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The Tree in Me

Entzückende Illustrationen in Tinte und Gouache mit einer reduzierten Farbpalette von leuchtendem Pink über Orange-, Braun- und Gelbtöne und gelegentlich Blau bis hin zu Schwarz und Weiß, ein sparsamer und scheinbar schlichter, aber an Denkanstößen durchaus nicht armer Text und geschickte Verknüpfungen zwischen Wort und Bild – das sind die Zutaten, aus denen Corinna Luykens Bilderbuch The Tree in Me besteht.

Gleich auf den ersten Blick fällt auf, dass die eine Farbe, die man mit dem titelgebenden Baum sofort assoziiert – nämlich Grün – im gesamten Buch nicht auftaucht, und das wahrscheinlich ganz bewusst: Die Natur ist nicht das zentrale Thema, sondern dient vielmehr als Metapher für die innere Welt einer Ich-Erzähler-Figur, die im Bild als schwarzes Kind mit Latzhose dargestellt ist, das ebenso gut Junge wie Mädchen sein könnte, während der Text keine näheren Rückschlüsse auf ihre Identität erlaubt.

Der innere Baum, der Früchte unterschiedlichster Art trägt, verschiedene Tiere beherbergt und Wetterphänomenen ausgesetzt ist, aber über sein Wurzelwerk nicht nur mit Pilzen, sondern auch mit zahlreichen anderen Bäumen verbunden ist, wird also recht interpretationsoffen geschildert, bildet aber gerade durch diese Allgemeingültigkeit ein Identifikationsangebot für die verschiedensten Menschen. Der Wunsch, Diversität abzubilden und ein Buch vorzulegen, von dem sich alle angesprochen fühlen können, zeigt sich auch darin, dass die Protagonistengestalt mit anderen Kindern interagiert, die ihrem Aussehen nach wohl asiatischer und europäischer Abstammung sind.  Den Schluss – I can see that there is also a tree in you – kann man zwar aufgrund der Illustrationen als zwischen Personen innerhalb des Buchs gesprochen lesen, wenn man möchte, aber natürlich ist er im Grunde eine Aufforderung an das nicht unbedingt nur kindliche Publikum, den eigenen inneren Baum einmal einer Betrachtung zu unterziehen.

Denn das charmante kleine Buch mag zwar hauptsächlich für Kinder gedacht sein, aber auch Erwachsene können an dem philosophischen Ansatz und an den liebevoll gestalteten Bildern ihre Freude haben.

Corinna Luyken: The Tree in Me. New York, Dial Books, 2021, 48 Seiten.
ISBN: 978-0-5931-1259-5


Genre: Kinderbuch

The Secret of the Haunted Forest

Jenny Dolfen ist eine ungemein vielseitige Künstlerin und Autorin. Vor allem für ihre Fantasy-Illustrationen (insbesondere zu Tolkiens Werken) bekannt, ist sie auch schon mit einem historischen Roman und mit Artbooks hervorgetreten, die ebenso sehens- wie lesenswert sind. Mit The Secret of the Haunted Forest legt sie nun ein poetisches Bilderbuch vor, das nicht nur von seinen gelungenen, oft ganzseitigen Illustrationen voller Geister, Spukbäume, Lichtwesen und finsterer Feen lebt, sondern auch einen spannenden und unterhaltsamen Text bietet.

Agnes ist eine Jackalope (eine Art Wolpertingerverwandte der amerikanischen Folklore) und führt mit ihrem Freund, dem Wintergoldhähnchen Peef, ein friedliches Leben. Nur der nahe Wald, in dem es spuken soll, obwohl niemand darüber Genaueres weiß, ist ihr unheimlich. Als Peef eines Tages im Wald verschwindet, hilft aber alles nichts, und Agnes muss aufbrechen, um den kleinen Vogel wiederzufinden. Auf ihrem Weg begegnet sie hilfreichen ebenso wie feindlichen Wesen und muss bald feststellen, dass viel mehr auf dem Spiel steht, als sie zu Beginn ihres Abenteuers geahnt hat.

Die Geschichte, die sich daraus ergibt, lässt sich als Zaubermärchen mit leichten Gruselelementen ebenso lesen wie als mythisch-symbolisch aufgeladene Erzählung über Mut und die Bereitschaft, sich auf Unbekanntes und auf neue Interpretationen von Vertrautem einzulassen. Für ganz kleine Kinder sind manche Aspekte vielleicht noch ein wenig zu unheimlich, aber abgesehen davon ist The Secret of the Haunted Forest ein Buch, an dem man in jedem Alter seinen Spaß haben kann.

