Archiv der Kategorie: Fundstücke

Hörtipp: Heike Ballers HörBar

Lesungen können ja im Moment leider nicht stattfinden, aber für eine schöne Alternative möchte ich hier ein bisschen Werbung machen: Heike Ballers HörBar.

In ihrem Blog Kölner Leselust veröffentlicht Heike Baller nicht nur lesenswerte Rezensionen, sondern auch immer wieder Beiträge mit Gedichten unter dem Stichwort Hauptsache Lyrik. Für die HörBar hat sie nun auch zahlreiche Gedichte eingelesen.

Mehrfach vertreten ist in der Auswahl Rainer Maria Rilke, dessen Poesie Heike Baller kongenial in gesprochene Worte umsetzt und so zum Klingen und Glänzen bringt (Anhörtipp: Ringe in der Abteilung Heike Baller liest Lyrik).

Einen zweiten Schwerpunkt bildet Barocklyrik, deren zeitlose Frische erst in der hörbaren Variante so richtig deutlich wird. Neben Werken von Andreas Gryphius oder Christian Hoffmann von Hoffmannswaldau erscheint hier auch Paul Gerhardts Sommergesang („Geh aus, mein Herz, und suche Freud“), der den meisten wohl eher gesungen als Kirchenlied vertraut ist, als vorgelesenes Gedicht.

Besondere Hörempfehlung hier: Susanne Elisabeth Zeidlers Beglaubigung der Jungfer Poeterey (zu finden unter Schullektüre zum Anhören), ein Text, dessen feministische Stoßrichtung auch heute noch aktuell wirkt und von Heike Baller voller Verve und mit dem passenden spöttischen Unterton vorgetragen wird.

Außer auf ihrer Website liest Heike Baller übrigens auch auf ihrem Youtube-Kanal.

 

Lesetipps in Kurzform 6 (Lesenswertes online)

Buchrücken (Symbolbild Lesetipps)

Foto: © Maike Claußnitzer

Während Süddeutschland im Schnee versinkt, herrscht hier im Norden gleichermaßen mildes wie trübes Novemberwetter im Januar, gelegentlich auch mit Sturm und Regen. Beste Lesebedingungen also, so dass es einmal wieder Zeit wird, sich umzusehen, welche lesenswerten Geschichten online frei zugänglich sind. Auf in die englischsprachige Welt der Fantasy!

Maria Haskins – Hand Me Downs

Frisch in diesem Januar im Onlinemagazin GigaNotoSaurus erschienen ist diese sympathische Geschichte um einen großen Lebenstraum, alltäglichen Rassismus, Familienreibereien und Freundschaft. Tilda, ein Trollmädchen im heutigen Kanada, hofft auf eine große Tanzkarriere. Doch was auf dem Weg dorthin von ihr verlangt wird, konfrontiert sie mit tiefsitzenden Vorurteilen, die selbst Menschen hegen, die es gar nicht böse mit ihr meinen, und lässt sie fast daran verzweifeln, ihre Wünsche, die Forderungen ihrer Tanzlehrerin und die Empfindlichkeiten ihrer eigenen Familie unter einen Hut zu bringen. Als dann auch noch ihre geliebte Großmutter und ihre beste Freundin Irene beginnen, sich seltsam zu verhalten, scheint guter Rat teuer …
Anders als sonst viel zu oft in der Fantasy ist Hand Me Downs keine Erzählung, die mit Blutvergießen und Action oder einer großen Weltenrettung zu punkten versucht. Stattdessen werden hier ganz realistische Themen wie Einwandererschicksale, der Umgang mit Behinderung und das Verfolgen persönlicher Ziele um eine phantastische Komponente bereichert. Obwohl Haskins den Trollen durchaus die Unheimlichkeit lässt, die sie auch in ihren mittelalterlichen Ursprungssagen besitzen, gewinnen sie hier ein sehr menschliches und herzerwärmendes Gesicht. Nur für Fans von Griegs Peer-Gynt-Suite könnte die Lektüre sich eher traurig gestalten …

