sich dem menschlichen Begriffsvermögen eigentlich entziehen: Vom ersten Auftreten früher Hominiden in Afrika bis zum Übergang von der prähistorischen Periode in die schriftlich fassbare Geschichte umspannt die Darstellung Millionen von Jahren und behandelt davon Jahrzehntausende genauer.
Ein ehrgeiziges Projekt also, das aber bei Hermann Parzinger, dem wahrscheinlich bekanntesten deutschen Prähistoriker, in den denkbar besten Händen ist. Wenn überhaupt jemand über das profunde Wissen und die Vision verfügt, die Vorgeschichte weltweit hinsichtlich der longue durée in den Blick zu nehmen, dann er, und er meistert die selbstgewählte Herausforderung bravourös und in auch für Laien gut verständlicher Form.
Die Erfindung der Schrift ist dabei allenfalls als sehr vager terminus ante quem zu begreifen, denn weder setzt Parzinger mit der ersten Erfindung einer Schrift weltweit einen klaren Schnitt, noch schildert er die Entwicklung jeder Kultur bis zu dem Zeitpunkt, zu dem sie Schriftzeichen entwickelte oder übernahm. Weniger griffig, aber etwas genauer wäre wohl die Angabe, dass er eine Geschichte der Menschheit bis etwa zum Ende der (Jung-)Steinzeit bietet – und deren Dauer unterschied sich je nach geographischer Region erheblich. So ergibt sich eine gewisse Schieflage: Während der Abschnitt über Europa beispielsweise mit dem 2. Jahrtausend v. Chr. endet, führen die Kapitel über Japan oder das südliche Afrika bis in die Jahrhunderte kurz vor Christi Geburt, und wenn es schließlich um die Besiedlung Ozeaniens geht, bewegt man sich in einer Epoche, in der anderswo schon längst das Mittelalter angebrochen war. Aufgrund der sehr heterogenen Entwicklung der verschiedenen Gebiete ist das verständlich, doch die Möglichkeit eines synchronen Blicks auf verschiedene Weltgegenden ist so natürlich gerade in den späteren behandelten Zeitabschnitten nur noch begrenzt gegeben.
Ohnehin ist man aber nicht gezwungen, sich mit dem Gesamtbild zu befassen, wenn man nur gezielt an einer einzelnen Region interessiert ist: Während die ersten beiden Kapitel zur biologischen und kulturellen Evolution des Menschen in der Altsteinzeit übergreifend gestaltet sind, werden im Anschluss daran geographische Großräume jeweils so behandelt, dass man die Abschnitte auch als in sich abgeschlossene Darstellungen lesen kann. Naturgemäß lassen sich dabei einige Wiederholungen nicht vermeiden (so werden z.B. bestimmte Fachbegriffe mehrfach erklärt), doch selbst wenn man das Buch von Anfang bis Ende verschlingt, macht einem das wenig aus. Zu faszinierend ist das gewaltige Panorama der (selbstverständlich nicht überall erfolgten) Entwicklung vom nomadischen Wildbeutertum zu unterschiedlichsten Formen des produzierenden Wirtschaftens, die oft, aber nicht immer mit Sesshaftigkeit einhergehen, und zu frühen Hochkulturen.
Parzingers Interpretationen bleiben dabei immer wohltuend zurückhaltend. Wiederholt warnt er davor, insbesondere im sozialen und religiösen Bereich unreflektiert Beobachtungen aus späteren Epochen auf prähistorische Zeiten zu übertragen. So wissen wir z.B. über Geschlechterrollen in der Altsteinzeit so gut wie nichts, so dass man das Klischee von der scharfen Abgrenzung zwischen den Sphären jagender Männer und sammelnder Frauen zumindest mit einem Fragezeichen versehen sollte; geschlechtsspezifische Grabbeigaben, die dahingehende Vermutungen erlauben, sind zumindest erst sehr viel später überliefert. Für ähnlich fragwürdig hält Parzinger die Tendenz, jegliches Auftauchen von Tierdarstellungen in einem möglicherweise kultischen Kontext sofort als Hinweis auf schamanistische Vorstellungen zu verbuchen.
Noch häufiger mahnt er aber dazu, den für viele Regionen erschreckend bruchstückhaften Forschungsstand im Gedächtnis zu behalten, der oft genug nur punktuelle Aussagen ermöglicht. Während in Europa, im Vorderen Orient und manchen Teilen Asiens – ironischerweise also gerade in den Gegenden, in denen die Vorgeschichte dank des frühen Einsetzens von Schriftlichkeit kürzer ist als anderswo – relativ viele Fundstellen bekannt und Entwicklungslinien gut zu verfolgen sind, ist es in Nord- und Südamerika, Afrika oder auch Australien oft gar nicht möglich, ein auch nur ansatzweise flächendeckendes Bild zu zeichnen. Die Erkenntnis, wie lückenhaft deshalb das Wissen über ganze Jahrtausende der Menschheitsgeschichte ist, lässt die weitverbreiteten Klagen über die Quellenarmut zahlreicher historischer Epochen in neuem Licht erscheinen. Auch wenn man als Historiker bedauern mag, über bestimmte Details schlecht informiert zu sein, wissen wir in Wirklichkeit über die letzten paar Jahrhunderte erstaunlich viel, wenn man bedenkt, wie viel schon vorausgegangen und wirklich unwiederbringlich im Dunkel der Geschichte versunken ist.
Gerade angesichts dessen ist es umso beeindruckender, dass einiges trotz allem schlüssig rekonstruiert werden kann. Die einzelnen Fundstellen, aus denen sich das Gesamtbild mosaikartig zusammensetzt, erfahren dabei eine recht ausführliche Würdigung. So ist man am Ende restlos von der Vielfalt menschlichen (Er-)Lebens beeindruckt und zugleich ein wenig ernüchtert, zieht sich doch die Vergänglichkeit selbst der erfolgreichsten Kulturen wie ein roter Faden durch das ganze Buch. Allerdings stimmt das Fazit, zu dem Parzinger gelangt, einen im Endeffekt doch wieder hoffnungsvoll: Der Mensch muss sich zwar auf seine Umwelt einstellen, um überleben zu können, und wird dementsprechend auch von ihr geprägt, aber es lässt sich nicht beobachten, dass bestimmte Rahmenbedingungen zwangsläufig zu einer spezifischen Entwicklung führen. Vielmehr erweisen sich menschliche Kreativität und Individualität als das letztlich Beständige – und das ist eine Perspektive, die einem trotz aller Schattenseiten älterer wie jüngerer Geschichte Mut macht.

Hermann Parzinger: Die Kinder des Prometheus. Eine Geschichte der Menschheit vor der Erfindung der Schrift. C.H. Beck 2014, 848 Seiten.
ISBN: 978-3406666575


Genre: Geschichte