Jenny Dolfens Tolkienbegeisterung schwingt dabei zumindest unterschwellig mit, denn der gespenstische Wald lässt mit seinen schaurigen Seiten, seinem geheimnisvollen weißen Hirsch und seiner lebensvollen Vergangenheit leise Anklänge an Tolkiens Mirkwood (Düsterwald) erahnen, und Agnes – mit ihrem niedlichen kleinen Umhang halb Fantasyheldin, halb knuffiges gehörntes Kaninchen – hat durchaus etwas Hobbithaftes.

All das wirkt so durchdacht und gut konzipiert, dass einen der im Nachwort der Autorin enthaltene Hinweis, dass die Bilder und die Handlung dazu ursprünglich aus einer Promptliste für ein Kunstprojekt entstanden sind, überraschen kann, wenn man die Genese von The Secret of the Haunted Forest nicht zufällig in den sozialen Medien verfolgt hat. Besser gelingen können hätte das Buch aber auch dann nicht, wenn es von Anfang an so und nicht anders geplant gewesen wäre, und so kann man nur allen Fantasyfans die Lektüre und das Betrachten ans Herz legen.

Jenny Dolfen: The Secret of the Haunted Forest, o. O. 2022, 32 Seiten.
Ohne ISBN, erhältlich bei Etsy.


Genre: Kinderbuch, Märchen und Mythen
Illustrated by Jenny Dolfen

Das Heidelberger Schlossgespenst

Im Heidelberger Schloss wohnt das kleine Gespenst Tusnelda. Nachts durchstreift es mit seinem Freund, dem Fledermausgeist Kuno, das alte Gemäuer und findet dabei vor allem Vergnügen daran, neue Wörter zu lernen. Eine Begegnung mit der kleinen Liselotte von der Pfalz ist da sehr hilfreich, hat doch auch sie Freude an Sprache und ungewöhnlichen Begriffen. Doch nach dem Wegzug der Prinzessin nach Frankreich und der Zerstörung des Schlosses im Pfälzischen Erbfolgekrieg wird es einsam um Tusnelda und Kuno. Dass mit der Romantik die Ruine zum Besuchermagneten wird, hilft zunächst nicht viel weiter, vor allem, da man als Gespenst sehr vorsichtig sein muss, zerfällt man doch zu Staub, wenn einen Erwachsene erblicken. Aber können vielleicht heutige Kinder auf Schlossbesichtigung die arme Tusnelda aufmuntern?

Das von Anette Huesmann verfasste und von Tatiana Hornickel illustrierte Bilderbuch Das Heidelberger Schlossgespenst will, wie schon der Untertitel verrät, Kindern Die Geschichte des Heidelberger Schlosses in Bildern erzählen. Mit Liselotte von der Pfalz ist die wahrscheinlich prominenteste einstige Bewohnerin des Schlosses beispielhaft als historische Gestalt herausgegriffen, und als Garten, in den sich die Prinzessin zum Kirschennaschen stiehlt, findet neben dem Schloss selbst auch der berühmte Hortus Palatinus Erwähnung. Der Weg des Gebäudes von der Kurfürstenresidenz zur Touristenattraktion wird nachgezeichnet und auch die Verwüstung durch Kriegseinwirkung und Blitzschlag kindgerecht verpackt. Mit Tusneldas Lieblingswort „Rompompel“ wird auch der Konflikt zwischen Liselotte und Madame de Maintenon, die allerdings namentlich nicht genannt wird, aufgegriffen.

Erwachsenen werden bei der Schilderung der geschichtlichen Zusammenhänge hier und da Vereinfachungen auffallen (z.B. ist die Angabe, dass Tusnelda und die noch kindliche Liselotte sich vor „300 Jahren“ zum ersten Mal begegnen, großzügig gerundet, stand Liselotte von der Pfalz 1721 doch schon am Ende ihres relativ langen Lebens, während sie hier in ihrer Jugend erscheint). Der Zielgruppe wird das aber sicher nichts ausmachen, und für alle, die es genau wissen wollen, skizziert unter der Überschrift Dichtung und Wahrheit ein kurzes Nachwort noch einmal sachlich die historischen Hintergründe.

Aber letzten Endes steht ohnehin etwas ganz anderes im Mittelpunkt der charmanten und anrührenden Geschichte. Denn es ist Tusneldas Suche nach immer neuen unbekannten Wörtern, die am Ende hilft, den Bogen in die Gegenwart zu schlagen und am Beispiel von Kindern unterschiedlichster Herkunft zu zeigen, dass ein historisches Gebäude wie das Heidelberger Schloss eben nicht allein ein Zeugnis der Vergangenheit ist, sondern zum Ort eines lebendigen kulturellen Austausches werden kann und noch dazu der Natur nützt, finden hier doch Tiere wie Fledermäuse einen Unterschlupf.

