Reisen im Mittelalter

Mobilität und weite Reisen werden gewöhnlich vor allem mit der Neuzeit assoziiert. Das Mittelalter erscheint im allgemeinen Bewusstsein dagegen fälschlich oft eher als Epoche, in der kaum jemand über sein Heimatdorf hinauskam, von Ausnahmen wie Marco Polo oder den bis Nordamerika segelnden Wikingern einmal abgesehen. Auch diese bekannten Fernreisen spielen in Norbert Ohlers spannender Überblicksdarstellung Reisen im Mittelalter natürlich eine Rolle, aber vor allem wird deutlich, dass zwischen Spätantike und früher Neuzeit in kleinerem geographischen Rahmen erstaunlich viele Angehörige der unterschiedlichsten sozialen Gruppen unterwegs waren.
Während sich bei manchen – etwa Boten, Kaufleuten, Handwerkern oder auch Königen – Reisen aus Beruf oder Amt ergaben, hatten andere private Gründe, von Religiosität (etwa bei Pilgerfahrten im christlichen wie im islamischen Bereich) über Bildungshunger bis hin zu Forscherdrang (der z.B. Petrarca zu einer Bergwanderung auf den Mont Ventoux in Südfrankreich motivierte). Auch weniger erfreuliche Anlässe, wie Flucht oder Kriegszüge, brachten Menschen in Bewegung.
Den äußeren Bedingungen dieser verschiedenen Reisetypen ist der erste Abschnitt des Buches gewidmet. Neben umfassenden Angaben zu Umwelt, Wetter, Reit- und Zugtieren, Schiffahrt, Unterkunftsmöglichkeiten, Straßen, Brücken und Reisegeschwindigkeiten findet man hier auch Kuriositäten wie einen frühmittelalterlichen Sprachführer, dessen Verfasser offenbar davon ausging, dass man in die Situation kommen könnte, seinem Gesprächspartner charmanterweise „Hör doch zu, du Narr!“ an den Kopf zu werfen. Nicht zuletzt für alle, die Geschichten, Erzählungen oder Romane über vormoderne Gesellschaften schreiben (ob nun im historischen Genre oder in der Fantasy) und ihre Figuren auf Reisen zu schicken gedenken, ist dieser Teil des Buchs eine wahre Fundgrube.
Der zweite Großabschnitt schildert quellennah eine ganze Reihe konkreter Reisen, die zwischen Merowingerzeit und Spätmittelalter stattfanden (die chronologische Anordnung wird dabei allerdings teilweise zugunsten thematischer Schwerpunktsetzungen unterbrochen). Neben berühmten Reisenden wie Wilhelm von Rubruk, Ibn Battuta, Kolumbus oder Albrecht Dürer begegnen einem hier auch einige eher unbekannte, so z.B. eine versklavte Geisel und ihr Befreier auf der Flucht durchs Frankenreich, und sogar literarische Gestalten, lassen sich doch auch aus fiktionalen Schilderungen durchaus Schlüsse über das echte Leben ziehen.
Ohlers angenehmer Stil macht die Lektüre beider Teile zu einem großen Vergnügen, denn er schreibt nicht nur lesbar und allgemeinverständlich, sondern auch sehr menschlich, mit viel Gespür für Alltägliches und über die Jahrhunderte hinweg Verbindendes, gelegentlich sogar mit unterschwelligem Humor.
Abgerundet wird die Darstellung durch zahlreiche Abbildungen und einen nützlichen Anhang, der unter anderem eine Zeittafel zu wichtigen Reisen zwischen dem 5. und 16. Jahrhundert bietet.
Die Forschung zu einzelnen Aspekten des Reisens im Mittelalter mag vielleicht in den letzten Jahrzehnten noch etwas vorangekommen sein. Alles in allem bietet Ohlers Buch jedoch immer noch einen hervorragenden Einstieg in das Themengebiet, der Lust auf mehr macht und einen vor allem so nahe an die zeitgenössischen Quellen heranführt, dass man etwaige Berührungsängste schnell verliert. Allen Neugierigen seien die Reisen im Mittelalter also hiermit ausdrücklich ans Herz gelegt.

Norbert Ohler: Reisen im Mittelalter. München, DTV, 4. Auflage 1995 (Original: 1986), 456 Seiten.
ISBN: 3760819133


Genre: Geschichte