Archive

Ein deutsches Versprechen

Ob Bach, Goethe, Liszt oder die Bauhaus-Anfänge – Weimar war über Jahrhunderte eine Stadt, in der Größen aus Kunst und Kultur wirkten. Für Helge Hesse versinnbildlicht es damit insbesondere in der Epoche der Weimarer Klassik Ein deutsches Versprechen, das nämlich, einen weltoffenen Ort für Austausch, Kreativität und geistigen Fortschritt zu bieten. Welches Potenzial in dem Zusammentreffen verschiedener wirkmächtiger Personen und Bewegungen in Weimar steckte und wie es dennoch dazu kommen konnte, dass das Versprechen nicht eingelöst wurde, sondern nur gut hundert Jahre nach Goethes Tod mit der Naziherrschaft eher – wenn trotz des bitterernsten Themas ein schlechtes Wortspiel gestattet ist – das deutsche Verbrechen schlechthin begann, zeichnet Hesse in seinem klugen Buch nach, das, so der Untertitel, Weimar 1756 – 1933 in den Blick nimmt, mithin vom Einzug der kunstsinnigen Herzogin Anna Amalia in Weimar bis zum Einsetzen einer sehr düsteren Zeit für Deutschland.

Den Schwerpunkt (mit 155 von 284 Seiten) bildet dabei das von Goethe, Herder, Wieland, Schiller und ihren Zeitgenossen geprägte Weimar der zweiten Hälfte des 18. und des beginnenden 19. Jahrhunderts. Auch wer meint, darüber schon so manches zu wissen, sollte das Buch nicht leichtfertig verschmähen, denn Helge Hesse versteht es wie kaum ein anderer, die Bedeutung der Topographie für die Erfahrungswelt der Menschen, die in Weimar lebten, und für ihre Beziehungen untereinander deutlich zu machen. Wie weit Goethe es etwa von seinem jeweiligen Wohnsitz aus zu verschiedenen Bekannten hatte, wie die Umgebung von Schillers Haus geartet war oder was Paul Klee auf dem Weg zur Arbeit im Bauhaus alltäglich zu sehen bekam, wird einem ebenso greifbar vor Augen geführt wie die bewusste Schaffung von Erinnerungsorten in verschiedenen Zeiten. Die Stadt ist so nicht nur Bühne des Geschehens, sondern fast ein weiterer Akteur, dessen Einfluss man nicht unterschätzen darf.

Bei aller Bewunderung für das klassische Weimar verklärt Hesse die dort Lebenden und Wirkenden jedoch nicht, sondern schildert auch menschliche Schwächen, Ehrgeiz, Kleinlichkeit und Eifersüchteleien, die vielleicht allein schon verhindert hätten, aus dem titelgebenden Versprechen mehr als das werden zu lassen, wenn nicht noch andere, Weimar allein weit übersteigende Kräfte am Werk gewesen wären. Die napoleonischen Kriege, die den Keim des später so verheerenden Nationalismus in sich trugen, nimmt man dabei als Einschnitt deutlich wahr, doch ebenso bedeutsam war wohl das Beharrungsvermögen überkommener Einstellungen sowohl im Herrscherhaus als auch in der Bevölkerung: Mochte man sich auch mit Literaten, Musikern und bildenden Künstlern schmücken (und gerade auch das Gedenken an die schon verstorbenen unter ihnen hochhalten), ging damit doch keine generelle Überwindung von Engstirnigkeit und Pochen auf das Althergebrachte einher – zuletzt dann mit fatalen politischen Folgen.

Die Erkenntnis, dass auch höchste kulturelle Leistungen kein Garant sind, dass der ihnen zugrundeliegende Geist dauerhaft beherzigt wird, sondern immer auch und vielleicht gerade an den künstlerisch blühendsten Orten mit einem Rückfall in Tyrannei und Barbarei gerechnet werden muss, stimmt auch angesichts derzeitiger Entwicklungen nachdenklich. Doch Helge Hesse lässt sein Buch nicht in Düsternis enden, sondern ruft vielmehr in Form einer stimmungsvollen Beschreibung eines Spaziergangs ausgehend von Goethes Gartenhaus im Park an der Ilm dazu auf, sich zu vergegenwärtigen, dass es so nicht kommen muss, sondern Vergangenes, das nicht zum bloßen Jubiläum erstarrt, auch als Anregung genommen werden kann. Vielleicht ist es also an uns Heutigen, zu versuchen, das Versprechen – das, wie Hesse selbst einräumt, letzten Endes dann doch nicht allein ein deutsches, sondern ein allgemein menschliches und überzeitliches ist – nach besten Kräften einzulösen.

Helge Hesse: Ein deutsches Versprechen. Weimar 1756 – 1933. Ditzingen, Reclam, 2023, 284 Seiten.
ISBN: 978-3-15-011-436-0


Genre: Geschichte, Kunst und Kultur

Michelangelo

Michelangelo Buonarroti zählt auch heute, fünfhundert Jahre nach seiner Zeit, zu den bekanntesten Künstlern überhaupt. Wer eine eingängig lesbare Einführung in Leben und Werk des Mannes sucht, dessen Gemälde und Skulpturen immer noch unmittelbar anzusprechen vermögen, wird bei Claudia Echinger-Maurach fündig, der es in Michelangelo gelingt, auf nur 128 Seiten anschaulich das Wichtigste zusammenzufassen, was man über die vielschichtige Persönlichkeit wissen muss.

In eine geachtete, aber nicht übertrieben reiche Florentiner Familie hineingeboren, setzte Michelangelo seine Ausbildung zum Künstler gegen den Willen seines Vaters durch und war, bis er mit fast 89 Jahren starb, über Jahrzehnte ununterbrochen auf vielen Gebieten aktiv und erfolgreich, ob nun als Bildhauer, Maler, Architekt oder Dichter. Seinem allein schon in seinem Umfang, aber auch und vor allem natürlich in seiner Qualität eindrucksvollen Schaffen widmet Echinger-Maurach sich mit großem Einfühlungsvermögen und mit einer spürbaren Begeisterung für ihr Thema, die umso ansteckender ist, weil sie in den letzten Jahren insbesondere in den Geisteswissenschaften selten geworden und, wenn überhaupt, allenfalls noch im Nature Writing, aber kaum bei kunsthistorischen Gegenständen zu finden ist. Weltbekanntes wie die Fresken in der Sixtinischen Kapelle oder den David, aber auch Kleineres und dem allgemeinen Publikum nicht so Vertrautes, wie etwa Zeichnungen oder einzelne Gedichte Michelangelos, stellt sie liebevoll und, soweit im Rahmen der Buchlänge möglich, durchaus ausführlich vor.

Neben den in zahlreichen Abbildungen (einschließlich zweier farbiger Tafelteile) präsenten Kunstwerken wird aber immer wieder auch der Mensch Michelangelo, der durch Selbst- und Fremdzeugnisse für jemanden seiner Epoche außergewöhnlich gut fassbar ist, in den Mittelpunkt gerückt: Voller Schaffensdrang, aber ebenso voller Bereitschaft, Begonnenes auch einfach abzubrechen, wohlhabend, aber ohne großen Hang zum Materiellen, mit viel gelegentlich beißendem Humor gesegnet, auch schon einmal unglücklich in einen etwa 40 Jahre Jüngeren verliebt und mit seinen immer wieder auf finanzielle Unterstützung hoffenden Brüdern nicht jederzeit auf bestem Fuß, tritt er einem sehr lebendig entgegen. Um ihn als zentrale Gestalt herum entsteht dabei ganz nebenbei das Panorama einer bewegten Epoche voll kriegerischer Päpste, politischer Intrigen und großer Kunst nicht nur von Michelangelos Hand.