Tatiana Hornickels ebenso schwungvolle wie sanfte, durchgängig farbige Illustrationen tragen die Geschichte mit und ergänzen sie hier und da augenzwinkernd (z.B. taucht die Fleur de Lys, die französische Lilie, schon als Vorausverweis auf die spätere Heirat mit dem Herzog von Orléans auf dem Kleid der kleinen Liselotte auf, und auf der Kleidung der modernen Kinder, die das Schloss besichtigen, sind mit Prinzessin, Kirschen und Fledermaus wichtige Elemente der Geschichte als Dekoration untergebracht). Obwohl man das Heidelberger Schloss in den Bildern durchaus wiedererkennt, ist die Atmosphäre märchenhaft und, dem Gespensterthema angemessen, zwischen Realität und Traum angesiedelt.

Alles in allem ist so ein liebenswertes Bilderbuch entstanden, das nicht nur dazu dienen kann, schon Kindern im Vorschulalter das Heidelberger Schloss näherzubringen und allgemein ihr historisches Interesse zu wecken, sondern auch kleinen Gespensterfans ganz einfach als nette Geschichte Spaß machen wird.

Anette Huesmann: Das Heidelberger Schlossgespenst. Die Geschichte des Heidelberger Schlosses in Bildern. Illustrationen: Tatiana Hornickel. Norderstedt, Books on Demand, 2021, 36 Seiten.
ISBN: 978-3753463384 (Hardcover; auch als Taschenbuch und E-Book erhältlich)


Genre: Kinderbuch
Illustrated by Tatiana Hornickel

The Arkadians

Die Wahrsager Calchas und Phobos haben dem tumben Krieger Bromios zur Herrschaft über das Königreich Arkadia verholfen und nutzen ihre Machtstellung an seinem Hof nun skrupellos aus, um Anhänger der alten matriarchalen Religion zu verfolgen und sich selbst zu bereichern. Der Schreiber Lucian kommt Unregelmäßigkeiten in der Palastbuchführung auf die Schliche und ist naiv genug, seine Entdeckung ausgerechnet Calchas zu offenbaren. Fortan muss er um sein Leben fürchten. Auf seiner Flucht aus der Hauptstadt Metara schließen sich ihm der in einen Esel verwandelte Dichter Fronto und die zauberkundige Joy-in-the-Dance an. Frontos einzige Hoffnung auf Rückverwandlung besteht darin, sich an die menschliche Verkörperung der entschwundenen Göttin zu wenden, die „Lady of Wild Things“. Doch auf dem Weg zu deren Heiligtum am Berg Panthea lauern ungeahnte Gefahren, und die mächtige Frau selbst steht in dem Ruf, arkadischen Männern nicht unbedingt wohlgesonnen zu sein …
Lloyd Alexander ist vor allem als Autor der Prydain Chronicles um den jungen Taran bekannt. Einige Elemente in seinem charmanten Jugendbuch The Arkadians ähneln auch tatsächlich den aus der berühmteren Reihe schon vertrauten: In beiden Fällen sammelt ein zunächst unbedarfter jugendlicher Held nach und nach Gefährten um sich, darunter ein ihm in mancherlei Hinsicht überlegenes Mädchen und einen vom Pech verfolgten Dichter, und die wichtigste Inspirationsquelle ist jeweils die Mythologie (bei Taran die keltisch-walisische, in diesem Fall die griechische). Ein reiner Abklatsch der älteren Serie in mediterranen Gefilden ist The Arkadians aber dennoch nicht.
Zum einen unterscheidet sich die Grundstimmung erheblich. Schwingt in den Prydain Chronicles bis zum bittersüßen Ende immer ein gewisses Maß an Düsternis und Verlust mit, sind Lucians Abenteuer trotz aller Härten, denen sich die Protagonisten stellen müssen, durchgehend sehr heiter und humorvoll erzählt und von spritzigen Dialogen und viel Situationskomik geprägt.
Zum anderen sind The Arkadians, auch wenn sie ursprünglich für Jugendliche und ältere Kinder gedacht sein mögen, fast eher eine für Erwachsene geeignete Lektüre, sind sie doch in hohem Maße ein literarisches Spiel, in dem es oft auch ganz explizit ums Geschichtenerzählen und um stilistische Fragen geht. Homer, Ovid, Apuleius und Lukian von Samosata haben dafür erkennbar ebenso Anregungen geliefert wie die typische Struktur antiker Romane, und neben Ilias und Odyssee sind auch die  Sagen um Pandora, den Minotaurus, Narziss und Echo und noch manche mehr mit eingeflossen, wenn auch nicht selten ironisch auf den Kopf gestellt.
Abgesehen davon, dass auch noch Zentauren und Faune in einer Form, die der Phantasie des Palaiphatos entsprungen sein könnte, durchs Bild huschen, fügt Alexander der bezaubernden Mischung eine Fülle von religions- und kulturhistorischem Wissen und Anspielungen auf die minoische und mykenische Kultur hinzu (dass die „Lady of Wild Things“ namentlich und zum Teil auch in ihrem Habitus an die Potnia theron angelehnt ist, stellt dabei nur ein spannendes Detail unter vielen dar). Beim Lesen immer neue dieser oft augenzwinkernd eingeflochtenen Einzelheiten zu entdecken, macht einfach großen Spaß.
Ganz perfekt ist der Roman dennoch nicht. Manchen Entwicklungen hätte man mehr Platz zur allmählichen Entfaltung gewünscht, und dafür, dass die Frage nach einem gerechten Geschlechterverhältnis eines der zentralen Themen des Buchs ist, gibt es bis auf die furios in Szene gesetzte Joy-in-the-Dance viel zu wenige Frauengestalten, die mehr als nur Hintergrundfiguren sind. Doch von diesen kleinen Wermutstropfen sollte man sich nicht weiter stören lassen. Insgesamt betrachtet sind The Arkadians nämlich trotz allem herrliche Wohlfühllektüre und für Antikeninteressierte ebenso ein Hochgenuss wie für Fantasyfans.

