Ostia – Der Hafen Roms

Wenn es um gut erhaltene römische Städte in Italien geht, sind im allgemeinen Bewusstsein vor allem Pompeji und Herculaneum präsent. Weniger bekannt ist, dass man auch in Ostia, dem Hafen des antiken Rom, große Teile des Stadtgebiets mit eindrucksvollen Ruinen ergraben hat. Zwar bietet Ostia anders als die Vesuvstädte keine Momentaufnahme einer bestimmten Epoche, da es im Frühmittelalter allmählich aufgegeben wurde, statt schlagartig ein dramatisches Ende zu finden, aber dafür ist der Blick in die Antike hier auch nicht mit einer beispiellosen Katastrophe und dem damit einhergehenden Verlust an Menschenleben erkauft.
Marion Bolder-Boos zeichnet in Ostia – Der Hafen Roms die Stadtentwicklung chronologisch von der eher legendären Gründung durch den römischen König Ancus Marcius, der im 7. Jahrhundert v. Chr. geherrscht haben soll, über Republik und Kaiserzeit bis zum Niedergang in der Spätantike nach. Grundgerüst des Bildbands ist dabei eine minutiöse, durch zahlreiche Fotos und Grundrisse unterstützte Beschreibung der erhaltenen Baudenkmäler und deren Deutung, wobei so unterschiedliche Gebäudetypen wie Wohnhäuser, Tempel, Vereinsbauten, Gewerbebetriebe, Speicher und nicht zuletzt auch die unter den Kaisern Claudius und Trajan errichteten ausgedehnten Hafenanlagen vorgestellt werden, um die sich mit Portus eine eigenständige Siedlung entwickelte. Vieles kann dabei exemplarisch für Phänomene der gesamten römischen Welt stehen und wird dementsprechend zum Anknüpfungspunkt für thematisch orientierte Sonderseiten (z.B. zum Thermenwesen oder zum Mithraskult). Andere Bauwerke dagegen weisen für Ostia typische Besonderheiten auf: So war hier etwa die als klassisches römisches Stadthaus der Wohlhabenden bekannte domus seltener als anderswo. Da Baugrund knapp war, mussten auch die Begüterten oft mit Wohnungen in Mehrparteienhäusern vorliebnehmen, sogenannten medianum-Appartements, die durchaus luxuriös ausgestattet sein konnten, sich aber in der Raumaufteilung von den berühmten Atriumhäusern stark unterschieden.
Besonders spannend wird es natürlich immer dort, wo die Aktivitäten von Individuen oder Personengruppen fassbar werden, die als Stifter oder Erneuerer von Gebäuden inschriftlich belegt sind, denn neben Lokalgrößen und ortsansässigen Berufskollegien sind hier auch immer wieder stadtrömische Politiker nachgewiesen, und zwar nicht erst die Kaiser und ihr Umkreis: Schon in republikanischer Zeit genoss die für die Getreideeinfuhr ungeheuer wichtige Hafenstadt etwa die Aufmerksamkeit Ciceros und seines Gegners Clodius.
Durch den Umstand, dass Ostia so stark von Handel und Gewerbe geprägt war, ergeben sich aber abseits der großen Politik auch Einblicke in Wirtschafts- und Alltagsleben, von den Abläufen in einer Großbäckerei über die Aufstiegschancen von Freigelassenen bis hin zu deftigen Wand- und Fußbodendekorationen in Tavernen. Interessant ist in diesem Kontext aber vor allem die Erkenntnis, dass politische Krisen sich, soweit am archäologischen Befund ablesbar, nicht unbedingt auch in einem ökonomischen Zusammenbruch oder einem Sinken des Lebensstandards niederschlugen; gerade das 3. Jahrhundert n. Chr., das in der Geschichtswissenschaft untrennbar mit den Soldatenkaisern und dem Stichwort der „Reichskrise“ verknüpft ist, war für die Bewohner von Ostia wohl keine unbedingt schlechte Zeit. Erst der Bedeutungsverlust als Handelshafen ab dem 4. Jahrhundert leitete den schleichenden Niedergang der Stadt ein, die aber selbst das Ende des römischen Reichs noch überstand. Als im frühen Mittelalter Sarazeneneinfälle und ein nachhaltig gewandeltes Wirtschaftssystem die Bedingungen dauerhaft ungünstig machten, wurde sie schließlich aufgegeben und nur noch als Steinbruch genutzt, bis in der Renaissance den Spuren der Antike wieder stärkere Beachtung geschenkt wurde.
Eher knapp abgehandelt wird die Forschungsgeschichte, doch auch hier lernt man einige verblüffende Details, die einen in der Ansicht bestärken, dass Archäologie beileibe nicht immer unpolitisch ist: So ist z.B. die Tatsache, dass in Ostia heute vor allem kaiserzeitliche und republikanische Ruinen zu sehen sind, darauf zurückzuführen, dass der Diktator Mussolini im Hinblick auf eine geplante Weltausstellung in Rom (die wegen des Zweiten Weltkriegs nicht zustandekam) die Ausgrabung genau der Zeitabschnitte forcierte, die dem faschistischen Regime genehm waren, weil man sie als Höhepunkt der römischen Macht betrachtete. Nicht minder wichtige Überreste aus der Spätantike gingen dadurch unwiederbringlich verloren.
Ein Glossar mit den wichtigsten architektonischen und archäologischen Fachbegriffen und eine zum Textverständnis ungemein nützliche bebilderte Auflistung römischer Mauerwerkstypen runden den gelungenen Band ab. So ist Ostia – Der Hafen Roms nicht nur für alle speziell an diesem Ort Interessierten eine lohnende Lektüre, sondern auch eine gute Möglichkeit, einen Einstieg in die römische Architekturgeschichte zu finden.

Marion Bolder-Boos: Ostia – Der Hafen Roms. Philipp von Zabern/WBG, 2014, 144 Seiten.
ISBN: 978-3805348195


Genre: Geschichte