So hat man nach der Lektüre das Gefühl, einen unterhaltsamen und zugleich lehrreichen Streifzug durch die italienische Renaissance unternommen zu haben, und fühlt sich ermuntert, sich vielleicht noch tiefer mit einzelnen Werken Michelangelos zu befassen.

Claudia Echinger-Maurach: Michelangelo. München, C.H. Beck, 2023, 128 Seiten.
ISBN: 978-3-406-80703-9


Genre: Biographie, Kunst und Kultur

Mann vom Meer

Das Meer spielt nicht nur in den Werken Thomas Manns eine große Rolle, sondern war für den Schriftsteller auch sein Leben lang ein immer wieder gern aufgesuchter Ort von einer gewissen Ambivalenz: Stand es für ihn einerseits, begonnen mit der schon in seiner Kindheit kennengelernten Ostsee, für Ruhe, Erholung und Entspannung fern aller Zwänge, war es ihm andererseits auch ein Bild für dunkle und zerstörerische Strömungen, ob nun in der eigenen Psyche oder auf politischer und gesellschaftlicher Ebene.

So ist es ein komplexer Gegenstand, dessen sich Volker Weidermann in seinem herrlich mehrdeutig (oder vielleicht eher „meerdeutig“?) betitelten Mann vom Meer nicht ohne Anspruch, aber doch mit leichter Hand annimmt. Mit der Beziehung zum Meer als rotem Faden bietet er eine schlaglichtartige Biographie und eine zitatreiche Werkschau Thomas Manns, allerdings ergänzt um biographische Grundzüge von Manns in ihren ersten Lebensjahren an der brasilianischen Küste aufgewachsenen Mutter Julia da Silva-Bruhns und seiner als Seerechtsexpertin bekannt gewordenen Tochter Elisabeth Mann Borgese, deren jeweiliger Bezug zum Meer von dem des berühmten Sohnes bzw. Vaters für Weidermann nicht zu trennen ist.

Diese Entscheidung hat ihren tieferen Sinn, denn die Auseinandersetzung mit dem Meer ist bei Mann – literarisch wie real – immer auch mit dem Ringen mit und oft zugleich Scheitern an familiären wie gesellschaftlichen Erwartungen verknüpft. Ironischerweise ist in der Familie Mann die Freiheitssuche am Strand und im Wasser von einem über die Generationen immer wieder erlittenen und doch in unterschiedlicher Weise gnadenlos weitergegebenen Anpassungsdruck nicht zu trennen. Besonders in Thomas Manns Fall nimmt es wunder, dass er es zwar selbst als quälend empfand, Neigungen wie die seinerzeit noch verpönte Homosexualität unterdrücken zu müssen, und sich, etwa in den Buddenbrooks oder in Tonio Kröger, als hellsichtiger Schilderer der geistigen Enge einer individuellen Wünschen gegenüber kaum aufgeschlossenen städtischen Oberschicht zeigt, es aber seinen eigenen Kindern auch nicht unbedingt leicht machte, so dass selbst seine erklärte Lieblingstochter Elisabeth in der Angst leben musste, ihn zu enttäuschen.

Eingedenk dessen kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass hier neben großer literarischer Schönheit oft ebenso große menschliche Hässlichkeit steht, auch wenn Mann auf einigen Gebieten in späteren Jahren noch umschwenkte (so beispielsweise in politischer Hinsicht, als er sich gegen das Naziregime wandte). Manns Weg, der von der Ostsee über Nordsee,  Mittelmeer und Atlantik bis ins Exil am Pazifik führt und mit dem Bodensee, dem „Schwäbischen Meer“, auch noch einen meerartigen Binnensee von einiger Bedeutung zu bieten hat, ist daher auch einer, der immer wieder Untiefen bereithält (und ob man mit Weidermanns Einschätzung mitgehen möchte, dass zumindest in der Literatur das Düstere und Tragische stets das Wahrere und daher dem Idyllischen überlegen sei, ist wohl in hohem Maße eine Frage des eigenen Temperaments und Charakters).

Die selbst phasenweise romanhaft erzählte Synthese aus Biographischem, Literarischem und klug Beobachtetem ist aber insgesamt gelungen, und gerade, wenn man selbst schon einige von Thomas Manns Texten gelesen hat, macht es Vergnügen, sie hier noch einmal ganz neu aus Weidermanns Sicht unter dem Meeresaspekt mitzubetrachten.

Volker Weidermann: Mann vom Meer. Thomas Mann und die Liebe seines Lebens. 2. Aufl. Köln, Kiepenheuer & Witsch, 2023, 240 Seiten.
ISBN: 978-3-4620-0231-7

 

 


Genre: Biographie, Kunst und Kultur

Schöner schimpfen auf Latein

Wer die Antike für besonders erhaben und ihre überlieferte Literatur für durchgängig anspruchsvoll hält, hat sich noch nicht mit ihrem eindrucksvollen Bestand an Schimpfwörtern und Obszönitäten befasst. Abhilfe schaffen kann da Karl-Wilhelm Weebers Schöner schimpfen auf Latein, ein handliches Büchlein, das allerdings den Rahmen über die eigentlichen Kraftausdrücke, die der Titel erwarten lässt, hinaus erweitert und auch allerlei verwandte Bereiche des Böswilligen und Unanständigen abdeckt.

Die genutzten Quellen sind dabei vielfältig: Von den Komödien des Plautus (in dessen Werk mit deglupta maena – „gehäutete Sardine“ – auch mein Favorit unter den aufgelisteten Beschimpfungen überliefert ist) über Reden Ciceros, der geradezu lustvoll Gegner zerlegt, Schleuderbleie mit Verunglimpfungen von Bürgerkriegsgegnern und Fluchtäfelchen (von denen ein auf Maultiere spezialisierter Tierarzt aus unbekannten Gründen gleich vier auf sich zog) bis hin zu Graffiti aus Pompeji sind alle möglichen Varianten schriftlich festgehaltener Äußerungen unfreundlicher Art dabei. Andere zitierte Textpassagen zielen dagegen nicht darauf ab, eine (lebende) Person direkt zu attackieren, sondern suhlen sich einfach nur in Unflat und Pornographie, ob nun Gedichte über die dauererregte Gottheit Priapus, deren Abbild mit mächtigem Glied apotropäische Wirkung zugesprochen wurde, oder ein sonderbarer Wandbildzyklus aus Ostia, der den Sieben Weisen Lehren zuschreibt, die sich auf körperliche Ausscheidungen konzentrieren. Daneben lernt man einiges Vokabular zu den entsprechenden Bereichen kennen. Harmloser, aber durchaus amüsant ist die Beobachtung, dass erstaunlich viele römische Cognomina unschmeichelhafte Eigenschaften beschreiben oder zumindest erahnen lassen.

Wie aus Karl-Wilhelm Weebers immer lesenswerten Büchern gewohnt, gelingt es dem Autor auch hier wieder gut, Kontinuitäten und Zeitloses herauszuarbeiten und mit dem zu kontrastieren, was spezifisch römisch war und hier und heute in den meisten Kontexten zum Glück in dieser Form oder doch in einem solchen Ausmaß eher unüblich ist: Die Art etwa, wie in Senatsreden in drastischer Wortwahl die angebliche sexuelle Devianz politischer Gegenspieler angeprangert wurde, würde im modernen Parlamentsbetrieb wohl für einen handfesten Skandal sorgen.

