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Mordsache Caesar

Kann man einen historischen Mord analysieren wie einen modernen Kriminalfall? Einen Versuch, ebendas zu tun, unternimmt Michael Sommer in Mordsache Caesar. Die letzten Tage des Diktators. Den Untertitel darf man dabei nicht allzu wörtlich nehmen, denn obwohl dem unmittelbaren Vorfeld von Caesars Ermordung besondere Aufmerksamkeit gewidmet wird, zeichnet das Buch im Prinzip Caesars kompletten Werdegang und die Entwicklung seines Verhältnisses zu den Personen, die sich am Ende gegen ihn verschworen, nach.

Im Aufbau erinnert die Darstellung dabei noch am ehesten an mit Spielszenen aufgelockerte populäre Fernsehdokumentationen zu historischen Themen: Den einzelnen Kapiteln sind kurze, mehr oder minder quellennah gestaltete fiktive Szenen, die jeweils eine bestimmte Person in den Vordergrund rücken, vorangestellt, und den Fließtext selbst unterbricht hier und da ein „Aktenvermerk des Historikers“, um bestimmte Fragestellungen und spekulative Überlegungen hervorzuheben.

Die Grundthese, die Sommer dabei im Abwägen der verschiedenen Quellen, aber auch in Auseinandersetzung mit dem Caesarbild bei William Shakespeare, Martin Jehne und Christian Meier entwickelt, lässt sich in etwa wie folgt zusammenfassen: Das ständige Wetteifern der Nobilität um Ämter und Ruhm, das die römische Republik entscheidend prägte, bildete einerseits den Nährboden, auf dem ein ehrgeiziger Einzelner wie Caesar es aus der relativen Bedeutungslosigkeit bis zur Alleinherrschaft bringen konnte, barg aber andererseits auch den Keim für seinen Untergang, da seinen Standesgenossen durch seinen dauerhaften Verbleib an der Spitze die Möglichkeit genommen war, jemals höher als bis an die zweite Stelle im Staat aufzusteigen.

Den Hauptgrund für das politische Scheitern der Caesarmörder, die durch ihre Tat letztlich nur dem späteren Augustus eine bessere Ausgangsposition im anschließenden Machtkampf verschafften und damit den Weg zur dauerhaften Etablierung einer Monarchie ebneten, sieht Sommer denn auch in der Tatsache, dass bei vielen der Verschwörer eher egoistische Motive in Spiel waren und die wenigen beteiligten Idealisten (zu denen er etwa Marcus Iunius Brutus zählt) allein keinen Entwurf für einen Neubeginn der Republik zu entwickeln vermochten, der breitere Kreise überzeugt und mitgerissen hätte.

Das alles schildert Sommer mit viel Verve und Gespür für Dramaturgie, vor allem aber in dem Bemühen um eine Verlebendigung seiner Protagonisten. Packend ist die Lektüre also ohne jede Frage, aber inwieweit man den gewählten Sprachstil als angenehm lässig oder doch eher als manchmal zu gewollt flapsig empfindet, hängt wohl vom persönlichen Geschmack ab: Das Rad der Geschichte kann man hier „mit Schmackes“ (S. 15) drehen, damit, dass es im Senat „Stunk“ (S. 260) gibt, ist zu rechnen, nach der Schlacht von Pharsalos ist für die Republikaner „der Drops gelutscht“ (S. 194), und später stellen Brutus und Cassius ihr „Team Tyrannenmord“ (S. 224) zusammen. Auch abseits davon wirkt mancher Ausdruck einfach zu modern für das, was gemeint sein könnte (denn verschickte man Briefe in der römischen Antike wirklich schon in einem „Kuvert“, so S. 190 in einer der imaginären Szenen?).

Etwas gründlicher hätte das Lektorat sein können, denn leider sind einige missverständliche oder schlicht falsche Formulierungen stehen geblieben. Unter anderem erfährt man so, dass Caesar eine Leichenrede „auf seine Witwe“ (S. 142) hielt – eine stramme Leistung, aber einem so entschlossenen Mann sollte man wohl zutrauen, zu dem Zweck aus dem Jenseits zurückzukehren (oder realistischer, aber deutlich langweiliger annehmen, dass mit der „Witwe“ eigentlich Caesars verstorbene erste Frau gemeint ist).

