Einer illustren Familie entsprossen und in einem entlegenen Inselreich aufgewachsen, zeichnet sich der junge Ségurant schon früh durch besondere Tüchtigkeit auf der Jagd und im Waffengebrauch aus. Nach dem Ritterschlag durch seinen Großvater zieht er in die Welt und macht sich als schier unbesiegbarer Kämpfer einen Namen. Sein Antreten bei einem Turnier in Winchester unter ganz besonderen Bedingungen soll ihm den Weg an den Artushof ebnen, doch die Zauberin Morgane hat etwas dagegen und beschwört aus der Hölle einen Teufel herauf, der in Drachengestalt fortan Ségurant das Leben schwermachen wird …
Ségurant ist ein mittelalterlicher Artusroman, aber alles andere als ein typischer Vertreter seiner Gattung. Bereits seine Entdeckungsgeschichte ist ungewöhnlich: Der Mediävist Emanuele Arioli fand in einer Pariser Handschrift der Prophéties de Merlin, einer Sammlung dem Zauberer Merlin zugeschriebener Prophezeiungen, eine stückweise zwischen diese eingestreute Geschichte um den Ritter Ségurant und seine Abenteuer. Daraus und aus 27 weiteren fragmentarischen Textzeugen rekonstruierte er einen in seinem Grundbestand wohl am ehesten in die zweite Hälfte des 13. Jahrhunderts zu datierenden, aber später fortgesetzten und erweiterten Roman und brachte ihn sowohl in einer kritischen Ausgabe als auch in einer neufranzösischen Leseausgabe heraus.
Die vorliegende Ausgabe basiert auf einer Übersetzung von Ariolis Übertragung ins Neufranzösische ins Deutsche und ist zudem an einigen Stellen gekürzt, so dass man die Übersetzung einer Übersetzung eines unvollständigen Texts vor sich hat. Prächtig mit zahlreichen Abbildungen aus den verschiedenen Handschriften, auf die Arioli zurückgriff, illustriert, nur sehr spärlich mit Anmerkungen versehen, dafür aber mit einem Glossar heute nicht mehr gängiger mittelalterlicher Begriffe und einem kurzen Nachwort aus Ariolis Feder und einem zweiten der Romanistin Susanne A. Friede ausgestattet, richtet das Buch sich eher an ein allgemeines als an ein wissenschaftliches Publikum und erlaubt nur geringe Aufschlüsse darüber, wie die vorliegende Textgestalt zustandegekommen ist. Immerhin: Eine Aufteilung in den Haupttext, Fortsetzungen (die nicht im Widerspruch zu dem, was Arioli als älteste überlieferte Version ansetzt, stehen und ihn eher ergänzen) und Neubearbeitungen (die auch nur als Fragmente erhalten sind, aber erkennbar auf anderen Prämissen beruhen als die älteren Fassungen) ist vorhanden.
Mehr als eine äußerlich sehr gelungene Leseausgabe zum Kennenlernen der Handlung darf man also nicht erwarten, aber die Lektüre macht durchaus Vergnügen, da die Übersetzung von Andreas Jandl sich trotz einiger zu gewollt anmutender Archaismen (z. B. „[W]as wollet Ihr?“ statt „Was wollt Ihr?“, S. 190) flüssig und gefällig liest. Einen neuen Erec, Iwein oder Parzival darf man allerdings nicht erwarten, denn der Ségurant ist, vielleicht nicht zuletzt durch die späte Entstehungszeit bedingt, ein sehr anderer Roman, und das nicht nur, weil es, wie Arioli vermutet, einzelne Einflüsse der der Artuswelt eigentlich fremden Sagen um Sigurd/Siegfried gegeben haben könnte. Vielmehr ist Ségurant eine überzeichnete Gestalt mit gargantueskem Appetit, die trotz einer Zweiteilung der Handlung in die Zeit vor und nach dem Turnier in Winchester nicht die klassische Doppelwegstruktur eines Artusromans durchläuft und weder Liebe noch Herrschaft, ja noch nicht einmal die angestrebte Aufnahme in die Tafelrunde erringt.
Um moralische Vervollkommnung in irgendeiner Form geht es nicht (stark zu bemerken etwa, wenn Ségurant vor allem amüsiert und bestenfalls oberflächlich kritisch darauf reagiert, dass sein Kumpan Dinadan ein Bauernmädchen vergewaltigt hat), und auch insgesamt erinnert der Tonfall oft eher an schwankhafte Erzählungen oder die etwas schrägeren späten Vertreter der Heldenepik (etwa die aventiurehafte Dietrichepik) als an einen typischen Artusroman. Verstärkt wird diese Tendenz noch dadurch, dass Ségurant als zumindest zeitweilige Gefährten Gestalten beigesellt werden, die eher grotesk bis komisch wirken: Der schon erwähnte Dinadan gebärdet sich mit seinen witzigen Bemerkungen häufig eher wie ein Hofnarr als wie der Artusritter, der er eigentlich ist, und lässt in seinem Verhalten generell stark zu wünschen übrig. Der junge Golistan dagegen, der wünscht, von Ségurant zum Ritter geschlagen zu werden, hat den Vorsatz, sich an Tristan zu rächen, ist aber entschlossen, erst dann, wenn er selbst Ritter ist, sein Schwert gegen einen Ritter zu führen, so dass seine Vergeltungsaktion vorerst warten muss. Da Ségurant ihm den Ritterschlag wiederholt verweigert, kann Golistan sich mit ihm feindlich gesonnenen Rittern nur prügeln, was zu recht sonderbaren Szenen führt.
Am auffälligsten ist aber die Behandlung der Drachenkämpferthematik, denn auch wenn der Untertitel Die Legende des Drachenritters eine typische Drachentötergeschichte zu verheißen scheint (und diese dann in einer der Neubearbeitungen dann auch über Ségurant erzählt wird), ist der von Morgane auf Ségurant gehetzte Drache explizit ein nicht zu tötender Geist, so dass Ségurant ihn mit den üblichen Rittermethoden gar nicht überwinden kann (sondern – so wird im Text angekündigt – auf äußere Hilfe dadurch, dass ein anderer den Gral findet, wird warten müssen). Die Drachenjagd, auf der Ségurant sich aus dem Umfeld des Artushofs wieder entfernt, hat also in der ältesten Romanversion gar kein Ende, sondern droht den Protagonisten noch am Schluss der Geschichte auf unbestimmte Zeit zu beschäftigen, ohne dass er selbst auf den Ausgang seiner Queste sinnvoll Einfluss nehmen könnte. Aus eigener Kraft kann er damit gar nicht zur Reintegration in die Gesellschaft gelangen, und von einer heilsamen Selbsterkenntnis scheint er auch meilenweit entfernt zu sein.
Der Gedanke an eine zumindest unterschwellige Kritik an bestimmten Idealen des Rittertums (oder auch am ganz realen Verhalten von Zeitgenossen) liegt daher nicht fern, aber zu überwiegen scheinen im Großen und Ganzen doch Fabulierfreude und Unterhaltungslust. Die Lektüre lohnt sich daher auch für ein heutiges Lesepublikum unter gleich mehreren Aspekten, Nur einen typischen Artusroman sollte man eben nicht erwarten, und für alle, die sich in der Materie auskennen und vielleicht gern tiefer in Text und Kontext einsteigen wollen, bleiben manche Fragen offen.
Emanuele Arioli: Ségurant. Die Legende des Drachenritters. Das vergessene Mitglied der Artusrunde. Stuttgart, Reclam, 2024, 288 Seiten.
ISBN: 978-3-15-011484-1