Lloyd Alexander: The Arkadians. London / New York u.a., Puffin Books, 1997 (Original: 1995), 276 Seiten.
ISBN: 9780140380736


Genre: Kinderbuch, Roman

Die geheime Welt der Gartendrachen

Es gibt Bücher, die sich den gewohnten Genrezuordnungen entziehen, einen aber auf den ersten Blick verzaubern – und Eleanor Bicks Die geheime Welt der Gartendrachen gehört ganz eindeutig dazu. Vordergründig fiktive Naturkunde über sieben ausgesprochen niedliche Drachenarten bietet es zugleich eine Sammlung nützlicher Tipps, um in der realen Welt Gärten und Balkons naturnah und bienenfreundlich zu gestalten, und enthält nebenbei auch mit leichter Hand eingestreute Informationen über Drachenmythen aus aller Welt. Seinen Charme gewinnt das Buch dabei vor allem aus den liebenswerten Illustrationen, die von der Autorin stammen und anschaulich die im Titel versprochene „geheime Welt“ heraufbeschwören, die sich zwischen ganz normalen Pflanzen wie Lavendel, Klee oder Schneeglöckchen verbirgt.
Denn wenn man genau hinsieht – so erfährt man hier-, kann man in Beeten und auf verwilderten Grundstücken kleine freundliche Drachen erspähen, die gut getarnt auf ihren Wirtspflanzen sitzen und das Unkraut sprießen lassen, um Verstecke für ihre Jungen zu schaffen oder den Bienen zu helfen. Denn mit dem in den letzten Jahren immer stärker spürbaren Insektensterben hat das Buch eigentlich ein ernstes Grundthema, das jedoch so liebevoll und warmherzig verpackt ist, dass zu keinem Zeitpunkt der Gedanke an einen bemühten Problemtext aufkommt.
Vielmehr versinkt man bald glücklich in der Lektüre der Kurzporträts der einzelnen Drachenarten, die alle in Wort und Bild ihren ganz eigenen Charakter verliehen bekommen, von den putzigen und geselligen kleinen Kleedrachen über elegante Jäger wie die Ringelblumendrachen bis hin zum schelmischen Sonnenblumendrachen, der es sich gut getarnt auf den großen Blüten bequem zu machen weiß. Auf jede Drachenvorstellung folgen realistische Sachinformationen zur jeweiligen Wirtspflanze. Neben einem eigenen Kapitel über Bienen gibt es zu guter Letzt auch noch recht umfassende praktische Hinweise, die einen ersten Einstieg ins Gärtnern erleichtern und vor allem Berührungsängste abbauen – denn um mit der Auswahl der richtigen Pflanzen der Natur etwas zurückzugeben (und selbstverständlich viele kleine Drachen anzulocken), muss man, so wird deutlich, kein Profi sein.
Eingebettet ist dies alles in die amüsante Geschichte der Entdeckung der Gartendrachen und ihrer Erforschung, die, wie immer wieder betont wird, noch ganz an ihrem Anfang steht und viel Raum für neue Erkenntnisse lässt. Vielleicht darf man also auf eine Fortsetzung hoffen, in der noch mehr drollige kleine Fabelwesen Blumenbeete und Wiesen bevölkern.
Die geheime Welt der Gartendrachen ist übrigens durchaus kindertauglich, aber keineswegs ein typisches Kinderbuch, sondern ein phantasievoller literarischer Ausflug für alle Altersklassen, der die Magie im Alltäglichen fassbar macht.