Nur partiell gelungen ist auch die digitale Rekonstruktion des Forum Romanum im hinteren Vorsatz, denn so nett der Gesamteindruck der Architektur auch sein mag, ist doch arg offensichtlich, dass in der Menschenmenge im Vordergrund dieselben Figuren immer wieder an verschiedenen Stellen und in unterschiedlichen Größen auftreten und offensichtlich nur per Kopieren und Einfügen über das Bild verteilt wurden. Eine klassische zeichnerische Rekonstruktion hätte deutlich mehr Charme gehabt.

So bleibt der Gesamteindruck am Ende durchwachsen. Unterhaltsam und spannend schreibt Sommer allemal, und seine Analyse des Zustandekommens von Caesars Ermordung ist durchaus gelungen und interessant, ganz gleich, ob man ihm nun in jedem Detail zustimmen möchte oder nicht. Wie sehr einem die äußere Verpackung dieser Forschungsergebnisse liegt, wird sich aber je nach individueller Disposition unterscheiden.

Michael Sommer: Mordsache Caesar. Die letzten Tage des Diktators. München, C.H. Beck, 2024, 320 Seiten.
ISBN: 978-3-406-82133-2


Genre: Biographie, Geschichte

Exil im Paradies

Die Geschichte des deutschsprachigen Exils während der Nazizeit wird nicht selten vor allem als eine Geschichte von Männern erzählt. Ursel Braun wählt gezielt eine andere Perspektive: In Exil im Paradies stellt sie sechs Frauen in den Mittelpunkt, die in Los Angeles und seinen Vororten, sei es für immer oder nur auf Zeit, eine neue Heimat fanden, und schildert ihr Leben in den Jahren 1940 bis 1945.

Salka Viertel, Katia Mann, ihre Schwippschwägerin Nelly Kröger-Mann, Marta Feuchtwanger, Alma Mahler-Werfel und Helene Weigel hatten vor ihrer jeweiligen Emigration sehr unterschiedliche, nicht zuletzt durch ihre jeweilige soziale Herkunft bestimmte Lebenswege, waren aber alle mit bekannten deutschsprachigen Autoren verheiratet und ab einem bestimmten Zeitpunkt Teil derselben Exilgemeinschaft, die für einige Jahre unter dem Spitznamen „New Weimar“ zahlreiche Größen aus Kunst, Literatur, Musik und Schauspiel an der Pazifikküste versammelte.

Neben dem Ort, an den ihre Flucht (bzw. in Viertels Fall eine gerade noch rechtzeitige Auswanderung vor dem völligen Entgleisen der Verhältnisse in Europa) sie geführt hatte, einte die sechs aber noch etwas: Leicht hatten sie es alle nicht, ganz gleich, ob sie ein materiell komfortables Leben führen konnten, wie die finanziell gut ausgestattete Katia Mann, oder vielmehr wie Helene Weigel, die in ihrem Beruf als Schauspielerin in den USA nicht Fuß zu fassen vermochte, von Geldsorgen geplagt waren. Als Geflüchtete spätestens seit dem Kriegseintritt der Vereinigten Staaten immer wieder mit Vorurteilen, rechtlichen Einschränkungen oder gar Bespitzelung konfrontiert, mussten sie um in Europa zurückgebliebene Angehörige und Bekannte bangen. Zumeist blieb es auch allein an den Frauen hängen, sämtliche praktische Seiten des Ehe- und Familienalltags zu organisieren und ihren teilweise mit der neuen Lebenssituation fremdelnden bis überforderten Männern den Rücken für ihre literarische Arbeit freizuhalten, ohne unbedingt viel Dank und Anerkennung dafür zu bekommen.