Judith Tarr – Dragon Winter

Aus derselben Zeitschrift stammt auch diese Geschichte, die sich gar nicht stärker von der ersten Leseempfehlung unterscheiden könnte: Hier sind zahlreiche klassischen Fantasymotive von der scheinbar unüberwindlichen Bedrohung über furchterregende Ungeheuer bis hin zur unwahrscheinlichen Retterin der Gemeinschaft vereint, aber originell interpretiert. In einer mythischen, altgriechisch inspirierten Welt lebt Charis in einer Siedlung, die sich alljährlich gegen die Angriffe kriegerischer Nomaden verteidigen muss. Es gibt durchaus ein bewährtes, wenn auch riskantets Abwehrmittel, doch wie lange es noch vorhalten wird, ist fraglich. Ausgerechnet Charis‘ Mann Deion versucht sich daher unerlaubt an einem Experiment und wird in die Verbannung geschickt. Unterdessen rückt die Gefahr unaufhaltsam näher …
Neben den Figuren, deren Beziehungen feinfühlig ausgelotet werden, überzeugt hier vor allem die liebevolle Ausgestaltung der Welt. Mit dem Aussäen von Drachenzähnen greift Tarr ein spannendes Element der Argonautensage auf, und ihre Darstellung der Konflikte zwischen Sesshaften und Nomaden beweist, dass sie sich nicht nur mit der Mythologie, sondern auch mit der tatsächlich Vor- und Frühgeschichte des eurasischen Raums gut auskennt. Besonders gelungen ist daneben die Schilderung der Echsen, die, wie schon der Titel verrät, eine prominente Rolle spielen. Solch saurierhafte Drachen findet man selten.

Sharon J. Gochenour – About a Goat

Nicht in eine phantantastisch abgewandelte Vergangenheit, sondern in eine düstere, aber mit viel schwarzem Humor betrachtete Zukunft entführt dagegen diese kurze Geschichte, in der es ebenso brutal wie konsequent zugeht. Khazar, der Leiter eines Flüchtlingslagers, findet auf recht unersprießliche Art heraus, dass es seine Tücken hat, sich mit einer Ziege anzulegen – ob nun ganz handfest auf physischer Ebene oder telepathisch …
Trotz der Kürze des Texts wird hier ein übersprudelnder Weltenbau geboten und gelungen aus der Sicht einer nichtmenschlichen Hauptfigur bis hin zur ebenso boshaften wie komischen Schlusspointe erzählt.

Wer noch mehr lesenswerte englischsprachige Fantasy sucht: Ältere Lesetipps zum Thema sind hier und hier zu finden.

Lesetipp: When We Were Starless

Wer schon länger auf Ardeija.de mitliest, weiß, dass ich 2017 mit How Bees Fly bereits eine englischsprachige Geschichte von Simone Heller empfohlen habe. Mittlerweile ist sie wieder in dieselbe postapokalyptische Welt voller Echsen, verseuchter Landschaften und geheimnisvoller Artefakte aufgebrochen.

When We Were Starless führt allerdings aus der relativ sicheren Umgebung der befestigten Siedlungen fort ins Dasein von Hirtennomaden, die mit mechanischen Spinnen durch Gebiete streifen, in denen hungrige Riesentausendfüßler nur eine Bedrohung unter vielen darstellen. Viel furchteinflößender sind die Geister, Überreste einer untergegangenen Zivilisation, und ausgerechnet mit ihnen bekommt es die Kundschafterin Mink zu tun, als ihr Stamm in einem Gebäude aus alten Zeiten nach verwertbarem Rohmaterial sucht. Eigentlich ist das eine Herausforderung, die Mink problemlos meistern sollte – schließlich ist sie im Geisterbannen erfahren. Was aber, wenn ein Geist sich als ganz anders erweist als alle, denen man bisher begegnet ist? Pflichterfüllung, Notwendigkeit und eigene Wünsche lassen sich für Mink bald nicht mehr unter einen Hut bringen, während eine äußere Bedrohung unaufhaltsam näherrückt …

Was When We Were Starless zu einer originellen Lektüre macht, ist vor allem die Mischung aus leicht düsterer Science Fiction und Elementen traditioneller Erzählformen, von volkstümlichen Geschichten bis hin zur klassischen Fantasyliteratur. Das hier durchaus rational erklärte Märchenmotiv des außerhalb des Körpers verwahrten Herzens spielt ebenso eine zentrale Rolle wie die an gleich zwei Figuren in unterschiedlicher Form durchgespielten Opferbereitschaft einer Mentorengestalt, und der Reiz einer im Prinzip hochtechnisierten, aber in archaischen Erklärungsmustern verhafteten Gesellschaft wird bis zur Neige ausgekostet. Besonders Weltraumfans, die sich gern zu den Sternen träumen, werden ihre Freude am Verlauf von Minks Abenteuer haben (und auch so einiges aus der realen Welt wiedererkennen).