Eleanor Bick: Die geheime Welt der Gartendrachen. Unter Mitwirkung von Eva-Christiane Wetterer. Hamburg, KJM, 2017, 80 Seiten.
ISBN: 9783945465578


Genre: Kinderbuch, Märchen und Mythen, Sachbuch allgemein

La Dame et la licorne

Die unter der Bezeichnung La Dame à la licorne bekannte spätmittelalterliche Wandteppichserie aus dem Pariser Musée de Cluny zählt ohne Zweifel zu den eindrucksvollsten und bekanntesten textilen Kunstwerken der Epoche. Um auch Kinder schon an diese Darstellungen einer vornehmen Dame und eines Einhorns heranzuführen, spinnen Jean-Baptiste Baronian (Text) und Laurence Henno (Illustrationen) in ihrem Bilderbuch La Dame et la licorne eine reizende kleine Geschichte um die beiden Figuren.
Ein Einhorn entsteigt dem Meer und versucht, an Land Freunde zu finden. Das erweist sich allerdings als gar nicht so einfach, denn alle Tiere, denen es begegnet, fürchten sich entweder vor dem vermeintlichen Monster oder wollen aufgrund seiner Andersartigkeit und angeblichen Hässlichkeit nichts mit ihm zu tun haben. Erst eine freundliche Burgherrin, der es durch Zufall begegnet, kann ihm anhand verschiedener Sinneseindrücke deutlich machen, dass Individualität in Wirklichkeit gar nichts Schlechtes ist und Außenseiter sich nicht die Schuld daran geben müssen, dass sie Zurückweisung erfahren.
Sprache und Erzählduktus sind eher schlicht, so dass die vom Verlag gewählte Altersempfehlung ab 6 Jahren fast schon ein wenig zu hoch gegriffen wirkt; an der einfachen Erzählung kann man sicher auch schon im Kindergartenalter seine Freude haben. Die Botschaft, dass man sich seiner Eigenarten nicht schämen muss und vielleicht nur noch nicht die Richtigen getroffen hat, die einen zu schätzen wissen, ist recht nett verpackt. Nur das Ende wirkt etwas zu gewollt (irgendwie mussten die berühmten Wandteppiche wohl noch in der Geschichte selbst Erwähnung finden).
Wirklich lebendig und dadurch auch für Erwachsene sehr betrachtenswert wird das Buch jedoch durch die wunderschönen Illustrationen, die sich erkennbar an den mittelalterlichen Bildvorlagen orientieren, sie aber zu einer weicheren und sanfteren Märchenwelt in zarten Farben auflösen. Während die Darstellungen auf den Teppichen oft statisch wirken, arbeitet Henno viel mit Bewegung und Schwung, die eher eine spontane Momentaufnahme als eine gestellte Szene suggerieren. Die jeweils dominierenden Farben kommentieren dabei das Geschehen: Während der schwierige Weg des kleinen Einhorns mit recht kühlen Tönen (dem Blau des Meeres und dem Grün der Landschaft) beginnt, werden sie im Verlauf seiner Erlebnisse Stück für Stück wärmer, bis Gelb, Orange und Rot des Abendlichts und Feuerscheins auf der Burg der Dame dann Geborgenheit empfinden lassen. Auch im Detail sind die Illustrationen sehr liebenswert und ergänzen Einzelheiten, die im Text gar nicht vorkommen (so flüchtet auf den Bildern z.B. der kleine Schoßhund der Dame erst einmal vor dem Einhorn und wartet im Kreise anderer Tiere versteckt ab, um sich dann einige Seiten später mit misstrauischer Miene wieder aus der Deckung zu wagen und sich am Schluss offenbar doch ein wenig mit dem neuen Mitbewohner anzufreunden). So liegt hier wirklich ein Beispiel für ein Bilderbuch vor, das nur in den Kombination aus Wort und Bild seinen ganzen Charme entfaltet.
Ein kindgerechter kurzer Sachtext über die Inspirationsquelle und eine Abbildung eines der Originalteppiche runden den vergnüglichen Ausflug in ein märchenhaftes Mittelalter ab.