Denn eines wird bei den Schilderungen von Alltag, Gesellschaftsleben und kleinen Freuden inmitten schwerer Zeiten leider auch deutlich: Trotz ihres fürchterlichen und unverdienten Schicksals waren nicht alle von den Nazis in Exil Getriebenen unbedingt durch und durch sympathische Gestalten. Die ihre Frauen oft munter rechts und links betrügenden und ein beträchtliches Anspruchsdenken an den Tag legenden Schriftsteller sind allerdings nicht die Einzigen, die nicht gerade als moralische Vorbilder taugen. Auch über die ungeachtet ihrer Ehe mit dem Juden Franz Werfel an antisemitischen Vorurteilen festhaltende und ohnehin in fast schon grotesker Überheblichkeit schwelgende Alma Mahler-Werfel schüttelt man bei der Lektüre mehr als einmal den Kopf.

Von solchen Merkwürdigkeiten, der über allem schwebenden Ungewissheit um Kriegsausgang und eigene Zukunftsaussichten, aber auch von Amüsantem wie einer Heimatgefühle weckenden Sachertorte nach Spezialrezept, einer am Wegesrand aufgelesenen Schildkröte und dem Kulturschock aus Europa in das ihnen sehr fremde Amerika Verpflanzter erzählt Ursel Braun in einem gut lesbaren, flüssigen Stil, vor allem aber auch mit viel Sachkenntnis und Einfühlungsvermögen. Fotos von ihren Protagonistinnen und deren Angehörigen (teilweise in der Zeit des Exils, manchmal auch schon in früheren Jahren aufgenommen) lockern den Text auf und illustrieren bestimmte Detailbeobachtungen. Vorn und hinten im Einband bietet darüber hinaus ein Stadtplan, in dem die jeweiligen Frauen ihren Wohnorten zugeordnet sind, Zusatzinformationen (ein Manko an diesem Plan ist allerdings die leider etwas kontrastarm geratene Farbgebung von Karte und Schrift; man braucht schon sehr gute Beleuchtung am Leseplatz, um die Straßen- und Ortsnamen entziffern zu können)

Ein Epilog skizziert den weiteren Weg der fünf Frauen, die über die im Detail geschilderte Zeit hinaus noch am Leben blieben (die von ihrer Situation sehr belastete und von den Verwandten ihres Mannes Heinrich Mann immer abgelehnte Nelly Kröger-Mann hatte 1944 Suizid begangen), und eine kurze Bibliographie gibt eine nach den jeweiligen Frauen geordnete Übersicht über die Literatur zu ihnen, so dass man, wenn man durch Exil im Paradies neugierig geworden ist, noch tiefer in die Lektüre über sie einsteigen kann.

Hervorhebenswert ist darüber hinaus auch die hübsche äußere Gestaltung des in der Reihe blue notes erschienenen Buchs, das ein kleine Schmuckstück im Regal ist und es verdient hat, mehr als einmal daraus hervorgezogen zu werden, und das nicht nur aus historischem Interesse. Gerade angesichts der Tatsache, dass das titelgebende Paradies derzeit eher als von den Waldbränden um Los Angeles schwer gezeichnete Flammenhölle Schlagzeilen macht und es nicht nur in Europa, sondern auch in Amerika zu politischen Verwerfungen kommt, drängen sich Kontraste und Parallelen zwischen Vergangenheit und Gegenwart auf, die dem Buch eine besondere Aktualität verleihen und es auch abseits jedes speziellen Interesses an den Porträtierten und ihrem Umfeld lesenswert machen.

Ursel Braun: Exil im Paradies. Von Marta Feuchtwanger bis Helene Weigel. Berlin, ebersbach & simon, 2025, 144 Seiten.
ISBN: 978-3-86915-311-7


Genre: Geschichte, Kunst und Kultur, Sachbuch allgemein

Der Bauernkrieg. Ein Medienereignis

Ohne den Buchdruck und die dadurch ermöglichte massenhafte Verbreitung von Flugblättern und ähnlichen Schriften, die aktuelle Themen aufgreifen konnten, hätte es den Bauernkrieg ebenso wenig wie die eng mit ihm verflochtene Reformation gegeben – das ist die Prämisse, von der Thomas Kaufmann in seinem umfangreichen Werk Der Bauernkrieg. Ein Medienereignis ausgeht, um den Umgang der Druckwerke der Zeit mit dem Bauernkrieg speziell, aber auch mit Bauern allgemein unter die Lupe zu nehmen.