Aber nicht nur bezüglich des in bestimmten Situationen als hinnehmbar Betrachteten war manches am römischen Schmähen und Schimpfen schlicht anders gewichtet als im heutigen Deutsch: Fäkalsprache gab es zwar durchaus, aber sie kam in weitaus geringerem Maß zu Beleidigungszwecken zum Einsatz, als wir es kennen. Dagegen scheint sich an der Tendenz, unliebsame Menschen als dumm oder verrückt zu bezeichnen, in den letzten Jahrtausenden wenig geändert zu haben.

Weeber schreibt wie immer allgemeinverständlich und in Teilen umgangssprachlich, mit viel Humor und spürbarer Begeisterung für seinen Gegenstand. Charmant ist, dass sogar Grammatiktipps für die korrekte Anwendung lateinischer Schimpfwörter gegeben werden: Will man jemandem eine ganz besonders üble Beleidigung an den Kopf werfen, dann doch bitte im angemessenen Vokativ! Dank netter Details dieser Art ist der Abstieg in die Niederungen des Lateinischen und die zugehörigen menschlichen Abgründe trotz der teilweise eher unappetitlichen Themen ein großes Lesevergnügen.

Karl-Wilhelm Weeber: Schöner schimpfen auf Latein. Stuttgart, Reclam, 2022, 128 Seiten.
ISBN: 978-3-15-014308-7

 

 


Genre: Geschichte, Kunst und Kultur

Der Taucher von Paestum

Der sogenannte Taucher von Paestum – das aus dem 5. Jahrhundert v. Chr. stammende Bild eines jungen Mannes, der einen Kopfsprung ins Meer macht – gehört zu den lebendigsten und ansprechendsten Kunstwerken der griechischen Antike. Da es als Verzierung der Deckplatte im nach ihm benannten Grab des Tauchers in Paestum gefunden wurde, hat die Forschung oft versucht, in dem Gemälde symbolische Bezüge zu Tod und Sterben zu entdecken (etwa in der Form, dass der Sprung ins Wasser den Übergang ins Jenseits darstellen würde). Gegen solche Interpretationen wendet sich Tonio Hölscher in seinem elegant geschriebenen und sehr lesenswerten Buch Der Taucher von Paestum. Jugend, Eros und das Meer im antiken Griechenland.

Für Hölscher ist in dem Bild eine Szene aus dem Leben dargestellt, deren Übergangscharakter nicht etwa in einem Verlassen dieser Welt liegt, sondern im Alter des Kopfspringers, in dem er einen Epheben sieht, also einen Jüngling an der Schwelle zwischen Jugendzeit und Erwachsenenalter, wie er auch in dem erotisch aufgeladenen Gastmahl, mit dem die Wände der Grabkammer bemalt sind, mehrfach im Beisammensein mit reiferen Männern erscheint.

Im Zentrum der weiteren Betrachtung steht daher die Meeresküste als besonders mit diesem Lebensabschnitt verknüpfter Ort. Beim Bad im Meer (oder beim Sprung hinein) hatte man nicht nur die Möglichkeit, seinen Körper und seine athletischen Fähigkeiten unter Beweis zu stellen. Vielmehr bot der Aufenthalt am Meer oder an anderen Gewässern außerhalb der Stadt mit ihren festgefügten Regeln männlichen Jugendlichen und, wenn auch in weitaus geringerem Maße, jungen Mädchen die Gelegenheit zum Erleben einer Phase relativer Freiheit vor dem Eintritt in die Verpflichtungen der Erwachsenen.

Hinweise auf diese Verknüpfung zwischen Jugend und Meer finden sich nicht nur an ganz realen Orten (etwa in Form von Felsinschriften auf der Insel Thasos, die ältere Liebhaber oder Bewunderer für Jugendliche an der Küste hinterließen), sondern auch in der Vasen- und Grabmalerei sowie in Literatur und Mythos.  Zugleich ist in Bildern und Geschichten der Aufenthalt im oder am Meer oft mit Erotik oder ganz allgemein mit Sinnenfreuden verknüpft. So finden sich beispielsweise auch Vasenmalereien, die im Wasser mit aufgeblasenen Weinschläuchen spielende Satyrn oder einen wie ein Mensch auf einer Doppelflöte musizierenden Delphin zeigen.

Da anzunehmen ist, dass diese Assoziationen im 5. Jahrhundert auch in der damals griechischen Stadt Poseidonia (dem späteren Paestum) bekannt waren, schlägt Tonio Hölscher die Deutung vor, dass das Bild des Tauchers nicht als Todessymbol zu verstehen ist, sondern wie die Gemälde des Gastmahls dazu diente, dem Verstorbenen eine seiner gehobenen sozialen Stellung und seinem jugendlichen Alter angemessene Umgebung gewissermaßen mitzugeben – ebenso, wie ihm bestimmte charakteristische Gegenstände (Salböl und Leier) als Grabbeigaben ins Jenseits folgten.

Die darauf hinführende Argumentation wird essayistisch und beschwingt, von wissenschaftlicher Trockenheit weit entfernt, entwickelt. Wer allerdings an den Details von Hölschers Auseinandersetzung mit der bisherigen Forschung zum Thema interessiert ist, findet in der ausführlich kommentierten Bibliographie im Anhang alles Notwendige. Aber auch dann, wenn man sich dem Bild des jungen Kopfspringers nur von der Unmittelbarkeit der Darstellung angezogen nähert, ist Der Taucher von Paestum eine lohnende Lektüre, die einem keine konstruierte Interpretation aufdrängt, sondern das Kunstwerk in den Rahmen der Lebenswelt, in der es entstand, einzubetten versucht. Allen an der Antike Interessierten ist das Buch deshalb nur zu empfehlen.

Tonio Hölscher: Der Taucher von Paestum. Jugend, Eros und das Meer im antiken Griechenland. Stuttgart, Klett-Cotta, 2021,160 Seiten.
ISBN: 978-3-608-96480-6


Genre: Geschichte, Kunst und Kultur

Germanen

Kaum eine Bezeichnung für eine vor- oder frühgeschichtliche Kultur ist so umstritten und politisiert wie „Germanen“. Dass es sich dabei um einen Oberbegriff für recht heterogene Gruppen handelt, die sich nach heutigem Wissensstand nicht als Einheit empfunden haben dürften, ist dabei noch das geringste Problem. Weit schwerer wiegt der Missbrauch, der im 19. und 20. Jahrhundert und insbesondere in der Nazizeit mit einer Gleichsetzung von Deutschen und Germanen getrieben wurde. Oft überlagert und erschwert das Abarbeiten an dem damals entstandenen Zerrbild, das in manchen populären Vorstellungen noch fortwirkt, die Beschäftigung mit den eigentlichen archäologischen und historischen Quellen. In diesem Spannungsfeld bewegt sich auch die als Ausstellungsbegleitband entstandene Aufsatzsammlung Germanen. Eine archäologische Bestandsaufnahme, die, anders als der Untertitel suggerieren könnte, eben nicht nur den archäologischen Aspekt in den Vordergrund rückt, sondern auch eine Auseinandersetzung mit dem Germanennamen und der Forschungsgeschichte ist.