Jean-Baptiste Baronian, Laurence Henno: La Dame et la licorne. Paris, Éditions de la Réunion des musées nationaux, 2001, 28 Seiten.
ISBN: 9782711842988


Genre: Kinderbuch, Kunst und Kultur, Märchen und Mythen

Vor den 7 Bergen

Sieben Geschwister wünschen sich nichts sehnlicher, als aus ihrer verregneten Heimat zur Großmutter in die Berge zu fahren. Doch obwohl sie findig den Aufenthalt mit der alten Dame absprechen, kommt so einiges dazwischen, bevor es endlich losgehen kann – erst steht eine Erkrankung dem Projekt im Wege, dann sorgen berufliche Verpflichtungen der alleinerziehenden Mutter für eine Verzögerung. Als dann die lang geplante Reise endlich beginnt, droht in letzter Sekunde alles an einer Autopanne zu scheitern. Wie das Abenteuer doch noch ein glückliches Ende nimmt, lässt sich in Vor den 7 Bergen. Davon, wie Schneewittchens Enkel in die Berge wollen und alles schiefgeht nachlesen.
Es ist eine charmante, in kindgerecht einfache Sprache gefasste Geschichte, die hier erzählt wird, aber vor allem lebt sie vom glänzenden Zusammenspiel zwischen Annette Feldmanns Worten und Mareike Engelkes Bildern, die nahtlos ineinandergreifen. Die Illustrationen – eine ganz eigene Mischung aus Collage, Stilisierung und vermeintlichen Kinderzeichnungen – rahmen nicht nur den Fließtext, sondern sind auch fast comichaft mit an Handschrift gemahnender wörtlicher Rede versehen, die das Medium Bilderbuch optimal ausnutzt. Die hochwertige Ausstattung (komplett mit Glitzerveredlung der Äpfel auf dem Cover) tut ein Übriges, Vor den 7 Bergen zum kleinen Gesamtkunstwerk zu machen.
Kinder werden sicher vor allem ihren Spaß an den vielfältigen Alltagserlebnissen der quirligen, aus ganz verschiedenen Persönlichkeiten bestehenden Geschwisterschar haben und sich vom visuellen Humor angesprochen fühlen; gerade die munteren Aktionen des Familienhunds bringen einen immer wieder zum Schmunzeln.
Für vor- oder mitlesende Erwachsene ergeben sich noch zahlreiche zusätzliche Entdeckungen. Vor allem springen die liebevollen Details ins Auge, von der Auflistung von Apfelnamen auf dem Vorsatzblatt bis hin zu der Tatsache, dass Einzelheiten der dargestellten Landschaft das Niederrheingebiet erahnen lassen, aus dem Autorin und Illustratorin stammen. Den größten Spaß macht aber vielleicht, dass die Geschichte unzählige Versatzstücke aus dem in Titel und Untertitel anklingenden Märchen von Schneewittchen in einen modernen und mehr oder minder realistischen Kontext überführt und teilweise sanft ironisiert. Die sieben „Zwerge“ bzw. Kinder sind hier nur das augenfälligste Element. Auch ein Apfelgeschenk (nicht tödlich) und ein rettend eingreifender Prinz (pardon, Eisverkäufer) spielen eine entscheidende Rolle, und die zwischen ihm und der Mutter im Hintergrund ablaufende Liebesgeschichte wird dezent und herzerwärmend erzählt.
Bilderbuchfans aller Altersstufen dürfen sich hier also auf einen liebenswerten literarischen Leckerbissen mit einem Hauch von Apfelgeschmack freuen. Unbedingt empfehlenswert!

Mareike Engelke, Annette Feldmann: Vor den 7 Bergen. Davon, wie Schneewittchens Enkel in die Berge wollen und alles schiefgeht. Mannheim, Kunstanstifter, 2017, 36 Seiten.
ISBN: 9783942795487