Eine Einführung in den Bauernkrieg an sich ist das Buch gleichwohl nicht: Dass sein Lesepublikum die Grundzüge der Ereignisse und ihre wichtigsten Akteure kennt, setzt Kaufmann ebenso voraus wie ein gewisses Maß von Vertrautheit mit Fachausdrücken und alten Sprachen. Hervorhebenswert ist das vor allem deshalb, weil Der Bauernkrieg sich damit in gewisser Weise in eine Tradition einreiht, die der Autor auch schon für die zeitgenössische Publizistik konstatiert: Von einzelnen Ausnahmen wie den Zwölf Artikeln und der Memminger Bundesordnung einmal abgesehen fangen die überlieferten Druckwerke nicht die Stimmen der Bauern selbst ein und haben diese auch nicht als hauptsächliche Zielgruppe, sondern sind eher Zeugnisse von Äußerungen über Bauern aus Sicht zumeist in der Geistlichkeit oder in einem städtischen Umfeld zu verortender Gebildeter.

Zeigt schon der weitgespannte Rezeptions- und Forschungsüberblick, den Kaufmann einleitend bietet, dass in der Historiographie bei aller Kritik am gewaltsamen Vorgehen der Bauern früh Verständnis dafür aufkam, dass sie sich gegen unhaltbare Zustände zur Wehr gesetzt hatten, lässt auch der Blick auf die im Vorfeld und während des Bauernkriegs und kurz darauf veröffentlichten Werke kein einheitlich negatives Bauernbild, sondern von Anfang an eine gewisse Ambivalenz erkennen. Denn neben den Bauern als tumben und ungeschliffenen Rüpel und potenziellen Unruhestifter trat in der Literatur der Zeit mit der Reformation verstärkt der mit gesundem Menschenverstand und Selbstbewusstsein gesegnete einfache Mann, der als Gegenüber und Diskussionspartner ernst genommen werden musste.

Nicht jeder wollte freilich das, was man im philosophisch-theologischen Bereich auf einmal gelten zu lassen bereit war, auch auf politische Belange übertragen, so dass bei weitem nicht alle der Reformatoren, deren Wirken erheblich mit zu der Gemengelage beigetragen hatte, in der es zu einer überregionalen Aufstandsbewegung kommen konnte, auf die Anliegen der Bauern verständnisvoll reagierten. Martin Luthers wüste Invektiven sind diesbezüglich als Negativbeispiel bekannt, aber an ihnen zeigt Kaufmann auch auf, wie es Gegnern aus dem katholischen Lager glückte, durch Nachdrucke aus dem Kontext gerissener Textteile Luthers Äußerungen noch schlimmer erscheinen zu lassen, als sie ohnehin schon waren – ein Vorgehen, das einen durchaus an die in modernen Internetdebatten gern genutzten Tricks erinnern kann.

In den Publikationsstrategien, auf die man zurückgriff, um Widersacher und Rivalen möglichst schlecht dastehen zu lassen, sieht Kaufmann auch den Grund dafür, dass die Bedeutung einzelner Persönlichkeiten des Bauernkriegs, über die viel veröffentlicht wurde, von der Nachwelt überschätzt wurde. So stuft er beispielsweise den Einfluss Thomas Müntzers auf das Gesamtgeschehen weitaus geringer ein, als es in der früheren Literatur bisweilen übrig war (durchaus aber im Einklang mit neueren Darstellungen wie Gerd Schwerhoffs Bauernkrieg). Müntzer hatte wohl schlicht das Pech, dass sich die Wittenberger Reformatoren bereitwillig auf ihn einschossen, um den Einfluss ihrer eigenen Ideen auf die Aufstände herunterzuspielen.