Wie bei jedem Sammelband mit einer Fülle unterschiedlicher Beteiligter stehen dabei manchmal unvereinbar gegensätzliche Positionen nebeneinander (etwa bereits im ersten Oberkapitel bei der Frage, wie naturbelassen und waldreich die römerzeitliche Germania denn nun eigentlich war). Bis auf einen einzigen Aufsatz, der in seiner inneren Widersprüchlichkeit eher verwirrend als erhellend wirkt, sind aber alle Beiträge lohnender Lesestoff und tragen ihren Teil zu einem notwendigerweise bruchstückhaften, aber darum nicht minder beeindruckenden Wissensmosaik über die Germanen bei.

Nach einem Vorwort von Matthias Wemhoff und Michael Schmauder umreißt Letzterer unter dem Titel des Gesamtbandes die Zielsetzung des Ausstellung in Berlin und Bonn und des zugehörigen Buchs: Neben der historischen Germania und ihren Bewohnern stehen auch der Germanenname an sich und seine wechselvolle Rezeption von seiner Etablierung oder mindestens Popularisierung durch Caesar bis in die heutige Zeit im Zentrum.

Schon im ersten Oberkapitel, Von Wohnstallhäusern und dunklen Wäldern, treffen (Fehl-)Vorstellungen über Germanen und archäologische Befunde aufeinander. Gleich eingangs räumt Heiko Steuer aus Archäologensicht Zehn Vorurteile antiker und moderner Historiker aus, darunter eben auch das einer dicht von urwüchsigen Wäldern bedeckten Germania, aber auch zahlreiche von römischen Autoren verwendete Barbarentopoi.
Hans-Jörg Karlsen schildert in Zwischen Tradition und Innovation, was sich über Siedlungsmuster und die regional durchaus unterschiedliche Architektur ermitteln lässt. Thematisch ähnlich, aber mit einem stärkeren Fokus auf den möglichen Zusammenhang zwischen Bauformen und Sozialstrukturen, ist Jan Schusters Beitrag Vom Pfosten zum aus zum Gehöft gelagert. Eine einzelne germanische Siedlung nimmt schließlich Sven Gustavs in den Blick, wenn er über den Fundort Klein Köris in der Nähe von Berlin schreibt.
Susanne Jahns ist nicht nur mit dem Titel ihres Beitrags, Silvis horrida aut paludibus foeda, ganz bei Tacitus: Im Gegensatz zu Steuer sieht sie ein Germanien vor sich, das „zum großen Teil mit dichtem Wald bestanden“ (S. 111) war, und erläutert dies am Beispiel von Pollendiagrammen aus Brandenburg.

Das zweite Großkapitel Zwischen Selbstversorgung und Spezialistentum erhellt punktuell das Alltagsleben in der Germania magna. Angela Kreuz untersucht anhand römischer Schriftquellen und archäobotanischer Studien Frühgermanische Landwirtschaft und Ernährung und bietet sogar zwei rekonstruierte Rezepte (für einen Gersteneintopf und einen Hirsebrei), die nachkochbar machen, was sich aus Funden über die germanische Ernährung vermuten lässt.
Michael Meyer zeigt unter der Überschrift Eisen – Keramik – Kalk, wie Rohstoffe – gerade im Fall des Eisens teilweise recht zentralisiert und systematisch – abgebaut und weiterverarbeitet wurden. Wichtige Handwerker waren die Schmiede, die Hans-Ulrich Voß unter der Überschrift „Polytechniker“ – Spezialisten – Künstler beschreibt und die nicht nur archäologisch, sondern auch in Schriftquellen und in der Sagenwelt ihre Spuren hinterließen. Aber nicht alles in der Germania wurde direkt dort hergestellt: Importe aus dem römischen Reich spielten eine bedeutende Rolle, wie Patrick Könemann anhand der Siedlung Kamen-Westick zeigt, die sich durch eine solche Fülle von Funden römischen Ursprungs auszeichnet, dass man in ihr einen besonderen Ort – vielleicht einen Handelsplatz – vermuten kann.
Anders als Metall- und Keramikgegenstände erhalten sich Textilien nur selten, so dass Die Textilien der frühgeschichtlichen Wurt Feddersen Wierde eine Ausnahme darstellen, über die Christina Peek mit genauen Beobachtungen zu Machart und Qualität der gefundenen Reste von Stoffen, Schnüren und Fäden einen gelungenen Überblick gibt. Mit Funden aus Feddersen Wierde beschäftigt sich auch Katrin Struckmeyer, etwa mit Kämmen, für die Knochen, Geweih und Horn als Rohmaterial dienten.

Im dritten Kapitel ist man Den germanischen Gesellschaften auf der Spur. Hochinteressant ist gleich der erste Beitrag, in dem Matthias Egeler Kontinuitäten, Brüche und überregionale Verflechtungen der Religionsgeschichte in der Germania aufzeigt, Überschneidungen mit Keltischem und Römischem nachzeichnet und belegt, dass bei aller Skepsis, die man leichtfertigen Gleichsetzungen gegenüber wahren sollte, beispielsweise bei den Namen bestimmter mythologischer Figuren teilweise eine erstaunliche lange Tradierung nachweisbar ist.
Der ebenfalls sehr lesenswerte Beitrag von Babette Ludowici steht unter der Frage Germanisches Understatement? Hier geht es um Bestattungsbräuche, die – gerade im Fall der häufigen Leichenverbrennungen – den dabei getriebenen Aufwand für spätere Zeiten unsichtbar machten, da die Funde auf den ersten Blick wenig spektakulär wirkten, was aber nicht heißen muss, dass nicht gewaltige Werte an Beigaben in Flammen aufgingen, wie einzelne Überreste ahnen lassen.
Der Aufsatz Aktuelle Forschungen zur Sozialstruktur der Germanen im östlichen Mitteleuropa von Kalina Skóra und Adam Cieśliski behandelt mit anthropologischen Untersuchungen zu Gräbern der Wielbark-Kultur zwar kein uninteressantes Thema, ist aber der einzige Beitrag des Bandes, der einen ratlos zurücklässt, weil er sich ständig selbst widerspricht.1 Ob sich hier die beiden Autoren uneinig waren oder einfach nur ungeschickt versucht wurde, unterschiedliche Forschungshypothesen unter einen Hut zu bringen, lässt sich nicht entscheiden.
Weitaus besser nachvollziehbar ist der Inhalt glücklicherweise im folgenden Beitrag von Andrzej Kokowski, der Die archäologischen Kulturen des Gotenkreises, darunter eben auch die Wielbark-Kultur, im Abgleich mit antiken Quellen unter dem Aspekt der allmählichen Migration der Goten nach Süden betrachtet.