Genre: Kinderbuch

Vögel auf Weltreise

Der Vogelzug gehört zu den auffälligsten und spannendsten Naturphänomenen, die alljährlich in unseren Breiten zu beobachten sind. In ihrem primär für Kinder bestimmten, aber auch für Erwachsene interessanten Sachbuch Vögel auf Weltreise tragen Fleur Daugey und Sandrine Thommen humorvoll und leicht verständlich eine Fülle von nützlichen und teilweise verblüffenden Einzelheiten darüber zusammen.
Ausgangspunkt ist dabei die Tatsache, dass der Vogelzug über Jahrtausende hinweg erstaunlich schlecht erforscht war und zu aus heutiger Sicht eher amüsanten Theorien anregte – etwa zu der, manche Vögel würden Winterschlaf halten und wären deshalb für die Menschen zu dieser Jahreszeit nicht zu sehen. Während das auf die allermeisten natürlich nicht zutrifft, erfährt man hier gleich noch, dass es tatsächlich einen Vogel gibt, der dazu in der Lage ist: Die Winternachschwalbe. Alle anderen, denen mit dem nahenden Winter die Nahrung ausgeht – ob nun Star, Storch oder Schlangenadler -, müssen sich jedoch auf Reisen begeben. Fliegen manche nur vom Hochgebirge in tiefere Lagen wie die Alpenbraunelle, geht es für andere wie die Küstenseeschwalbe um den halben Globus.
Neben grundlegenden Informationen zu Zugrouten, Verhalten und Eigenschaften der Vögel werden auch Veränderungen in jüngster Zeit in den Blick genommen (z.B. die Auswirkungen des Klimawandels, der dafür sorgt, dass manche Vögel nur noch kürzere Strecken ziehen oder gleich ganzjährig in ihren Brutgebieten bleiben). Daneben stehen wissenswerte Einzelfakten (so etwa, dass ein bedauernswerter Sperbergeier seinen Höhenrekord von 11.300 Metern mit einer tödlichen Kollision mit einem Flugzeug bezahlte). Allzu sehr in die Tiefe gehen kann das Buch dabei aufgrund seines relativ begrenzten Umfangs nicht, und es bietet in manchen Passagen auch eher eine Sammlung kurz angerissener Details als eine durchgängige Argumentation, doch das, was Erwähnung findet, bleibt auch dank der gelungenen Illustrationen gut hängen. Leicht stilisiert, aber immer eindeutig zu erkennen werden die unterschiedlichsten Vogelarten ebenso ins Bild gesetzt wie Forschungsmethoden (z.B. Beringung oder Telemetrie) und Umgebungen. Auch das Kartenmaterial ist grafisch sehr nett gestaltet.
Edmund Jacobys Übersetzung aus dem Französischen liest sich flüssig und abwechslungsreich, muss aber allein schon aufgrund der Vielzahl der erwähnten und nicht immer gleichermaßen bekannten Vogelarten eine Herausforderung gewesen sein. Leider haben sich einige kleine Fehler eingeschlichen (z.B. ist die Darstellung eines Graureihers als „Kranich“ beschriftet, und auch der begleitende Text scheint eher auf Reiher als auf Kraniche zu passen, wird aber letzteren zugeordnet).
Abgesehen davon jedoch bieten die Vögel auf Weltreise nicht nur jungen Lesern die Möglichkeit zu einem sehr charmanten und lehrreichen Ausflug in eine partiell vertraute und doch zugleich fremde Welt. Auch wer die erste Lektüre schon hinter sich hat, wird das Buch sicher gern noch mehr als einmal zur Hand nehmen – und sei es nur, um die wirklich sehenswerten Zeichnungen zu betrachten.

Fleur Daugey, Sandrine Thommen: Vögel auf Weltreise. Alles über Zugvögel. Berlin, Jacoby & Stuart, 2016.
ISBN: 9783941787537


Genre: Kinderbuch, Sachbuch allgemein

Girls, Goddesses & Giants

Als sie einer Gruppe von Neunjährigen einmal eine Geschichte erzählte – so die Autorin Lari Don in ihrem Nachwort -, machte sie aus einem Drachentöter spontan eine Drachentöterin, um dem ewigen Klischee der passiven Frau zu entkommen, die nur als Siegespreis für den Helden taugt, aber selbst wenig unternehmen darf.
Bei den Kindern war die abgewandelte Version ein voller Erfolg, für Don aber letzlich unbefriedigend, weil sie ihr Quellenmaterial massiv hatte verändern müssen. Inspiriert von der Erfahrung ging sie daher auf die Suche nach alten Mythen, Sagen und Märchen, bei denen schon im Original eine Frau oder ein Mädchen die Heldenrolle einnimmt. Das Ergebnis liegt in dem handlichen Bändchen Girls, Goddesses & Giants vor, in dem Heldinnen aus aller Welt durchaus kindgerecht, aber nicht verniedlicht präsentiert werden.
Gottheiten wie Inanna und Durga sind ebenso vertreten wie zahlreiche Sagen- und Märchenfiguren (z.B. ein patentes Rotkäppchen aus einer frühen Fassung der Geschichte); mit Telesilla kommt sogar eine legendenumwobene historische Gestalt zum Zuge. Ebenso weit gespannt wie der Jahrtausende umfassende zeitliche Bogen ist der geographische Rahmen, der Europa, Asien, Afrika und Amerika abdeckt.
Don erzählt ihre Variante von zwölf ganz unterschiedlichen Geschichten, deren Quellen jeweils im Nachwort offengelegt werden, mit viel Verve und Humor und verleiht so selbst den ältesten Sagen einen Hauch moderner Leichtigkeit. Bei allem Respekt vor der Tradition ironisiert sie treffsicher problematische Aspekte: So wird die klassische böse Stiefmutter als nicht mit den viel netteren Exemplaren aus dem wahren Leben vergleichbar eingeführt, und dass Inanna sich als Göttin zu gut ist, sich die Hände schmutzig zu machen, und daher eine menschliche Begleiterin fürs Grobe benötigt, ist ebenfalls ein paar Spitzen wert.
Abgesehen von dieser Vorliebe für augenzwinkernde Seitenhiebe auf fragwürdige Elemente der Überlieferung ist das Vergnügen der Autorin an schwungvollen Actionszenen und gekonnt geschilderten Monstern unverkennbar. Ob nun Seeschlange, Drache oder Dämon, geheimnisvolle sumerische Ungeheuer oder der gestaltwandelnde Wolf, dem Rotkäppchen begegnet, die Antagonisten werden so liebevoll in Szene gesetzt wie die Heldinnen, die ihnen unweigerlich das Handwerk legen.
Zur charmanten Atmosphäre des Buchs tragen in hohem Maße auch Francesca Greenwoods scherenschnittartige Illustrationen bei, die charakteristische Elemente der einzelnen Geschichten aufgreifen, durch ihre Silhouettenhaftigkeit aber der Phantasie breiten Raum lassen.
Girls, Goddesses & Giants bietet übrigens nicht nur für eine junge Leserschaft einen amüsanten und einfachen Zugang zu sonst weitverstreuten Überlieferungen. Erwachsene werden das Büchlein zwar schnell verschlungen haben, aber um einen ersten Eindruck davon zu gewinnen, dass die traditionellen Erzählungen der verschiedensten Kulturen mehr starke und kämpferische Frauen als vielleicht erwartet zu bieten haben, eignet es sich allemal.