Wer neugierig geworden ist, findet hier den Link zu When We Were Starless – sowohl der Text selbst als auch eine Audiofassung stehen online frei zur Verfügung. Am besten ist es aber, beide Geschichten in der Reihenfolge ihres Erscheinens zu lesen, denn sie ergänzen sich gegenseitig und beleuchten die Frage nach dem Umgang mit überkommenen Traditionen, der Wahrnehmung von Technik und nicht zuletzt dem Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft auf eine Art, die erst in der Zusammenschau ein großes Ganzes ergibt.

Lesenswert ist in diesem Kontext übrigens auch der Blogbeitrag der Autorin zu ihrer Erzählung, in dem sie Inspirationsquellen und Hintergründe der Geschichte näher erläutert.

Lesetipps in Kurzform 5 (Lesenswertes online)

Buchrücken (Symbolbild Lesetipps)

Foto: © Maike Claußnitzer

Die letzten Tage waren wahrlich nicht so sommerlich, wie man es sich zu dieser Jahreszeit erhofft, aber Dauerregen und Gewitter haben auch einen Vorteil: Wenn man draußen nicht viel unternehmen kann, bleibt mehr Zeit für die Lektüre!

Lesenswertes findet sich dabei nicht nur in Büchern. Gerade im Bereich der englischsprachigen Fantasy und Science Fiction sind auch viele gute und unterhaltsame Geschichten online veröffentlicht. Die folgenden drei haben mir besonders viel Spaß gemacht:

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T. Kingfisher (alias Ursula Vernon) – The Dryad’s Shoe

Ich habe eine gewisse Schwäche für Märchen, doch Märchennacherzählungen oder märchenbasierten Geschichten kommen oft zu plump daher, um Spaß zu machen. Nicht so diese augenzwinkernde Aschenputtel-Variante, die manches Klischee mit leichter Hand genüsslich auf den Kopf stellt. Von der gärtnernden Heldin über den als Abgesandten einer Dryade agierenden sprechenden Vogel und die gar nicht einmal so bösen Stiefschwestern bis hin zur Dienerschaft sind die Figuren liebevoll gezeichnet. Der humorvolle Erzähltonfall und das selbstironische Spiel mit Märchentypischem (und -untypischem) runden diesen kleinen Leckerbissen ab.

Eine Übersicht über die online verfügbaren Geschichten der Autorin ist hier zu finden.

Sylvia Spruck Wrigley – Alienated

Etwas boshafter und düsterer geht es in Alienated zu: Die Ich-Erzählerin ist als verurteilte Mörderin in eine Strafkolonie auf einem fremden Planeten verbannt worden und nur bedingt eine sympathische Gestalt. Wie sie sich mit ihrer Situation und einem höchst unerwarteten Phänomen arrangiert, ist dennoch amüsant geschildert, so dass ein Plot, der auch zu intensivem Grusel bis hin zum Horror getaugt hätte, eine auf fiese Art durchaus hoffnungsvolle Wendung nimmt.

Auf ihrer Website listet die Autorin ihre online veröffentlichen Kurzgeschichten auf.

Rose Lemberg – The Desert Glassmaker and the Jeweler of Berevyar

„Hoffnung“ ist auch das passende Stichwort für diese Geschichte in Briefen, die herrlich optimistisch und in überbordend lyrischer Sprache den Zauber der Kunst und die Offenheit für Neues in den Mittelpunkt stellt. Die in Teilen der Fantasyleserschaft leider häufig anzutreffende (Fehl-)Annahme, dass nur Geschichten voller Action in möglichst dreckigen und dystopischen Welten lesenswert seien, wird hier gründlich widerlegt. Ein kleines Glaskunstwerk wird zum Ausgangspunkt einer Korrespondenz zwischen zwei Personen, die sich noch nie begegnet sind, und wie sich ihre Beziehung durch die gemeinsame Begeisterung für Natur und Wunderdinge ganz allmählich entwickelt und vertieft, liest sich mitreißender als so mancher Text um dramatischere Geschehnisse.

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Natürlich darf bei diesem Thema auch der Tipp nicht fehlen, Simone Hellers How Bees Fly zu lesen (oder anzuhören), eine hier schon einmal ausführlicher besprochene Geschichte, die beim dritten oder vierten Blick hinein eigentlich nur immer weiter gewinnt, weil man ein interessantes Detail nach dem anderen entdeckt.