In historischen Quellen tauchen unterschiedliche germanische Gruppierungen vor allem im Hinblick auf ihre Auseinandersetzungen mit dem römischen Reich auf, so dass es folgerichtig erscheint, dass mit Krieg – ein weites Feld ein eigenes Oberkapitel bewaffneten Konflikten nicht nur mit der römischen Welt gewidmet ist. Aber natürlich ist der Kampf gegen Rom ein so zentrales Thema, dass Michael Meyer ihn gleich im Eingangsbeitrag anhand der Schlachtfelder von Kalkriese und vom Harzhorn untersucht und die Ausschnitthaftigkeit des aus den dortigen archäologischen Funden Rekonstruierbaren deutlich macht.
Die Vorgänge am Harzhorn beschäftigen auch Lothar Schulte in Rom vs. Unbekannt?, wenn er auslotet, aus welchem Gebiet die Germanen gekommen sein könnten, die sich hier 235 n. Chr. mit den Römern unter ihrem Kaiser Maximinus Thrax Gefechte lieferten.
Innergermanische Kämpfe stecken dagegen wohl hinter den Opfern von Waffen und Ausrüstungsteilen im Thorsberger Moor, die Ruth Blankenfeldt in Kampf und Kult bei den Germanen nicht nur unter forschungshistorischen Gesichtspunkten betrachtet, sondern auch differenziert und klar strukturiert analysiert. Hier erfährt man nicht nur über die Bewaffnung von Heeren und deren Zusammensetzung sehr viel, sondern auch über die mögliche religiöse und soziale Funktion großer Opferrituale.

Unter dem Titel Rom: Ein nützlicher Gegner sind weitere Beiträge zu den römisch-germanischen Beziehungen zusammengefasst. Ein schöner Aufsatz mit einem Blick für Details eröffnet den Reigen: Petra Rosenplänter stellt in „A missing link“, wie schon der Untertitel verrät, Ein Terra-Sigillata-Derivat aus dem Hinterland der Ems vor. Dort gefundene Scherben zeigen, dass jemand in der Germania magna versucht haben muss, ein römisches Gefäß mitsamt seiner Ornamentik nachzubilden, sich dabei aber einer ganz eigenen Technik bediente.
Ein ungleich berühmterer Fund steht im Mittelpunkt des nächsten Beitrags: Benjamin Wehry zeigt in Germanischer Prunk und römische Technik, wie der im sogenannten Fürstengrab von Gommern gefundene Schildbuckel aus einem römischen Silbergefäß umgearbeitet und seiner neuen Funktion angepasst wurde und wie man sich den gesamten Schild vorzustellen hat.
Dass unter Augustus Römischer Blei- und Silberbergbau rechts des Rheins im Bergischen Land betrieben, aber nach relativ kurzer Zeit wieder aufgegeben wurde, erläutern Jan Bemmann und Tosten Rünger.
In eine wesentlich spätere Epoche führt der Beitrag von Izabela Szter und Anna Zapolska: Der Hortfund von Frauenburg, Kr. Braunsberg – also aus dem heutigen Frombork (Polen) – stammt aus der frühen Völkerwanderungszeit und enthält neben allerlei Fibeln und Schnallen auch römische Münzen. Galt der Hortfund zunächst als im Zweiten Weltkrieg verloren, stellte sich später heraus, dass er in Wirklichkeit ins Depot des Berliner Museums für Vor- und Frühgeschichte gelangt war, so dass sich nun die Möglichkeit zu einer Neuanalyse bot.
Die Frage Grabmal oder öffentliches Monument? stellt sich bei einem Relief mit einer Gefangenendarstellung aus Mainz. Marion Witteyer kann den ursprünglichen Zweck zwar nicht endgültig bestimmen, geht aber von der Zugehörigkeit zu einem größeren Monument aus. Auf jeden Fall hat man es aber mit einem Bespiel für die römische Sicht auf die Germanen zu tun, was eine passende Überleitung zum nächsten Abschnitt bildet, der ganz dem Germanennamen gewidmet ist.

Das Kapitel Germanen: Sichtweisen auf einen umstrittenen Begriff  weist bei einer kontinuierlichen Lektüre des Bandes gewisse Längen auf, nicht etwa, weil einer der Beiträge darin an und für sich uninteressant wäre, sondern weil aufgrund des doch relativ begrenzten Quellenkorpus zum antiken Germanenbegriff zwangsläufig vieles mehrfach referiert wird, was sich in einer Monographie zusammenfassend hätte abhandeln lassen.
Originell ist der von Ernst Baltrusch gewählte Ansatz, die Römische Ethnographie nicht nur nach ihrem Germanenbild zu befragen, sondern auch ihre Sicht auf die Juden zu untersuchen und so herauszuarbeiten, inwieweit die antike Bewertung beider Kulturen Ansatzpunkte für die verheerende spätere Rezeption bot. Hervorhebenswert ist auch, dass Baltrusch nicht nur die Bezeichnung „Germanen“ problematisiert, sondern auch kritisch den heute in der Wissenschaft gängigen Sprachgebrauch hinterfragt, der mit der Bezeichnung barbaricum als Ersatz für „Germanien“ letzten Endes ein Schimpfwort aus der Antike übernimmt.
Sebastian Brather fragt nach der Tauglichkeit des Begriffs Germanen als Kategorie der Forschung? und kommt zu dem Schluss, dass man ihn nicht vorschnell verwerfen sollte, solange man sich seiner historischen Genese bewusst bleibt.
Noch knapper fragt Stefan Burmeister nach Germanen? und arbeitet die Problematik der pauschalisierenden Sammelbezeichnung nicht nur für eine Vielzahl unterschiedlicher Gruppen, sondern auch für von verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen untersuchte Phänomene (ob nun Sprache oder materielle Hinterlassenschaften) heraus.
Hans-Ulrich Voß spürt in „Germanen“ und „Römer“ der Art nach, wie man frühe archäologische Funde mit dem aus den Schriftquellen über Römer und Germanen bekannten in Einklang zu bringen versuchte und welche Rolle römisches Importgut in der Germania magna dabei spielte.
Germanenname und Germanenbegriff in der Antike dagegen werden von Reinhard Wolters beleuchtet, der die Entwicklung vom Aufkommen der Germanenbezeichnung unter Caesar bis zu ihrem (vorläufigen) Verschwinden in der Spätantike nachzeichnet.
Zurück in die Neuzeit geht es mit Wojciech Nowakowski, der Die Germanen in der polnischen Archäologie unter dem Aspekt der Forschungsgeschichte vorstellt und dabei deutlich macht, dass nicht die deutsche Wissenschaft allein im 20. Jahrhundert auf politisch motivierte Irrwege geriet: Da man auch in Polen eine Kontinuität von den Germanen zu den verständlicherweise verhassten Deutschen annahm, wollte man so wenig „Germanisches“ wie möglich auf polnischem Staatsgebiet haben, bemühte sich um den Nachweis einer slawischen Ureinwohnerschaft und spielte die Präsenz germanischer Gruppen eher herunter.

Dem neuzeitlichen Germanenbild auch über die Fachwissenschaft hinaus widmet sich das abschließende Kapitel Rezeption: Zwischen Wagner-Oper und musealer Präsentation. Einen Überblick dazu liefern Susanne Grunwald und Kerstin P. Hofmann in Wer hat Angst vor den Germanen? Von Opernkostümen mit Hörnerhelmen über die völkisch-nationalistischen Abwegen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bis hin zu heutigen fragwürdigen Ansätzen wie dem Aufspüren „germanischen“ Erbguts bei kommerziellen DNA-Analysen findet hier so manches Erwähnung, das eher von einer unreflektierten Inanspruchnahme der historischen Germanen als von einer echten Auseinandersetzung mit dem, was wir über sie wissen und vermuten können, zeugt.
Germanenbilder werden natürlich nicht zuletzt auch von der musealen Präsentation von Fundstücken geprägt. Marion Bertram geht in ihrem Beitrag „In dem schwankenden Meere prähistorischer Hypothesen“ der Frage nach, wie Germanisches von den Anfängen bis 1945 im Berliner Museum für Vor- und Frühgeschichte ausgestellt und inszeniert wurde.
Wer hier nur mit typischer Germanentümelei rechnet, dürfte etwas von dem überrascht sein, was Matthias Wemhoff unter der Überschrift Germanenkult oder Mythengeschichte? über den heute nur noch partiell erhaltenen Gemäldefries von 1855 im sogenannten „Vaterländischen Saal“ des Neuen Museums herausarbeitet. Nationalistisches – bezogen auf ein vereintes Deutschland, das damals noch Zukunftsmusik war – klingt in den Darstellungen aus der nordischen Mythologie eher unterschwellig an; stattdessen wird, vermengt mit antiken und christlichen Vorstellungen, eine diffuse Friedens- und Erlösungsbotschaft vermittelt.

