Im Jahre 814 starb Karl der Große, und so hat das Jubiläumsjahr 2014 eine Fülle neuer Veröffentlichungen nicht nur über den berühmten Herrscher, sondern auch über sein Umfeld und über die Franken allgemein hervorgebracht. Zu diesen Büchern zählt auch Bernhard Jussens Die Franken. Geschichte, Gesellschaft, Kultur, ein kleines, aber informatives Bändchen, das wieder einmal den guten Eindruck bestätigt, den man über die Jahre von der Reihe C.H. Beck Wissen gewonnen hat.
Der Zugang, den Jussen zu der fernen Epoche wählt, ist dabei durchaus originell: Die Einleitung ist mit der Frage „Was gehen uns ‚Die Franken‘ an?“ überschrieben und identifiziert acht Kernaspekte der fränkischen Kultur, die sich bis heute auf das Leben in Westeuropa auswirken (unter anderem geht es hier um das Ehe- und Familienverständnis, die Rolle der Kunst, das politische System und das gemeinschaftliche Selbstbild).
Mit diesen Themenfeldern im Hinterkopf wird man zunächst unter der Überschrift „Koordinaten – Bedingungen – Vorgeschichten“ in das Umfeld eingeführt, in dem sich die fränkische Herrschaftsbildung vollzog, und erfährt einiges über das Ende des römischen Reichs und den mentalitätsgeschichtlichen und politischen Wandel, der damit einsetzte. Das Folgekapitel „Politische Ereignisse: Von Arbogast dem General zu Ludwig dem Nichtstuer“ greift zentrale Wendepunkte heraus, um die historische Entwicklung vom ersten Auftreten fränkischer Militärs in römischen Diensten bis zum Ende der karolingischen Dynastie nachzuzeichnen, und hinterfragt dabei manch vermeintliche historische Gewissheit (so etwa die genauen Vorgänge beim Übergang der Macht von den Merowingern auf die Karolinger). Diese episodische Struktur liegt in Jussens Entscheidung begründet, auf die oft spekulative „gebastelte Ereignisgeschichte der Historiker“ (S. 50) zu verzichten, hat aber natürlich den Nachteil, dass dieses Kapitel nicht völlig der Rolle als Einführung gerecht wird, die man von C.H. Beck Wissen sonst gewohnt ist: Da keine kontinuierliche „Geschichte“ im Wortsinn geboten wird, sind hier Leser im Vorteil, die schon ein grobes (wenn auch vielleicht geschöntes) Bild der Abläufe im Kopf haben, während ein völliger Laie, der sich einen ersten Überblick über das Frühmittelalter verschaffen möchte, durchaus ins Schwimmen geraten könnte.
Im Abschnitt „Politische und soziale Strukturen, Administration und Wissenskulturen“ kommt Jussen dann noch einmal explizit auf die am Anfang angerissenen Themen zurück, die indirekt allerdings auch schon in den ereignishistorischen Teilen immer wieder mit angeklungen sind: Die Umformung der gallorömischen Welt durch die Franken und das erstarkende Christentum begünstigten eine Aufwertung der monogamen Ehe als Zentrum der Familie (unter Verdrängung alter Clanstrukturen), ein Spannungsfeld aus weltlicher Herrschaft und kirchlicher Hierarchie (die zwar vielfach verflochten, aber eben nicht miteinander identisch waren), ein Streben nach einer klaren Organisation von Bildung und Wissen sowie Wirtschaftsformen, die das antike System der Sklaverei unrentabel werden ließen. In dieser Gemengelage sieht Jussen den Keim vieler Kennzeichen der westeuropäischen Kultur (darunter etwa die im weltweiten Vergleich relativ starke Stellung der Frau, die Möglichkeit einer Trennung von Staat und Kirche oder die recht freie Entwicklung der Künste) und warnt davor, darin ausschließlich Errungenschaften des Zeitalters der Aufklärung zu sehen.
Vermutlich würde nicht jeder Historiker seine Theorie bis in alle Einzelheiten unterschreiben, und manches ist wohl auch ein wenig zu überspitzt dargestellt, ergaben sich doch in den letzten 1200 Jahren durchaus noch Rückschritte und Brüche, so dass der Weg von den Franken bis zu uns verschlungener ist, als Jussens pointierte Darstellung einen glauben machen könnte. Dennoch bietet sie hochinteressante Denkansätze und schärft ungemein das Bewusstsein dafür, dass es ein Fehler ist, bei der Frage nach den historischen Wurzeln heutiger Phänomene den Blick nur auf die letzten paar Jahrhunderte zu richten, statt älteren Grundlagen nachzuspüren.
Der oben schon angedeutete Wermutstropfen aber bleibt: Ganz ohne Vorkenntnisse hat man vermutlich weniger von der Lektüre, als wenn man die neuen Interpretationsansätze bereits in ein Grundgerüst des Wissens über die Franken und ihre Zeit einordnen kann.
Bernhard Jussen: Die Franken. Geschichte, Gesellschaft, Kultur. München, C. H. Beck, 2014, 128 Seiten.
ISBN: 978-3406661815