Auch wenn diese letztlich in den meisten Fällen blutig niedergeschlagen wurden und nur in einigen Gebieten, etwa in der Ortenau, durch Verhandlungslösungen tatsächlich Verbesserungen für die Bauern erreicht wurden, wirkten die im Bauernkrieg entwickelten Ideen jedoch fort, sei es in radikalen Utopien, deren Verbreitung im Druck den Verantwortlichen schnell zum Verhängnis werden konnte, oder immerhin in latenten Sympathien, wie sie etwa bei Albrecht Dürer zu vermuten sind, dessen als Lehrstück, nicht als Entwurf für ein konkretes Denkmal konzipierte Bauernsäule einen hinterrücks erstochenen Bauern in Denkerpose so prominent in Szene setzt, dass man dahinter unterschwellige Kritik an den Massakern vermuten kann.

Ob vor, in oder nach dem Bauernkrieg entstanden, vielen Zeugnissen ist gemein, dass neben Überlegungen über die sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse und Erfahrungen mit früheren bäuerlichen Aufstandsversuchen auch religiöse Überzeugungen, aber auch in einem heute kaum noch nachempfindbaren Maße abergläubische Vorstellungen etwa von vermeintlichen astrologischen Einflüssen in die Einschätzung der Lage mit einflossen. Über das spezifische Thema des Bauernkriegs hinaus erlaubt Kaufmanns Buch so Einblicke in die in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts vorherrschende Weltsicht und Mentalität.

Viel Freude macht die üppige Bebilderung, denn die besprochenen, oft mit Holzschnitten illustrierten Druckwerke gleich vor Augen zu haben und die darüber getroffenen Aussagen so unmittelbar nachvollziehen zu können, ist ungemein hilfreich. Im Großen und Ganzen ist die Bildqualität hinreichend, nur bei den Abbildungen aus der Petrarca-Ausgabe Von der Artzney bayder Glück sind die Bilder, vielleicht aus Platzgründen oder mangels besseren Ausgangsmaterials, teilweise so klein, dass es schwierig wird, die erwähnten Details darin zu erspähen.

Das aber ist nur ein kleiner Kritikpunkt, der das, was Der Bauernkrieg zu bieten hat, insgesamt nicht schmälert. Bei Interesse an der Epoche sollte man sich also auf das Medienereignis einlassen, denn ganz gleich, ob man jeder Wertung des Autors folgen mag oder nicht, sein Buch ist schon allein dank der eingeflossenen Materialfülle eine lohnende Lektüre.

Thomas Kaufmann: Der Bauernkrieg. Ein Medienereignis. Freiburg im Breisgau, Herder, 2024, 544 Seiten.
ISBN: 978-3-451-39028-9


Genre: Geschichte, Kunst und Kultur

Zwischen Baiern und Schwaben

Das frühe Mittelalter war vielerorts eine Zeit der politischen, sozialen und religiösen Transformationsprozesse, so auch in Augsburg und dem Lechtal, das heute als traditionelle Grenzregion Zwischen Baiern und Schwaben gilt. Die Frage, ob ein Zugehörigkeitsgefühl zu einer der beiden Gruppen schon in dieser Epoche eine Rolle für die eigene Identität spielte, wirft der Begleitband zur gleichnamigen archäologischen Ausstellung zwar in der Einleitung durchaus auf, kann sie aber nicht beantworten. Das ist jedoch alles andere als eine Enttäuschung, denn stattdessen wartet das reich bebilderte Buch mit einer Fülle interessanter Beiträge auf, denen es gelingt, die Vielfalt des Frühmittelalters und auch die Fortschritte der Forschung in ansprechender Form zu präsentieren.

Nach einer Einführung des Herausgeberteams Ursula Ibler, Volker Babucke und Alice Arnold-Becker stellt Sebastian Gairhos in Augsburg in spätrömischer Zeit die Ausgangssituation vor, die in der Region vor dem Übergang ins Frühmittelalter herrschte, und skizziert zur Charakterisierung des Einsetzens der neuen Epoche nicht nur wichtige Veränderungen in der Stadt selbst (so die Verlagerung ihres Kerns vom aufgelassenen Forum der Römerzeit in die Umgebung der Bischofskirche), sondern schildert auch die Beschaffenheit ihres Umlands, in dem viele der Fundorte liegen, die später im Band noch eine Rolle spielen.

