Philipp II. von Makedonien

In der allgemeinen Wahrnehmung ist Philipp II. von Makedonien vor allem eines – der Vater Alexanders des Großen, der oft als der ungleich bedeutendere Herrscher betrachtet wird. Jörg Fündling beweist in seiner packend geschriebenen und gut lesbaren Biographie Philipps, dass dieser verkürzte Blickwinkel dem facettenreichen Makedonenkönig nicht gerecht wird, der wesentlich mehr zu bieten hatte, als nur Wegbereiter seines Nachfolgers zu sein.
Eine große Zukunft war Philipp nicht unbedingt in die Wiege gelegt. Als vermutlich sechster Sohn des in Polygamie lebenden und entsprechend kinderreichen Makedonenkönigs Amyntas III. wurde er in eine Zeit hineingeboren, in der das Überdauern der Herrschaft der Argeaden mehr als einmal am seidenen Faden hing. Während nacheinander zwei seiner Brüder dem Vater als Könige nachfolgten, wurde der jugendliche Philipp als Geisel nach Illyrien und später nach Theben gegeben. Erst nach dem überraschenden Tod seines Bruders Perdikkas auf einem Feldzug gelangte Philipp unter Verdrängung eines Neffen an die Macht, wobei ungeklärt ist, ob er von Anfang an den Königstitel führte oder zunächst nur als Regent fungierte. Beneidenswert war seine Lage jedenfalls nicht: Zwischen den kriegerischen Illyrern und Thrakern einerseits und der griechischen Poliswelt andererseits überwiegend im Binnenland eingezwängt, war Makedonien ein vergleichsweise rückständiger Landstrich, der bis auf seine Wälder, deren Holz für Schiffbau und Waffenherstellung begehrt war, und noch fast unerschlossene Metallvorkommen wenig zu bieten hatte. Obwohl sich die makedonischen Herrscher als Hellenen zu gerieren versuchten und sich gar einer Abstammung von Herakles rühmten, galten sie aus griechischer Sicht aufgrund ihrer Vielweiberei, ihrer rauen Sitten und ihres Lebens an der Peripherie Europas überwiegend als Barbaren.
Vordergründig schien Philipp dem Klischee zu entsprechen: Auch er war mit zahlreichen Frauen gleichzeitig verheiratet (unter denen die Molosserin Olympias, die Mutter Alexanders des Großen, durch ihre politischen Aktivitäten und nicht zuletzt auch ihre Konflikte mit ihrem Ehemann besonders hervorsticht), repräsentierte mittels verschwenderischer Gelage und führte seine zahlreichen Kriege gegen die Nachbarvölker nicht nur als Stratege, sondern auch unter erheblichem persönlichen Einsatz, der ihn ein Auge kostete und ihm nach und nach eine Reihe anderer Verwundungen bescherte, die seine Gesundheit dauerhaft angriffen.
Daneben erwies er sich jedoch als äußerst geschickt darin, sein Land wirtschaftlich und militärisch zu stärken: Ein Vorantreiben der Urbanisierung und des Bergbaus und nicht zuletzt die Eroberung von Häfen schufen die Voraussetzungen für eine Anbindung an überregionale Handelsnetze, während der Aufbau einer Flotte und die Ausrüstung der Armee mit Sarissen – überlangen Lanzen, die dank des Holzreichtums der Region billig zu haben waren und taktische Vorteile den üblichen Hoplitenheeren gegenüber boten – dabei halfen, das kriegerische Potential der Makedonen besser als zuvor zu nutzen. Die gesteigerte Schlagkraft seiner Kämpfer war für Philipp in zahlreichen kleinen und großen Kriegen nützlich, die ihn aber letzten Endes doch finanziell überforderten (so hinterließ er seinem Nachfolger wohl nur geringe Mittel, wenn nicht gar Schulden).
Die verwirrende Fülle von militärischen Aktivitäten, bei denen Verbündete und Gegner ständig wechselten, veränderte die griechische Welt unwiderruflich und kulminierte schließlich in der Schlacht von Chaironeia (338 v. Chr.), in der Philipp eine Allianz aus Athen, Theben und kleineren Poleis besiegte und so die Hegemonie über ganz Griechenland erlangte. Sein letztes politisches Großprojekt war die Planung eines Feldzugs gegen das Perserreich, auf den er jedoch selbst nicht mehr aufbrechen konnte: Auf dem Höhepunkt seiner Macht wurde er ermordet.