Ein kleiner Katalogteil, der zu den Aufnahmen ausgewählter Stücke leider nur knappe Angaben anstelle eigentlicher Begleittexte bietet, rundet den Band ab und macht wie die im ganzen Buch qualitätvolle Bebilderung aus Fotos, Rekonstruktionszeichnungen von Benoit Clarys, Übersichtsgrafiken und Kartenmaterial diesen Streifzug durch die germanische Welt anschaulich und greifbar. Insgesamt hat man den Eindruck, dass die im Untertitel versprochene archäologische Bestandsaufnahme durchaus geglückt und darüber hinaus noch einiges geboten ist. Als Einführung für Interessierte in das Thema Germanen eignet sich das Werk allerdings nur bedingt. Besser ist es, schon ein bisschen Vorwissen gerade auch aus dem ereignishistorischen Bereich mitzubringen, um die oft nur Schlaglichter setzenden Beiträge in einen größeren Kontext einordnen zu können.

Thorsten Valk, Matthias Wemhoff (Hrsg.): Germanen. Eine archäologische Bestandsaufnahme. Darmstadt, Theiss (WBG), 2020, 640 Seiten.
ISBN: 978-3-8062-4261-4

  1. So folgen auf die kategorische Aussage „Die germanische Familie lebte monogam“ (S. 236) noch auf derselben Seite Spekulationen über Polygamie als mögliche Ursache eines ungleichen Geschlechterverhältnisses auf bestimmten Gräberfeldern. Auch ob es nun Wahrsagerinnen gab (so S. 242) oder „Prophezeiungen eine rein männliche Angelegenheit“ (S. 243) waren, wird nicht klar. Etwas misstrauisch stimmt auch die Aussage, man habe zwar Tote im Alter von 50 Jahren oder mehr, aber nur selten „Reste von Verstorbenen mit einem Alter von über 60 Jahren“ (S. 235) gefunden, wenn man wenig später informiert wird, dass „eine genaue Diagnose des Sterbealters ab 50 bis 60 Jahren nicht mehr möglich“ ist (S. 247). Auch die Aussagekraft des Hinweises, dass, anders als in der Przeworsk-Kultur, in keinem Frauengrab der Wielbark-Kultur Waffen gefunden wurden, für die jeweiligen Handlungsspielräume einzelner Frauen in beiden Kulturen dürfte eher gering sein, wenn man bedenkt, dass man schon zuvor erfahren hat, dass auch Männergräber der Wielbark-Kultur keine Waffenbeigaben enthalten (vgl. S. 227).

Genre: Geschichte, Kunst und Kultur

Vergils Aeneis

Vergils Aeneis gilt als das römische Epos schlechthin und wird seit zweitausend Jahren immer wieder rezipiert, interpretiert und als Inspirationsquelle genutzt. Wer vor dem Hintergrund daran zweifelt, dass es überhaupt noch etwas Neues über das Werk zu sagen gibt, ist mit einem Blick in Markus Jankas Einführung Vergils Aeneis gut beraten, die einen frischen und bisweilen unerwarteten Zugang zu der alten Geschichte über den Flüchtling aus Troja bietet, der sich auf göttlichen Ratschluss hin nach Italien begibt.

Von einer einzigen Geschichte zu sprechen, ist dabei aber vielleicht verfehlt, denn Markus Janka deutet die Aeneis vielmehr als Abfolge von ihren zwölf Büchern entsprechenden zwölf Heldengeschichten um dreizehn zentrale Figuren (Aeneas, Laocoon, Achaemenides, Dido, Anchises, Sibylla, Latinus, Euander, Nisus und Euryalus, Pallas, Camilla sowie Turnus, wobei das Freundespaar Nisus und Euryalus aufgrund seiner gemeinsamen Geschichte als Einheit behandelt wird).

Nach vier den Rahmen absteckenden Kapiteln, in denen die homerischen und hellenischen Vorbilder der Aeneis, ihre Stellung im Werk Vergils und ihre historische Verortung im Prinzipat des Augustus behandelt werden, bildet den Schwerpunkt der Einführung daher eine Art interpretierende Nacherzählung der zwölf Bücher der Aeneis mit einzelnen Zitaten, vor allem aber auch vielen zweisprachig wiedergegebenen Einzelbegriffen, die in ihrer Bedeutung für das Epos diskutiert werden.

Die Übersetzung der lateinischen Wörter entspricht dabei nicht immer dem Gewohnten. So gibt Janka etwa die charakteristische pietas des Aeneas mit „Bravheit“ (S. 7) wieder – eine Formulierung, die überrascht, wenn man selbst (wie die Rezensentin) den pius Aeneas spontan vielleicht eher als einen „pflichtergebenen“ Mann beschrieben hätte, die aber zugleich mehr als ein Denkanstoß ist, sondern einen zentralen Ausgangspunkt der Deutung des Werks bildet. Sonst oft betonte Aspekte wie das Augustuslob oder der römische Ursprungsmythos werden zwar nicht ausgeblendet, aber vor allem zeichnet Janka die Geschichte des Aeneas als die eines Mannes, der zwar zunächst „brav“ beginnt (und damit den wenig sozialverträglichen homerischen Helden überlegen ist), dessen Bild aber mit dem Fortschreiten der Handlung immer mehr Risse bekommt.

Ist Aeneas schon in seinem Umgang mit Dido letzten Endes der moralisch Unterlegene, lassen ihn nach seiner Ankunft in Italien die blutigen Kriegshandlungen, in die er sich verstrickt, immer weiter von seinem ursprünglichen Anstand abkommen, bis er mit Menschenopfern und ganz am Ende mit der Verweigerung der Gnade, um die der unterlegene Turnus fleht, auch für römische Begriffe weit vom richtigen Handeln entfernt ist. Erinnert man sich daran, dass Aeneas als Vorfahr der Römer gilt, schwingt in seinem moralischen Abstieg, der mit dem Aufstieg im Machtgefüge der Welt einhergeht, also die Mahnung an Rom mit, sich von Durchsetzungskraft und Kampferfolgen nicht verleiten zu lassen, seine ursprünglichen Überzeugungen zu verraten – eine Warnung, die zu beherzigen dem aufstrebenden Imperium und mancher Einzelperson in ihm vielleicht gutgetan hätte.

Ein kurzer Ausblick auf die heutige Aeneis-Rezeption in Film und Literatur und Schaubilder mit schematischen Darstellungen zum Aufbau des Werks runden das Buch ab. Ganz gleich, ob man sich Jankas Interpretation vorbehaltlos anschließen oder sich eher kritisch damit auseinandersetzen möchte, ist die kleine Einführung auch dank dieser Übersichten eine gute Einstiegsmöglichkeit in Vergils Schaffen und eine hilfreiche Begleitung bei der eigenen Lektüre der Aeneis.