Wie die archäologische Beschäftigung mit dem Frühmittelalter im Lechtal einsetzte, stellt Hubert Fehr differenziert in seinem Beitrag „… die Hauptfrage, welcher Zeit und welchem Volke dieser Leichenacker zu attribuiren sey …“ dar: Schon 1843 kam es zur Entdeckung des Gräberfelds von Nordendorf, das sich heute vor allem wegen der dort auf einer Fibel entdeckten Runeninschrift überregionaler Bekanntheit erfreut. Ist manches an der frühen Erforschung heute noch beeindruckend (etwa die detaillierten kolorierten Fundzeichnungen von Thekla Crescentia Sedlmaier), anderes eher amüsant (so die Hypothese, in einer Steinperle eine Hand-Abkühlungs-Kugel für feuchte Damen-Hände vorliegen zu haben), wird zugleich leider auch deutlich, wie schnell nationalistische und rassistische Interpretationen schon im 19. Jahrhundert in die Deutungen eindrangen und damit verheerenden Entwicklungen im 20. Jahrhundert den Boden bereiteten.

Christian Later nimmt unter der Überschrift Zwischen Afra und Wikterp das Christentum sowohl in der Spätantike als auch im Frühmittelalter in den Blick und deckt dabei ein beachtlich weites Themenfeld von Artefakten mit christlicher Symbolik über Klerikergräber bis hin zu Kirchenbauten in der Stadt wie auf dem Land ab. In der Zusammenschau mit dem ersten Aufsatz des Buchs zeigt sich aber eine der Tücken von Bänden mit vielen Mitwirkenden, nämlich, dass Überschneidungen und Wiederholungen, über die man bei einer kontinuierlichen Lektüre des Buchs stolpert, sich nicht vermeiden lassen (wenn hier auf S. 47 in leicht veränderter Größe noch einmal dieselbe Abbildung einer Glasschale des 4. Jahrhunderts, die Adam und Eva am Baum der Erkenntnis zeigt, wie auf S. 21 auftaucht).

Die Gräber des frühen Mittelalters im Lechtal sind das Thema von Stephanie Zintl, die erst einmal das Phänomen der für die Frühmittelalterarchäologie so wichtigen Reihengräberfelder überregional umreißt, um sich dann noch einmal mit dem weiter oben im Buch schon unter forschungshistorischer Perspektive betrachteten Nordendorf und weiteren Fundorten zu befassen. Dabei zeigt sie auf, dass – wie in der Forschung der letzten Jahre auch anderswo betont – die Wissenschaft heute das häufige Phänomen schon zeitgenössisch wieder geöffneter Gräber weniger pauschal als „Grabraub“ verbucht, als das über lange Zeit geschehen ist, weil von Fall zu Fall auch andere Motive als eine schlichte Bereicherungsabsichten dahintergestanden haben mögen.

Besondere Gräber behandelt Anja Gairhos, nämlich die sogenannten „Separatfriedhöfe“, die bisher oft als gesonderte Bestattungsplätze einer Elite interpretiert wurden, die ab dem späten 6. Jahrhundert ihre Toten nicht mehr wie bisher inmitten der allgemeinen Reihengräberfelder beisetzte. Doch so einfach ist der Fall vielleicht gar nicht, und so versucht Gairhos an verschiedenen Beispielen für kleinere Friedhöfe auszuloten, was diese ausgemacht haben könnte und ob wirklich immer eine gezielte Abgrenzung vom Rest der Gesellschaft vorlag.

Einen speziellen Grabfund beleuchtet ein zweiter Beitrag von Stephanie Zintl, nämlich Eine Kriegerdarstellung aus Rain am Lech, die sich auf Pressblechen an Riemenzungen aus einem Frauengrab findet – ein ungewöhnliches Detail, da ikonographisch ähnlich anmutende Kriegerszenen (etwa auf der berühmten Trossinger Leier oder im skandinavischen Raum) zumeist von Gegenständen aus Männergräbern stammen. Interessant sind hier besonders die Überlegungen, inwieweit die Bildkomposition von byzantinischen Vorbildern inspiriert sein könnte.

