Magie im Alltag. Warum wir immer noch Daumen drücken und auf Holz klopfen

Zauberei, Dämonenglaube, Geisterfurcht – all das scheint mittlerweile zumindest hierzulande der Lebenswirklichkeit der meisten Menschen sehr fern zu sein. Doch in gewissem Maße ist das ein Trugschluss, wie der Germanist Karl-Heinz Göttert aufzeigt, nimmt er doch in seiner Sammlung kleiner Artikel (die zum Teil zunächst für seine Zeitungskolumne entstanden) heutige Relikte magischen Denkens zum Ausgangspunkt, um mit leichter Hand durch die Kulturgeschichte der abendländischen Magie zu führen. Während er einerseits vor jedem Aberglauben warnt, möchte er andererseits auch Reiz und Schönheit eines magischen Weltbilds erfahrbar machen. Das gelingt über weite Strecken durchaus, wenn auch mit gewichtigen Abstrichen.
Zunächst einmal darf man nicht den Fehler begehen, irgendeine Form von rotem Faden oder allzu scharfer Kategorisierung zu erwarten. Die Artikelsammlung ist locker in Oberkapitel aufgeteilt, die Texte zu bestimmten Praktiken (wie etwa Wahrsagerei) oder Gestalten bündeln (z.B. Große Magier, unter denen historische Persönlichkeiten ebenso vertreten sind wie literarische Figuren). Eine fortlaufende Argumentation ist aber nicht angestrebt, und so bleibt es bei kleinen Häppchen von ungefähr zwei Seiten Länge, in denen ein buntes Sammelsurium unterschiedlichster Themen abgehandelt wird. Hier lässt sich mancherlei entdecken, das amüsiert, erstaunt und unverständlich Gewordenes erklärt (z.B., warum es sich nicht gehört, mit dem Finger auf andere Menschen zu zeigen, oder gegen welche Gefahr das Daumendrücken eigentlich helfen soll).
Durchgängig erkennbar ist Götterts Bemühen, möglichst humorvoll und vergnüglich zu schreiben. Während die augenzwinkernden Formulierungen einem tatsächlich das ein oder andere Schmunzeln entlocken, wirken einige der Scherze allzu bemüht und haben eine etwas unglückliche Tendenz. So beklagt der Autor zwar die mittelalterliche Misogynie, zieht aber an anderer Stelle selbst genüsslich darüber her, dass doch so gut wie jede Frau einen Schuhtick habe und ihrem Mann damit auf die Nerven falle – ein müdes Klischee, das zwar sicher witzig gemeint ist, einen aber eher zum resignierten Kopfschütteln als zum Lächeln reizt.
Wohl der geringen Artikellänge geschuldet ist zudem manches arg verkürzt und undifferenziert dargestellt, interessanterweise sogar dort, wo Götterts eigentliches Spezialgebiet, die Germanistik, betroffen ist. Wenn er etwa die „Merseburger Zaubersprüche, mit denen man Vieh heilte“ erwähnt, will man ihm gern glauben, dass der zweite Merseburger Zauberspruch, der eine Pferdeheilung schildert, auch bei anderen Tieren angewandt wurde. Man fragt sich allerdings, wie weit man mit dem ersten, der eine Gefangenenbefreiung zum Inhalt hat, wohl im Kuhstall kommen würde. Andere Informationen sind sogar schlicht fehlerhaft, wie etwa die Behauptung, der römische Kaiser Valens habe „in der Schlacht von Adrianopel gegen die Perser“ gekämpft, denn eigentlich waren es die Goten. Ebenso erstaunt liest man hier von der „Wahl von Samuel zum ersten König der Israeliten“ – dass dann doch Saul den Thron bestieg, war demnach wohl ein über die Jahrtausende geschickt vertuschter Staatsstreich.
Gerade aufgrund solcher Ungenauigkeiten und Schnitzer ist es bedauerlich, wenn auch in Anbetracht der Entstehungsgeschichte des Buchs erklärlich, dass sowohl auf Fußnoten als auch auf eine umfangreiche Bibliographie verzichtet wurde. Die kleinen Literaturhinweise im Nachwort geben zwar eine Richtung vor, wenn man sich mit dem Themenspektrum von Magie im Alltag noch etwas tiefer auseinandersetzen möchte, helfen aber nicht dabei, zu rekonstruieren, wie einzelne kritikwürdige Aussagen zustandegekommen sind.
So ertappt man sich alles in allem bei dem Wunsch, die an sich so nette Idee, ein buntes Kaleidoskop der Alltagsmagie in Geschichte und Gegenwart zu bieten, wäre mit etwas mehr Sorgfalt umgesetzt worden. Ganz abzuraten ist von der Lektüre sicher nicht, hat sie doch ihren Unterhaltungswert und ihre lehrreichen Augenblicke. Aber wie so vieles im Bereich von Zauberei und Aberglauben ist eben auch Magie im Alltag mit Vorsicht zu genießen.

Karl-Heinz Göttert: Magie im Alltag. Warum wir immer noch Daumen drücken und auf Holz klopfen. Stuttgart, Reclam, Neuausgabe 2014 (Original: 2003), 239 Seiten.
ISBN: 9783150203613


Genre: Kunst und Kultur