Tous les matins du monde

Große Freiheiten im Umgang mit den historischen Tatsachen, nicht unbedingt leicht zugängliche Hauptfiguren, die drastische Schilderung eines Selbstmords – Pascal Quignards Tous les matins du monde (dt. Die siebente Saite), ein Roman, der hierzulande vor allem durch die gleichnamige Verfilmung von Alain Corneau bekannt geworden ist, enthält einiges, was einen nicht auf den ersten Blick anspricht.
Wer sich davon abschrecken lässt, versäumt allerdings zugleich eine wunderbare literarische und philosophische Auseinandersetzung mit der Musik und der Frage, inwieweit man Kunst kompromittiert, wenn man sie zum Beruf macht und als Mittel des sozialen Aufstiegs begreift.
Die Charaktere, um deren Lebensentwürfe sich die Geschichte entspinnt, könnten gegensätzlicher nicht sein: Einem ebenso einsiedlerischen wie empfindsamen Asketen steht ein hedonistischer und eigensüchtiger Karrierist gegenüber.
Ersterer, der Komponist und Gambenvirtuose Monsieur de Sainte-Colombe, verliert seine Frau, die dennoch über den Tod hinaus als Geist mit ihm verbunden bleibt, und führt fortan mit seinen Töchtern Madeleine und Toinette ein äußerst zurückgezogenes Leben. Seine Kunst in den Dienst der Mächtigen zu stellen, lehnt er stets vehement ab. So sind Konflikte vorprogrammiert, als es dem jungen, ehrgeizigen Marin Marais – wenn auch nicht im ersten Anlauf – gelingt, ihn als Lehrmeister zu gewinnen. Die Spannungen eskalieren, als Marin die Gelegenheit wahrnimmt, am Königshof aufzutreten. Sein Zusammenstoß mit Sainte-Colombe hindert ihn jedoch nicht daran, eine Beziehung mit der sensiblen Madeleine anzuknüpfen und in seinem Egoismus und mangelnden Einfühlungsvermögen eine Tragödie heraufzubeschwören.
Ein wie auch immer geartetes „gutes“ Ende des kleinen Romans erscheint nach dieser Wendung kaum noch möglich, doch Quignard weiß den Leser zu überraschen und einen ebenso melancholischen wie versöhnlichen Abschluss zu finden, in dem eine Annäherung der beiden schwierigen Komponisten gelingt und Sainte-Colombe Marin Marais sogar so etwas wie sein Vermächtnis anvertraut.
Das scheinbar so simple letzte Gespräch, das die beiden über die Funktion der Musik führen, ist nicht nur inhaltlich berührend, sondern verrät auch Quignards Gespür für die Musikalität von Sprache, das auch in anderen Passagen durchschimmert. Ohnehin ist die mosaikartige Reihung kleiner, prägnanter Szenen in oft nur wenige Seiten langen Kapiteln stilistisch bemerkenswert und erzeugt einen sehr spezifischen Leserhythmus, der aber gar nicht schlecht zu den in ihrem Umfang sehr unterschiedlichen und in ihrem Verlauf nur scheinbar ruhigen Gambenstücken der Barockzeit passt, die hier immer wieder evoziert werden.
Als schöne Ergänzung zur Lektüre empfiehlt es sich, die Musik, von der Quignard sich inspirieren ließ, tatsächlich einmal anzuhören. Der Griff zum Soundtrack der Verfilmung mit Jordi Savalls kongenialer Einspielung verschiedenster französischer Barockwerke liegt natürlich nahe, aber wenn man sich speziell mit Sainte-Colombes Kompositionen näher befassen möchte, ist auch Hille Perls nachdenkliche Interpretation Retrouvé & Changé unbedingt empfehlenswert.

Pascal Quignard: Tous les matins du monde. Paris, Gallimard, 2003 (Erstausgabe: 1991), 117 Seiten.
ISBN: 978-2070387731


Genre: Roman