Sehr kurz bleibt Stephanie Zintls dritter Text Der „Leipheimer Spieler“, der einen reizvollen Fund – ein Spielsteinset mit Würfel als Grabbeigabe eines mit Waffen besetzten Mannes – vorstellt und mit Vergleichbarem aus Gräbern in England und Italien in Beziehung setzt, aber letztlich nur die Seltenheit der Beigabe konstatiert, ohne sich an einer Interpretation zu versuchen, was es damit auf sich haben mag.

Statt der Gräber steht die Welt der Lebenden In der Stadt und auf dem Land bei Volker Babucke im Vordergrund, denn hier geht es um die unterschiedlichen für das Lechtal dokumentierten Siedlungen des Frühmittelalters, von denen manche später komplett aufgelassen wurden, während anderswo – etwa in Augsburg – Kontinuität bis heute besteht. Eine gewisse wirtschaftliche Spezialisierung belegt ein offenbar auf die Weberei konzentriertes Dorf bei Wehringen.

Dies passt recht gut zum folgenden Beitrag, in dem Frühmittelalterlicher Eisenerzbergbau im unteren Lechtal von Bernd Päffgen und Martin dargestellt wird, ist hier doch nicht nur von einer regelrechten Bergbausiedlung westlich von Aichach die Rede, sondern auch eine andere Einschätzung der Befunde von Wehringen, die hier allgemeiner als Handwerkersiedlung (und nicht, wie im vorhergehenden Beitrag, primär als Weberdorf) angesprochen werden, da es offenbar auch eine recht umfangreiche Eisenverarbeitung gab. Die Informationen zu Bergbautechniken und wirtschaftlicher Organisation im Frühmittelalter sind auf alle Fälle lesenswert, leider ist aber eine Grabinschrift, die als Indiz für einen Eisenerzabbau im Lechtal schon in der Römerzeit angesprochen wird, teilweise falsch übersetzt (wenn auch nicht an einer für das Hauptthema des Artikels relevanten Stelle).1

In den Bereich von Wirtschaft und Technik führt auch der letzte Aufsatz: Kristina Seitz und Julia Weidemüller schreiben hier detailliert und leicht verständlich über Frühmittelalterliche Wassermühlen im Paartal und stellen insbesondere die Mühle von Aichach-Oberbernbach, die sich samt Wasserzuleitungssystem vollständig rekonstruieren lässt, mit vielen Grabungsfotos anschaulich vor.

Gerade dass hier neben den Bücher zum Frühmittelalter oft stark dominierenden Grabfunden auch Siedlungsarchäologie und Wirtschaftsgeschichte ein gewisser Raum gegeben wird, macht den Band zu einer Entdeckung für alle an der Epoche Interessierten. Was ihm allerdings fehlt, ist eine Übersichtskarte, aus der die Lage der verschiedenen Fundorte hervorgeht (das geologische Blockprofil auf S. 119 ist der einzige Ansatz dazu). Vielleicht war bei der Ausstellung eher mit einem regionalen Publikum gerechnet, so dass man glaubte, auf diese Handreichung verzichten zu können, aber für eine Leserschaft abseits des Lechtals ist nicht jeder Ortsname spontan einzuordnen, und so wäre es schön gewesen, hier eine Hilfestellung zu bekommen. Für diesen kleinen Mangel entschädigen die schönen Fundfotos und die von Roger Mayrock erstellten Rekonstruktionszeichnungen jedoch voll und ganz.

 Alice Arnold-Becker, Volker Babucke, Ursula Ibler (Hrsg.): Zwischen Baiern und Schwaben. Das Lechtal im frühen Mittelalter. Friedberg, Likias Verlag, 2023, 160 Seiten.
ISBN: 978-3-949257-16-2

  1. Wenn Iulia Sperata coniugi carissimo auf dem Sarkophag eine Grabinschrift setzen lässt, dann tut sie das nicht „als liebste Ehefrau“ (so die Autoren), sondern vielmehr „dem liebsten Ehemann“ (oder, wenn man hier lieber einen Elativ als einen Superlativ vermuten möchte, „dem heißgeliebten Ehemann“), da coniunx als Bezeichnung für den Ehepartner geschlechtsneutral verwendet werden kann und der Dativ sowie die maskuline Form des Adjektivs darauf hindeuten, dass hier der Mann, Publius Frontinus Decoratus, gemeint ist.