Zu guter Letzt noch ein Hinweis auf ein Projekt, das auf ganz andere Weise Spannendes erzählt: Petra van Cronenburg (die auf Ardeija.de schon als Sachbuch– und Romanautorin Erwähnung gefunden hat) beteiligt sich am Sketchbook Project der Brooklyn Art Library und bloggt darüber, wie sie ihre Familiengeschichte über Ausgewanderte und Daheimgebliebene umsetzen möchte: How to find my story.

Lesetipp: How Bees Fly

Zugegeben, beim heutigen Lesetipp bin ich eindeutig parteiisch, da ich die Autorin Simone Heller schon lange kenne und schätze. Doch auch wenn diese persönliche Bekanntschaft nicht wäre, könnte ich ihre erste englischsprachige Geschichte How Bees Fly, die in der neuesten Ausgabe (# 125) von Clarkesworld erschienen ist, nur empfehlen.

How Bees Fly entführt in eine düstere postapokalyptische Welt, deren Bewohner den Umgang mit der überkommenen Technik nur noch in Form von abergläubischen Praktiken beherrschen. Tödliche Stürme sind nur eine der Gefahren in den verseuchten Landstrichen unter dem leaden sky, und die Ich-Erzählerin, die sich als Hebamme und Imkerin bisweilen aus dem Schutz ihrer sicheren Siedlung hervorwagen muss, bekommt es prompt mit einem viel furchteinflößenderen Phänomen zu tun: Dämonen, auf deren wahre Natur sie keine noch so schaurige alte Geschichte vorbereiten konnte …

Wer aber nun glaubt, hier ein reißerisches Schreckensszenario vor sich zu haben, in dem es primär um Grusel und Abenteuer geht, wird eine handfeste Überraschung erleben. Auch wenn es sehr spannend wird und durchaus physische Bedrohungen zu meistern sind, ist How Bees Fly nämlich vor allem eine psychologisch und philosophisch ausgefeilte Studie über volkstümlich tradiertes Wissen mit all seinen Stärken und Schwächen, Verbindendes über scheinbar starre Grenzen hinweg und damit nicht zuletzt auch in Ängsten wurzelnde Vorurteile und ihre Überwindung. Erschütternd und hoffnungsvoll zugleich entspinnt sich ein Kammerspiel um das Hinterfragen vermeintlicher Gewissheiten, das einen auch dazu anregt, das eigene Bild von Gut und Böse einmal einer Überprüfung zu unterziehen. Zum wahren Leckerbissen wird die Geschichte jedoch vor allem durch das mitschwingende Hintergrundwissen über Ethnologie und Kulturgeschichte und das beneidenswerte Gespür der Autorin für sprachliche Feinheiten.

Neugierig geworden? How Bees Fly ist online hier zu finden, aber natürlich gibt es die Zeitschrift auch als e-Book zu kaufen.

Lesetipps in Kurzform 4 (Bücher und Links)

Der Herbst schreitet voran, und wie immer geht es mir so, dass mit der dunklen Jahreszeit der Wunsch in mir aufkeimt, mich wieder etwas mehr mit Märchen, Sagen und Mythen zu beschäftigen. Der November mit seinem oft trüben Wetter eignet sich vielleicht besser als jeder andere Monat, um beim Lesen in ferne (Vorstellungs-)Welten abzutauchen.
Hier folgen einige Buchtipps zum Thema und am Ende des Beitrags die schon traditionellen, nicht ausschließlich literarischen Linktipps zu allem, was sonst noch Spaß macht.

Buchtipps

Das große Sagenbuch

Auf der Suche nach einem ersten Überblick über die europäische Sagenwelt oder nach einer guten Zusammenfassung, um verschüttete eigene Kenntnisse der alten Stoffe wieder aufzufrischen? Dann ist Johannes Carstensens Großes Sagenbuch genau das Richtige. Begonnen bei der griechischen Götter- und Heldenwelt über die römischen und altnordischen Mythen bis hin zu mittelalterlichen Sagen aus Deutschland, Frankreich, Spanien und England wird hier ein Grundstock von alten Geschichten, die man kennen sollte, in klassischem Stil nacherzählt. Sympathisch ist, dass Carstensen dort, wo es konkurrierende Überlieferungen gibt, zumeist die Variante wählt, die etwas glimpflicher und menschenfreundlicher ausgeht (so etwa bei der Hildebrandssage, bei der er der Version des Jüngeren Hildebrandslieds folgt und den Kampf zwischen Vater und Sohn nicht tödlich enden lässt).