Markus Janka: Vergils Aeneis. Dichter, Werk und Wirkung. München, C. H. Beck, 2021, 128 Seiten.
ISBN: 98-3-406-72688-0


Genre: Kunst und Kultur

Das minoische Kreta

Stiersprung und Paläste, Labyrinth und Doppelaxt, potenzielles Matriarchat oder gar Atlantis-Vorbild – die Assoziationen, die die Kultur weckt, die nach dem kretischen König Minos aus der griechischen Mythologie als die minoische bezeichnet wird, ohne dass bekannt wäre, wie sie sich selbst nannte, sind vielfältig. Was aber wissen wir eigentlich wirklich über das bronzezeitliche Kreta? Viel und wenig zugleich, wie Diamantis Panagiotopoulos in seinem Buch Das minoische Kreta überzeugend darlegt. Gut lesbar und mit vielen Fotos und Grafiken illustriert schildert er, was sich über die Situation auf Kreta zwischen 3100 v. Chr. und 1200 v. Chr. sagen lässt, als sich nach und nach zuerst eine eher agrarisch denn maritim geprägte Lebensweise entwickelte, in der sich über Jahrhunderte mehrere vielleicht miteinander konkurrierende, aber wohl auf alle Fälle voneinander unabhängige Palastzentren herausbildeten, unter denen schließlich der Palast von Knossos die Dominanz und vermutlich eine Art Oberherrschaft erlangte, bis es dann unter ungeklärten Umständen zu einer Übernahme der festländischen mykenischen Kultur kam und der kretische Sonderweg in der griechischen Welt aufging.

Ziel und Anspruch des Autors ist es dabei, sowohl ein Fachpublikum als auch Interessierte abseits des akademischen Kontexts anzusprechen – ein Vorhaben, das nicht zuletzt aufgrund seiner tiefen Liebe zum damaligen wie zum heutigen Kreta gelingt, die in seinen Schilderungen immer wieder spürbar wird. Sein Bemühen, die Minoer zu verstehen, geht deshalb nicht nur von den gleichwohl gut beschriebenen und differenziert interpretierten archäologischen Funden allein aus, sondern von den epochenübergreifenden naturräumlichen Besonderheiten Kretas. Daneben legt Panagiotopoulos großen Wert darauf, nicht nur eine abstrakte „Kultur“ zu schildern, sondern das Individuum in seiner Interaktion mit der Welt sichtbar zu machen.

Das allerdings ist für das minoische Kreta nicht ganz einfach: Die Schriftquellen (in kretischen Hieroglyphen und Linear A) sind immer noch nicht entschlüsselt, und so lebendig die erhaltenen Bilder auch wirken mögen, weisen sie doch Besonderheiten auf, die sie nicht als unverfälschte Wiedergabe der minoischen Realität erscheinen lassen. Beispielsweise gibt es, anders als gleichzeitig in Ägypten oder im Alten Orient, unter den zahlreichen Gemälden und Statuen keine, die sich eindeutig als Darstellungen konkreter Einzelpersonen, also quasi als Portraits, identifizieren lassen. In den häufigen Fest- und Alltagsszenen, die es stattdessen gibt, agieren meist nur junge Erwachsene – Kinder sind selten, ältere Menschen gar nicht abgebildet. Die Gründe dafür sind unklar.

Nicht nur deshalb ist die moderne Rezeption der minoischen Kunst und auch anderer Funde oft stark von Spekulationen geprägt. Seinen Teil dazu beigetragen hat Arthur Evans, der Ausgräber von Knossos, dessen Rekonstruktionen eher phantasievoll waren. Panagiotopoulos verteufelt ihn dennoch nicht, sondern zeigt bei aller Kritik auf, dass Evans durchaus viel leistete und nicht unbedingt wild fabulierte, sondern von seiner Zeit und seinem Bildungshintergrund geprägte Schlüsse zog.

Wie leicht das auch mit dem heutigen erweiterten Kenntnisstand geschehen kann, demonstriert der Autor anhand eines Wandgemäldes, das prominent Frauen in Szene setzt: Je nachdem, wie man sie sehen möchte, könnten sie von Würdenträgerinnen und Priesterinnen einer eher matriarchal geprägten Gesellschaft bis hin zu Haremsdamen in einem extremen Patriarchat so gut wie alles sein. Was man selbst an die bronzezeitlichen Zeugnisse heranträgt, prägt deren (vermeintliche) Aussage, dafür hat Panagiotopoulos einen wachen Blick. Entsprechend vorsichtig fallen auch seine eigenen Überlegungen aus, die oft eher Möglichkeiten aufzeigen, als in Stein gemeißelt zu erscheinen. Nur an wenigen Stellen wagt er unbelegbare Vermutungen, so etwa in der Deutung des in der minoischen Kunst oft wiedergegebenen Stiersprungs, der für ihn weder Initiationsritual noch Mythos, sondern ein wiederholter Akt der Selbstdarstellung der jungen, männlichen Angehörigen der kretischen Elite ist.

Abgesehen von hochinteressanten Informationen über Archäologie und Forschungsgeschichte des minoischen Kreta bietet das Buch daher auch ein überzeugendes Plädoyer dafür, sich im Umgang mit der Vergangenheit der Subjektivität von Rezeption und der eigenen Rezipientenrolle stets bewusst zu bleiben. Lesenswert ist es daher nicht nur für diejenigen, die sich mit der kretischen Bronzezeit beschäftigen möchten, sondern generell für alle, denen vor- und frühgeschichtliche Kulturen am Herzen liegen.

Diamantis Panagiotopoulos: Das minoische Kreta. Abriss einer bronzezeitlichen Inselkultur. Stuttgart, W. Kohlhammer, 2021, 312 Seiten.
ISBN: 978-3-17-021269-5


Genre: Geschichte, Kunst und Kultur

Von Raben und Krähen

Rabenvögel sind bei manchen Menschen eher unbeliebt – sehr zu Unrecht, wie Britta Teckentrup findet, die in Von Raben und Krähen die faszinierenden Vögel kenntnisreich und voller Sympathie porträtiert. Dabei besticht das Buch durch seine wunderschönen, oft ganzseitigen Illustrationen und seine insgesamt gelungene Gestaltung (begonnen schon mit der Rückseite, auf der zwei Krähen munter den Barcode auseinandernehmen). Der künstlerische Anteil beschränkt sich aber nicht auf das Äußerliche, denn der Text umfasst neben interessanten biologischen und kulturhistorischen Fakten auch eine Sammlung literarischer Auftritte von Raben und Krähen.

Der Sachbuchteil kommt leicht und locker, aber nicht anspruchslos daher und vermittelt auf unterhaltsame Weise alle möglichen Informationen über Raben und Krähen, von ihrer Kommunikation über ihr Verhalten, ihre Lernfähigkeit und ihre Problemlösungsstrategien bis hin zu ihren Gefühlen (soweit diese für Menschen zu erschließen sind) – denn auch Rabenvögel können trauern und sind übrigens auch weitaus bessere Eltern, als die abfällige Bezeichnung „Rabeneltern“ erst einmal vermuten lassen könnte. Nebenbei werden auch noch kurz verschiedene Rabenvögel vorgestellt. Darunter sind heimische Arten wie der Eichelhäher und die Dohle, aber auch Tiere aus aller Welt, von denen man noch nicht unbedingt etwas gehört hat, wie etwa die Spatelbaumelster oder der Erzrabe.

