Liebe in den Zeiten der Römer

„Das Buch will ich einmal schreiben, wenn ich dabei keine roten Ohren mehr bekomme“ – so will es sich der Archäologe Günther E. Thüry nach eigener Aussage vorgenommen haben. Nun hat er seinen Plan in die Tat umgesetzt, und die roten Ohren drohen stattdessen, je nach Veranlagung, der Leserschaft des auch grafisch schön gestalteten kleinen Bildbands (mit Herzchen und Amors Pfeil als wiederkehrenden Elementen). Denn in Liebe in den Zeiten der Römer geht es ohne Prüderie und falsche Scheu um Gefühle, Lust und Sexualität insbesondere in den nördlichen Provinzen des Römischen Reichs. Im Vordergrund stehen zahlreiche ausführlich in Bild und Text präsentierte Funde wie Kunstwerke, Alltagsgegenstände oder Grabinschriften. Zu ihrer Interpretation werden ergänzend auch literarische Quellen herangezogen, um sich detailliert mit einer Seite des antiken Lebens auseinanderzusetzen, deren Erforschung jahrhundertelang an moralischen Bedenken krankte.
Die Römer – so wird rasch deutlich – pflegten in mancherlei Hinsicht ein entspannteres Verhältnis zur Sexualität als viele spätere Epochen. Erotische bis obszöne Darstellungen an Küchengeräten, Lampen, Amuletten oder Gefäßen, die heute wohl allenfalls als derbe Scherzartikel für besonders Mutige Absatz finden würden, waren weitverbreitet und auch keineswegs aus dem öffentlichen Raum verbannt.
Daraus aber auf eine allgemeine Dekadenz der römischen Kaiserzeit zu schließen, wie es gerade die Wissenschaft des 19. und frühen 20. Jahrhunderts gern tat, wäre jedoch verfehlt. Ein hemmungsloses Ausleben aller Neigungen war weder legal noch sozial akzeptiert, und wie frei jemand in der Wahl seiner Partner war, bestimmten in hohem Maße Geschlecht, Rechtsstellung und gesellschaftlicher Status. Das Spektrum der Erfahrungswelten reichte hier vom männlichen Bürger, der sich vieles, aber durchaus nicht alles erlauben konnte, bis hin zu hilflos den Zudringlichkeiten ihrer Herren ausgelieferten Sklaven oder oft ebenfalls unfreien und manchmal gar minderjährigen Prostituierten. Auch sexuelle Gewalt war ein Thema, so z.B. an Gegner gerichtete Vergewaltigungsdrohungen, von denen etwa ein Schleuderblei aus Bürgerkriegszeiten zeugt, das dem späteren Kaiser Octavian drastisch Entsprechendes in Aussicht stellt. Neben schierer Brutalität stehen jedoch auch subtilere Formen, den eigenen Willen in Liebesdingen durchzusetzen (wie etwa Zauber, die einen untreuen Ehepartner zurückholen oder Rivalen ausschalten sollten).
Thüry warnt allerdings davor, vor dem Hintergrund dieser Beobachtungen ins umgekehrte Extrem zu verfallen und das römische Liebesleben, so wie in der jüngeren Forschung bisweilen geschehen, pauschal als von Zwang und Freudlosigkeit bestimmt zu betrachten. Gerade die These, eine partnerschaftliche Liebe in heutigem Sinne und die entsprechenden Gefühle wären frühestens im Hochmittelalter „entdeckt“ worden, lehnt er ab und führt zahlreiche Beispiele von Zuneigung und Romantik auf. Besonders anrührend sind dabei Grabsteine, die der überlebende (Ehe-)Partner dem verstorbenen setzte, ob nun ein Ehemann den Verlust seiner Frau bei der Geburt eines Kindes und das Ende der gemeinsamen glücklichen Zeit beklagt oder ob der Geliebte eines Arztes von diesem Abschied nimmt. Eher die heitere und angenehme Seite von Verliebtheit und Werben zeigen dagegen allerlei als Geschenk dienende Gegenstände (wie Ringe oder verzierte Schreibgriffel), deren Inschriften Gefühle in den Mittelpunkt stellen, die auch für uns Heutige noch gut nachvollziehbar sind.
Ohnehin besteht Thürys großes Verdienst darin, immer wieder mit viel Empathie und oft nicht ohne Humor die Menschlichkeit in den Vordergrund zu rücken, die es bei aller Fremdheit bestimmter Sitten, Überzeugungen und Gebräuche doch ermöglicht, aus der zeitlichen Distanz Verständnis für die liebenden Römer zu entwickeln. Auf diese Weise das Zeitlose im Zeitgebundenen zu entdecken, macht die Lektüre zu einem besonderen Vergnügen.

Günther Emerich Thüry: Liebe in den Zeiten der Römer. Mainz, Nünnerich-Asmus, 2015, 144 Seiten.
ISBN: 9783945751138


Genre: Geschichte