Johannes Carstensen: Das große Sagenbuch. Die schönsten Götter-, Helden- und Rittersagen, gesammelt und neu erzählt von Johannes Carstensen. Zürich, Diogenes, 1996 (Erstausgabe: 1992), 464 Seiten.
ISBN: 9783257228755

Keltische Märchen

Der Titel ist fast ein wenig irreführend, denn Heinrich Dickerhoff präsentiert in seiner vielfältigen Sammlung nicht allein typische Märchen, sondern auch keltische Sagen und christliche Legenden mit märchenhaften Zügen. So trifft man hier außer den märchentypischen Feen, Geistern, Königen und Prinzessinnen mehrere Sagenhelden wie Cuchulainn oder den Artusritter Gawain und am Ende sogar biblische Gestalten. Neben den mit ihren hübschen Initialen auch buchgestalterisch schön aufgemachten Geschichten und den zugehörigen Quellenhinweisen ist für jeden Eintrag eine kleine psychologisierende Deutung des Herausgebers enthalten. Vielleicht interpretiert man nicht jedes Märchen so, wie er es tut, doch interessante Denkanstöße finden sich hier allemal.

Heinrich Dickerhoff (Hrsg.): Keltische Märchen. Zum Erzählen und Vorlesen. Krummwisch bei Kiel, Königsfurt-Urania, 2012, 190 Seiten.
ISBN: 9783868260335

Trickster Makes This World

Implizit durchaus in der Tradition von Joseph Campbells Heros in tausend Gestalten nimmt Lewis Hyde in seinem elegant geschriebenen Buch die Gestalt des göttlichen Tricksters in den Blick, den er primär als Mittler des Übergangs zwischen Heiligem und Profanem, Götter- und Menschenwelt, Leben und Tod, Gestattetem und Tabuisiertem sieht. Am Beispiel von Hermes und Loki in Europa, Eshu und Legba in Afrika, Rabe und Kojote in Nordamerika und dem Affenkönig in Asien zeigt er weltweite Gemeinsamkeiten von Trickstermythen auf. Deren Strukturen und ihre ambivalente Funktion zur Stabilisierung, aber auch Transformation von kulturellen Gegebenheiten überträgt er auf die Rolle moderner Schriftsteller und bildender Künstler. Manche Parallele wirkt hier vielleicht etwas zu gewollt und reizt zum Widerspruch, aber insgesamt lernt man viel über traditionelle Mythen und den Ersatz, den wir uns dafür in einer vielleicht nur vermeintlich rationalen und säkularisierten Welt schaffen.

Lewis Hyde: Trickster Makes This World. How Disruptive Imagination Creates Culture. Edinburgh, Canongate Books, 2008 (Original: 1998), 417 Seiten.
ISBN: 9781847672254

Linktipps

Im Moment lohnt es sich sehr, auf dem Blog des Archäologischen Museums Hamburg vorbeizuschauen, denn der Archäologe Bent Jensen zeichnet zur Ausstellung EisZeiten charmante Comics, in denen die Steinzeit und die Antike (sein eigentliches Fachgebiet) gegenübergestellt werden. Der besonders lustige zum Thema Mischwesen aus Mensch und Tier ist hier zu finden. Übrigens sind seine Comicfiguren auch in humorvollen Rekonstruktionszeichnungen in der insgesamt sehr spannenden und gut präsentierten Ausstellung zu finden. Wer also in Hamburg wohnt oder gerade dort zu Gast ist, sollte unbedingt einen Abstecher ins Museum unternehmen.

Petra van Cronenburgs Blog ist eigentlich immer lesenswert, und das gilt besonders für ihren aktuellen Artikel über ihre Erfahrungen auf einer Kunsthandwerkerausstellung. Die kleine Typenlehre der dort vertretenen Kunden ist zum Schreien komisch, hat aber natürlich einen ernsten Hintergrund. Denn was sich hier über die (mangelnde) Wertschätzung kreativer Arbeit lernen lässt, gilt nicht nur für die Schmuckherstellung, sondern für viele Bereiche einschließlich der Buchwelt.