Ein eigenes Kapitel ist den Raben in der Mythologie gewidmet, in der sie in den verschiedensten Kulturen eine wichtige Rolle spielen, von der Schöpfergestalt über mit Weisheit, Erinnerung und Magie assoziierte kluge Vögel bis hin zu wahren Unglücksboten, die als Aasfresser für Tod und Verderben stehen und darum nichts Gutes verheißen.

Die liebevoll zusammengetragenen literarischen Texte schließlich decken ein breites Spektrum ab, vom Raben in der Fabel bei Äsop über Märchen und Gedichte bis hin zu dem leider so tragisch endenden Hans Huckebein von Wilhelm Busch.

Zum Abschluss wird noch einmal die Beziehung zwischen Rabenvögeln und Menschen in den Blick genommen, die trotz aller Vorurteile eng ist (nicht nur, was Kuriosa wie die Raben im Londoner Tower betrifft): So sind gerade Krähen als Kulturfolger in vielen großen Städten vertreten, und man erfährt ein paar verblüffende Details darüber, wie sie sich in Berlin, New York und Tokio mit dem urbanen Leben arrangiert haben.

Ein Buch, um wissenschaftlich tief in das Thema einzusteigen, ist Von Raben und Krähen zwar nicht, aber eine anregende und in jeder Hinsicht liebevoll gestaltete Möglichkeit, etwas über Rabenvögel zu erfahren. Für alle Fans von Raben und Krähen ist dieses literarische Schmuckstück ohnehin ein Hochgenuss und wärmstens zu empfehlen.

Britta Teckentrup: Von Raben und Krähen. Berlin, Jacoby & Stuart, 2021, 164 Seiten.
ISBN: 978-3-96428-089-3


Genre: Kunst und Kultur, Sachbuch allgemein

Notre-Dame

Die Kathedrale Notre-Dame in Paris, deren Brand 2019 weltweit Entsetzen auslöste, ist zwar ein katholisches Gotteshaus, aber das Gebäude an sich gehört dem Staat. Diese eigentümliche Situation geht auf die Französische Revolution zurück, passt aber gar nicht schlecht zur Geschichte des Bauwerks, das neben seiner religiösen Funktion immer auch der weltlichen Repräsentation diente.

Dieser Doppelrolle, die nicht erst in unserer Zeit noch um eine dritte als Touristenmagnet zu ergänzen ist, spürt Thomas W. Gaehtgens in Notre-Dame. Geschichte einer Kathedrale nach. Er möchte sein Buch dabei ausdrücklich nicht als Führer durch die Kathedrale verstanden wissen, sondern strebt bei aller Liebe zum Detail in der Architekturschilderung ein umfassenderes Bild an, das auch entscheidende historische Ereignisse und Entwicklungen mit einbezieht. Ausgangspunkt seiner lebendigen Betrachtung ist denn auch nicht der Baubeginn der heutigen Kathedrale 1163, sondern ihre Bedeutung beim Herrschaftsantritt der mittelalterlichen französischen Könige, die zwar in Reims gekrönt wurden, aber vor dem Hauptportal von Notre-Dame der Kirche einen Schwur leisten mussten.

Das erste Kapitel, Die gotische Kathedrale, ist dennoch im Wesentlichen eine Baugeschichte der mittelalterlichen Substanz Notre-Dames. Bei der Lektüre empfiehlt es sich, ein Architekturwörterbuch in greifbarer Nähe zu haben, denn für ein Buch mit dem für die Reihe C. H. Beck Wissen typischen Einführungscharakter werden hier doch recht viele Fachbegriffe vorausgesetzt und nicht im Text selbst oder in einem Glossar erläutert.

Im zweiten Abschnitt, Die Kathedrale der Könige, der sich mit der Zeit ab dem 16. Jahrhundert befasst, rückt neben politischen Ereignissen die Innenausstattung der Kathedrale stärker in den Vordergrund. Während durch die Bourbonen veranlasste Umbauten, insbesondere im Zuge der von Ludwig XIII. und seinem Sohn Ludwig XIV. intensiv propagierten, gegenreformatorisch geprägten Marienfrömmigkeit, noch heute zum Teil sichtbar und im allgemeinen Bewusstsein präsent sind, gilt das nicht für die bedeutenden und über Jahrhunderte hinweg unübersehbaren Stiftungen aus bürgerlichen Kreisen – auch aufgrund der Tatsache, dass viel davon zerstört oder zumindest, wie etwa Gemälde namhafter Künstler, im Zuge der Revolution aus der Kirche entfernt wurde.

Die mit dem politischen Umsturz auch für Notre-Dame verbundenen Verwerfungen leiten das dritte Kapitel, Tempel und Kirche der Nation, ein, doch geht es hier im weiteren Verlauf auch um das für die heutige Wahrnehmung des Gebäudes ungemein prägende 19. Jahrhundert, in dem nicht nur Victor Hugos berühmter Roman über die Kathedrale entstand, sondern auch eine weitreichende Restaurierung durch die Architekten Lassus und Viollet-le-Duc vorgenommen wurde. Insbesondere das heute oft kritisierte Vorgehen des Letzteren, der recht frei eigene Ergänzungen vornahm und in der Hoffnung auf die Wiederherstellung eines vermeintlichen Originals historisch gewachsene Bauzustände beseitigen ließ, nimmt Gaehtgens dabei vor dem Hintergrund von Forschungsstand und Kunstverständnis seiner Zeit in Schutz.

Das abschließende vierte Kapitel Die Kathedrale der Republik widmet sich der durchaus ironischen Situation, dass Notre-Dame dem eigentlich strikt laizistisch ausgerichteten französischen Staat bis heute als feierlicher Rahmen etwa für die Aufbahrung verstorbener Präsidenten dient – oder besser gesagt bis 2019 diente. Den dadurch notwendig gewordenen Restaurierungs- und Wiederaufbauarbeiten sieht Gaehtgens optimistisch entgegen, da viel Beschädigtes wohl durchaus noch zu retten ist.

An einer Stelle enthält das Buch leider eine Fehlübersetzung: Die französische Bezeichnung einer berühmten Dämonenskulptur, „Le Stryge“, wird auf Deutsch mit „der Streit“ (S. 112) wiedergegeben, während es sich in Wirklichkeit um einen Ausdruck für diese Art von Ungeheuer handelt, so dass es besser „Striga“ hätte heißen sollen.

Abgesehen von solchen Kleinigkeiten liest Notre-Dame sich jedoch gut und bietet auf kleinem Raum eine Fülle hochinteressanter Informationen. Besonders schärft das Buch das Bewusstsein dafür, wie sehr die Kathedrale auch abseits von großen Einschnitten wie der Revolution und dem Brand in jüngster Vergangenheit schon ab der Bauphase ständigen Veränderungen unterworfen war. Auch insgesamt erfährt man viel, was man über Notre-Dame nicht unbedingt weiß – Kuriosa wie eine riesenhafte Christophorus-Statue, die bis ins 18. Jahrhundert im Kirchenschiff aufgestellt war, mit inbegriffen. Nicht nur, aber ganz besonders auch für Mittelalterinteressierte und Frankreichfans lohnt sich daher die Lektüre.

Thomas W. Gaehtgens: Notre-Dame. Geschichte einer Kathedrale. München, C. H. Beck, 2020, 128 Seiten.
ISBN: 978-3-406-75048-9


Genre: Geschichte, Kunst und Kultur