Wie bei Persönlichkeiten der Antike aufgrund der relativen Quellenarmut unvermeidlich, kann die Biographie Philipp nicht immer dichtauf folgen. Stattdessen zeichnet sie über weite Strecken minutiös die Entwicklungen nach dem Ende des Peloponnesischen Kriegs nach, die von einer zumindest in der Rückschau bisweilen erratisch erscheinenden und eher auf die Erlangung kurzfristiger Vorteile als auf ein übergeordnetes Konzept ausgerichteten Politik der einzelnen Poleis und Tyrannen geprägt waren. Besonders Philipps bekanntester Gegenspieler, der athenische Staatsmann und Redner Demosthenes, machte dabei nicht immer eine glückliche Figur.
Allerdings resultierte laut Fündling auch die Tatsache, dass es Philipp gelang, Makedonien vom recht unbedeutenden Königreich zur Großmacht zu machen, nicht aus der zielstrebigen Verfolgung eines wie auch immer gearteten Masterplans, sondern war viel eher einer opportunistischen Ausnutzung der sich bietenden Chancen zu verdanken, zum Teil vielleicht auch dem Zwang, durch permanente Kriege einerseits den Beutehunger der makedonischen Oberschicht zu befriedigen und andererseits den eigenen Ruf zu wahren.
Obwohl also der große historische Kontext in seiner Bedeutung angemessen gewürdigt wird, hebt Fündling auch immer wieder die Handlungsspielräume des Individuums hervor. Methodisch beruft er sich dabei auf Martin Jehne, und es fällt auf, dass er bei aller Seriosität in der Sache bisweilen wie dieser einen recht humorvollen Stil pflegt. Wenn er etwa Kapiteltitel wie „Eine Geschichte zweier Städte“ oder „Ein langerwartetes Fest“ wählt, ist überdeutlich, dass hier ein Literaturkenner beschwingt mit den Assoziationen spielt, die diese aus ganz anderen Zusammenhängen bekannten Formulierungen heraufbeschwören.
Dieselbe Bereitschaft, über den Tellerrand der Geschichtswissenschaft hinauszusehen, spricht auch aus der Tatsache, dass neben den Deutungen und Instrumentalisierungen, die Philipp vonseiten der Historiker im Laufe der Jahrhunderte erfahren hat, auch seine Rezeption in der heutigen Populärkultur angerissen wird. Alles in allem ergibt sich so ein sehr differenziertes Bild des Makedonenkönigs, der es – um den Bogen zurück zum Anfang zu schlagen – nicht unbedingt verdient hat, im Vergleich mit seinem berühmteren Sohn den Kürzeren zu ziehen: Ohne auch nur im Entferntesten ein Heiliger zu sein, pflegte Philipp bei aller Brutalität und allem Aufgehen in der Rolle des hypermaskulinen, trink- und kampffreudigen Königs einen maßvolleren und tragfähigeren Umgang mit seinem Umfeld als Alexander, der seine Herrschaft gleich mit einigen Verwandtenmorden begann und in seinem Eroberungs- und Siegesdrang weit umfangreichere Zerstörungen anrichtete als sein Vater.
Die letzten Rätsel um Philipp kann allerdings auch Fündling nicht lösen: Was genau den Leibwächter Pausanias verleitete, den König auf dem Hochzeitsfest seiner Tochter Kleopatra zu erstechen, bleibt ungeklärt, obwohl sich trefflich über Motive und Hintermänner spekulieren lässt, und auch, ob die im großen Tumulus von Vergina (Aigai) gefundenen Gebeine nun Philipp oder einem anderen Vertreter der Argeadendynastie zuzuordnen sind, lässt sich nicht zweifelsfrei feststellen. Fündling erläutert aber anschaulich, weshalb die Identifikation der Überreste mit dem Makedonenherrscher zur Zeit ihrer Auffindung in den 1970er Jahren in Griechenland politisch hochwillkommen war. Nichts könnte besser verdeutlichen, dass selbst historische Gestalten aus sehr fernen Epochen bis heute relevant sind, und das allein wäre Grund genug, sich mit Philipp zu beschäftigen, wäre er nicht schon aus sich selbst heraus eine im Guten wie im Bösen interessante Persönlichkeit.

Jörg Fündling: Philipp II. von Makedonien. Philipp von Zabern (WBG) 2014, 230 Seiten.
ISBN: 978-3805348225


Genre: Biographie