Lari Don: Girls, Goddesses & Giants. Stories of Heroines from around the World. London, A & C Black (Bloomsbury), 2013, 126 Seiten.
ISBN: 9781408188224

 


Genre: Kinderbuch, Märchen und Mythen

Zeichnen für verkannte Künstler

Die künstlerischen Ambitionen sind groß – aber mangelnde Übung, Selbstzweifel und Unsicherheit, wie man mit Kritik umgehen soll, verhindern die Umsetzung? John Cassidy und der als Roald-Dahl-Illustrator bekannte Quentin Blake versprechen Abhilfe für verkannte Künstler jeglichen Alters. In der Tat kann wahrscheinlich jeder vom Grundschulkind bis zum Rentner großes Vergnügen an diesem etwas anderen Zeichenlehrgang haben, der einen animieren will, spontan „nach der Einfach-Drauf-Los-Methode“ ausdrucksvolle Skizzen hinzuwerfen.
Fotorealistische Zeichnungen werden einem auf diesem Wege zwar nicht gelingen, aber wer es darauf nicht abgesehen hat, findet hier viele Anregungen und am Rande sogar sehr sinnvolle Grundlagentipps zu Perspektive, Anatomie von Mensch und Tier, Mimik und Gestik oder Licht und Schatten. Selbst diese eigentlich ernsthaften Inhalte sind aber augenzwinkernd verpackt (so steht zum Üben des Schattenwurfs etwa ein Hase in unterschiedlichen Posen vor einem Scheinwerfer Modell).
Vor allem aber finden sich viele Zeichnungen zum Vervollständigen (der „grässliche, gefürchtete, 14-beinige Galumposaurus braucht noch ein Hinterteil“) und herrlich absurde Vorschläge (etwa der, „einen Eimer im Londoner Nebel“ aufs Papier zu bringen), die man dank reichlich Platz ggf. auch direkt im Buch umsetzen kann. Charmant wird dabei immer wieder vor übertriebenem Perfektionismus, harscher Selbstkritik und zu starker Orientierung am Urteil anderer gewarnt. Auch dies geschieht zwar in humorvoller und witziger Form, ist aber als Ermunterung und Ermutigung nicht nur beim Zeichnen, sondern bei allen kreativen Tätigkeiten erstaunlich wirkungsvoll.
Ein wenig schade ist allein, dass die Übersetzung dort, wo es gilt, lückentextartig den eigenen Namen einzusetzen, nicht in jedem Fall geschlechtsneutral formuliert ist oder zumindest mehrere Optionen offenhält. Hier würden sich sicher viele kleine und große Künstlerinnen wünschen, mit berücksichtigt worden zu sein.
Doch abgesehen von diesem Wermutstropfen, für den nicht die Autoren, sondern die Tücken der deutschen Grammatik und der Umgang damit verantwortlich sind, ist Zeichnen für verkannte Künstler einfach ein Riesenspaß, der einen auf jeder Seite zum Lachen bringt und einem dabei die Angst davor nimmt, in Sachen Kunst ohnehin ein hoffnungsloser Fall zu sein.

Quentin Blake, John Cassidy: Zeichnen für verkannte Künstler. München, Antje Kunstmann, 2010, 108 Seiten.
ISBN: 9783888976902


Genre: Kinderbuch, Kunst und Kultur