Eine besonders aufregende Neuigkeit kommt von Sam Jehanzeb, die ihrer künstlerischen Laufbahn eine neue Facette hinzufügt und von nun an auch Autorin ist. Noch ist ihr Buch zwar nicht erschienen, aber alle Fantasyfans können sich demnächst wirklich auf einen Leckerbissen freuen. Und zur Überbrückung der Wartezeit bleibt ja immer noch die Freude an ihren Scherenschnitten, die es inzwischen auch als Wearable Art gibt.

Buchrücken (Symbolbild Lesetipps)

Lesetipps in Kurzform 3 (Bücher und Links)

An einem Sonntag mit so trübem Regenwetter wie heute braucht man besonders dicke Wohlfühlbücher, um sich abzulenken. Hier sind drei Buchtipps für in jeder Hinsicht vielseitigen Lesespaß, gefolgt von interessanten Links:

Buchtipps

Van Gogh. Sein Leben

Egal ob man nun Kunstliebhaber ist oder nicht, die grandiose Van-Gogh-Biographie von Steven Naifeh und Gregory White Smith sollte man sich nicht entgehen lassen. Wenigen Werken gelingt es so gut, eine bekannte Persönlichkeit zugleich als Menschen und als Künstler fassbar zu machen. Sprechen einen zuerst die vielen Abbildungen an, die Vincent van Goghs Umfeld, seine Kunst und seine Zeit lebendig werden lassen, ist es am Ende doch die quellennah gearbeitete Darstellung, die am meisten fasziniert und berührt. Zudem warten die beiden Autoren noch mit einer Neuinterpretation von van Goghs Todesumständen auf, die sich spannend wie ein Krimi liest und einem – ob man ihr nun folgen will oder nicht – zumindest demonstriert, dass scheinbare Gewissheiten oft erst dadurch zustandekommen, dass sie über Jahrzehnte hinweg als wahr tradiert werden.
Nicht zuletzt kann jeder Kreative, der gelegentlich mit den eigenen Misserfolgen hadert, aus der tragischen Lebensgeschichte einen Hauch von Hoffnung schöpfen: Was man selbst vielleicht als Scheitern erlebt, sagt nicht viel darüber aus, wie die eigene Kunst später einmal wahrgenommen werden wird.

Steven Naifeh, Gregory White Smith: Van Gogh. Sein Leben. Frankfurt am Main, S. Fischer, 2012, 1213 Seiten.
ISBN: 9783100515100

Die frühen Völker Eurasiens

Wird im ersten heute vorgestellten Buch das Leben eines Einzelnen aus einer uns historisch sehr nahen Epoche nachgezeichnet, geht es im zweiten um die Rekonstruktion des Daseins ganzer Kulturen in Zeiten, aus denen schriftliche Überlieferungen entweder fehlen oder nur von fremden Beobachtern stammen. Wer sich für Skythen, Hunnen und ähnliche Steppenvölker begeistern kann, für den kommt es der Seligkeit schon recht nahe, in Hermann Parzingers wunderbarem Werk zu versinken. Minutiöse archäologische Fund- und Befundbeschreibungen, scharfsinnige Interpretationen, hilfreiche Epochenübersichten sowie umfangreiches Bild- und Kartenmaterial lassen keine Wünsche offen. Die traumhaften Aufnahmen von Steppenlandschaften zu unterschiedlichen Jahreszeiten hätten eigentlich statt der ihnen gewidmeten Farbtafeln fast schon einen eigenen Bildband verdient, so gelungen sind sie. Übrigens lassen sich die einzelnen Abschnitte auch gut unabhängig voneinander lesen, so dass man bei Bedarf gleich zu seinem Lieblingsthema springen kann, statt sich nach und nach dorthin vorzuarbeiten.

Hermann Parzinger: Die frühen Völker Eurasiens. Vom Neolithikum bis zum Mittelalter. München, C. H. Beck, 2006, 1045 Seiten.
ISBN: 978346549618

Das große deutsche Sagenbuch

Zu düsteren Lichtverhältnissen und zum wohligen Rückzug in den Lesesessel passen besonders gut auch unheimliche und gespenstische Geschichten, und die bietet Heinz Röllekes Sammlung von Sagen aus dem gesamten deutschen Sprachraum in Hülle und Fülle. Von bekannten Figuren wie Klaus Störtebeker über eher lokal bedeutende Spukgestalten und Fabelwesen bis hin zu völlig bizarren Erscheinungen (so etwa einem lebendig gewordenen Kuchen) kann einem hier so einiges begegnen. Über 1000 zumeist kurze Sagen sind nach Herkunftslandschaften geordnet präsentiert und bieten einen mythisch-magischen Blick auf bekannte Orte und ihre Geschichte in Mittelalter und Neuzeit.

Heinz Rölleke: Das große deutsche Sagenbuch. Von Hexen und Zwergen, Teufeln und Geistern, Riesen, Kobolden und Wassernixen. Düsseldorf, Artemis & Winkler, 3. Aufl. 2008, 1019 Seiten.
ISBN: 9783538040052

Linktipps

Unbedingt lesen sollte man Petra van Cronenburgs klugen Artikel über ihren Entschluss, künstlerisch noch einmal ganz neu durchzustarten. Ihre Gedanken über das Älterwerden als kreative Freiberuflerin und nicht zuletzt auch über Mut und Zuversicht verdienen es, weithin rezipiert zu werden.

Spannend ist auch ein neuer Beitrag auf Moyas Buchgewimmel, in dem Sam den merkwürdigen Begriff „Stimmungsleser“ unter die Lupe nimmt. Ihre Beobachtungen lassen einen durchaus ins Grübeln kommen, was die Auswirkungen von Blogs und sozialen Medien auf den Umgang mit Literatur betrifft.

Lesetipps in Kurzform 2 (Bücher)

Spätestens am Mittwoch wird es doch eigentlich Zeit, sich Gedanken über die Wochenendgestaltung zu machen. Wer noch auf der Suche nach dem nötigen Lesestoff für die nächsten freien Tage ist, findet hier zwei Buchtipps.

Altes Land

Seit Dörte Hansens Roman die Bestsellerlisten im Sturm erobert hat, ist darüber schon so viel geschrieben worden, dass sich eine ausführliche Rezension kaum lohnt. Dennoch verdient die Geschichte um die unangepasste Vera von Kamcke, die als ostpreußisches Flüchtlingskind im Alten Land nahe Hamburg strandet, und ihre aus anderen Gründen vom Leben gebeutelte Nichte Anne, die es Jahrzehnte später ebenfalls dorthin verschlägt, immerhin eine kurze Erwähnung. Denn die Auseinandersetzung mit dem eigentlich sehr ernsten Thema, wie eine nie aufgearbeitete Vergangenheit noch die nachgeborenen Generationen belasten kann, ist unerwartet humorvoll und vergnüglich. Zu einem Gutteil ist das den herrlich sperrigen Charakteren zu verdanken, aber auch der atmosphärischen Schilderung von Veras altem Bauernhaus (das fast selbst eine Figur mit eigenem Willen zu sein scheint) und nicht zuletzt den bisweilen boshaften, aber durchaus treffenden Karikaturen verschiedener Menschentypen der Hamburger Gesellschaft. Eine klare Lesenempfehlung für alle, die es mögen, wenn ein Buch, das einen eben noch angerührt oder gar schockiert hat, auf der nächsten Seite schon wieder zum Schmunzeln reizt.

Dörte Hansen: Altes Land. München, Knaus, 2015, 288 Seiten.
ISBN: 9783813506471

Skriptorium

Zugegeben, man kann umfangreichere und ausführlichere Sachbücher zum Thema Paläographie finden, aber wohl kaum ein charmanteres als Vera Trosts unterhaltsame kleine Einführung in die mittelalterliche Buchherstellung. Man erfährt nicht nur das Grundlegendste über Schreiber, Pergament, Farben und Tinte, sondern kann sich auch an zahlreichen Abbildungen aus Handschriften und Inkunabeln erfreuen. Daneben gibt es Fotos von Schreibmaterialien zu bestaunen. Zahlreiche, oft auch zweisprachig wiedergegebene Zitate aus mittelalterlichen Quellen erschließen nicht nur überliefertes Wissen über Farbpigmente oder den pfleglichen Umgang mit Büchern, sondern lassen einen auch einen Blick auf den Alltag erhaschen, wenn etwa ein Schreiber in Wort und Bild über eine lästige Maus flucht.

Vera Trost: Skriptorium. Stuttgart, Belser, 2011, 48 Seiten.
ISBN: 9783763025947

Buchrücken (Symbolbild Lesetipps)

Lesetipps in Kurzform (Bücher und Links)

Die nächste längere Rezension ist bereits in Arbeit, doch um die Zeit bis zu ihrer Veröffentlichung zu überbrücken, gibt es hier schon einmal ein paar Lesetipps in Kurzform, mit denen sich auch ein Wochenende mit ungemütlichem Wetter gut überstehen lässt.

Buchtipps

Ritter und Elfen, Liebe und Tod

Gerade in der dunklen Jahreszeit kann es großen Spaß machen, sich literarisch in ferne und mythische Welten zu flüchten. Dass dazu nicht immer ein Fantasyroman notwendig ist, beweist diese schöne Anthologie skandinavischer Balladen, die ihre Wurzeln zumeist im Spätmittelalter haben und vom 16. bis ins 19. Jahrhundert gesammelt wurden. Während die Einleitung und der Anhang mit mehr oder minder knappem Kommentar zu jedem einzelnen Gedicht eine kulturhistorische Einordnung erlauben, liegt der Hauptreiz des auch in seiner Aufmachung attraktiven Bandes natürlich in den von der Textgestalt her oft schlichten, aber vor düsterer Fabulierfreude überbordenden Balladen. Hier gibt es Elfen, Werwölfe und in Bäume verwandelte Jungfrauen zu entdecken, aber auch Mord und Totschlag sind nicht fern. Am besten skizzieren lässt sich die vorherrschende Atmosphäre wohl mit der Einschätzung der Herausgeber, dass die Ballade eine Art dunklere und pessimistischere Schwestergattung zum Märchen bildet, dessen verzauberte Welt sie teilt. Aber keine Sorge: Das ein oder andere glückliche Ende lässt sich selbst in diesem Buch finden!

Klaus Böldl, Katarina Yngborn (Hrsg.): Ritter und Elfen, Liebe und Tod. Nordische Balladen des Mittelalters. München, C.H. Beck, 2011, 157 Seiten.
ISBN: 978-3406623950

Pompeii und die Römische Goldküste. Ein Zeitreiseführer in das Jahr 78

Eine ganz andere Art von Phantasiereise lässt sich mithilfe von Karl-Wilhelm Weebers reich  illustriertem „Zeitreiseführer“ unternehmen: Scheinbar an römerzeitliche Leser gerichtet gibt es hier in moderner Sprache reichlich Tipps, um als Tourist in Pompeii und nahegelegenen Orten im Jahr vor dem fatalen Vesuvausbruch einen angenehmen Aufenthalt zu verbringen. Neben den Beschreibungen von Sehenswürdigkeiten machen vor allem die zahlreichen praktischen Hinweise Spaß, aus denen sich teilweise durchaus einiges über das römische Alltagsleben lernen lässt, während andere Details einfach nur witzig und zeitlos sind (so etwa die Tatsache, dass im kleinen lateinischen Sprachführer des Buchs auch für den Fall vorgesorgt ist, dass man sich über eine Fliege im Essen beschweren möchte). Ganz gleich, ob man nun lieber vom Sightseeing in einer noch unzerstörten Römerstadt träumt oder davon, sich im mondänen Baiae auf ein Fest einladen zu lassen – viel Lesespaß ist hier garantiert.

Karl-Wilhelm Weeber: Pompeii und die römische Goldküste. Ein Zeitreiseführer in das Jahr 78. Darmstadt, Primus Verlag (WBG), 2011, 143 Seiten.
ISBN: 978-3896788054

Linktipps

Wer nicht nur gern liest, sondern auch selbst schreibt, findet auf Skriving interessante Anregungen. Schreibtipps gibt es im Internet zwar wie Sand am Meer, aber viele laufen darauf hinaus, die relativ einförmigen und austauschbaren Stilelemente einzuüben, von denen gerade Unterhaltungsromane heute stark geprägt sind. Auf Skriving ist das ein wenig anders, denn hier finden sich neben schreibtechnischen Empfehlungen (wie den Wochen-Schreibtipps) vor allem charmante Ideen, wie man Inspiration suchen und finden kann – etwa indem man in abstrakten Bildern etwas Konkretes zu erkennen versucht und darüber schreibt, was, wie sich hier und hier zeigt, zu sehr unterschiedlichen Interpretationen führen kann …

Und zu guter Letzt noch ein unliterarischer Tipp, der nach all der geistigen Nahrung für das leibliche Wohl sorgt: Nach wiederholten Selbstversuchen kann ich bestätigen, dass  Moyas Earl Grey Cookies zu den leckersten Keksen gehören, die man backen kann, ganz abgesehen davon, dass sich das Rezept in seinem liebevollen Plauderton auch ausgesprochen nett liest.