Genre: Geschichte

Kulturenstreit

Die Begleitbände zur Dauerausstellung des Landesmuseums für Vorgeschichte in Halle präsentieren einerseits in prächtigen Fotos die archäologischen Funde, die man im Museum im Original bewundern kann, können andererseits aber auch als kompakte Einführungen in die jeweils behandelte Epoche dienen. Mit der neuesten Veröffentlichung Kulturenstreit nehmen sich Arnold Muhl und Ralf Schwarz des Themas Frühmittelalter zwischen Harz und Elbe (so der Untertitel) an.

Nach dem Ende des bereits in einem eigenen Band der Reihe vorgestellten Thüringerreichs waren die Verhältnisse auf dem Gebiet des heutigen Sachsen-Anhalt lange Zeit kulturell und religiös durchaus divers: Die Koexistenz von Sachsen, Slawen, Thüringern und Franken war nicht immer unbedingt friedlich, und pagane Überzeugungen hielten sich noch eine ganze Weile in Konkurrenz zu und neben dem erstarkenden Christentum. Eine bewegte Epoche voller Konflikte also, deren Abschluss die Autoren erst in der Thronbesteigung Heinrichs I. sehen, dessen Herrschaft eine Stabilisierung des Königreichs und den Übergang zu dem, was man landläufig unter „Mittelalter“ versteht, begründet habe.

Um die vorher doch recht heterogene Situation abzubilden, ist das Buch nach verschiedenen kulturellen Gruppen geordnet, die in der Region eine Rolle spielten, mögen sich auch manche, wie etwa die Awaren, nicht dauerhaft dort etabliert haben. Nach einer kurzen Einführung in den insbesondere für den Schmuck der Zeit so prägenden Tierstil folgen daher Kapitel zu Langobarden, Sachsen, „Nordleuten“ (Skandinaviern), Awaren, Slawen, Thüringern und Franken, während zum Abschluss unter der Überschrift Geeintes Königreich ein kurzer Ausblick auf die einsetzende ottonische Epoche geboten wird. Obwohl aufgrund der Vielzahl der verschiedenen betrachteten Aspekte und der Dominanz der Bildanteile die jeweiligen Texte relativ kurz ausfallen, referieren sie doch nicht nur Bekanntes, sondern räumen auch mit Vorurteilen auf. So erfährt man z. B. im Sachsenkapitel, dass Spuren von vermeintlichem Grabraub nicht immer auf kriminelle Aktivitäten hindeuten müssen, sondern die Forschung heute davon ausgeht, dass oft auch nur Angehörige der Verstorbenen die Gräber wieder öffneten, um bestimmte Gegenstände an sich zu nehmen (ein Vorgehen, das einen spontan an einzelne Passagen aus den natürlich erst ab dem Hochmittelalter entstandenen altnordischen Sagas erinnert, in denen es auch vorkommt, dass Nachkommen sich an den Grabhügeln von Eltern oder ferneren Vorfahren bedienen).

Den Hauptreiz des Buchs macht aber die Überfülle von Abbildungen der Fundstücke aus, von Grabinventaren aller Art über Spektakuläres wie den Reiterstein von Hornhausen bis hin zu einem Feuerstahl mit witziger Inschrift in der Tauschierung. Für zusätzliche Auflockerung sorgen die anschaulichen Rekonstruktionen des Künstlers Karol Schauer, aber hier und da auch Wiedergaben historischer Dokumente, so etwa der aus heutiger Sicht durchaus amüsanten bildlichen Darstellung einer Taufe aus einer mittelalterlichen Handschrift (es wird netterweise ein Handtuch bereitgehalten, damit der Täufling sich nach erfolgter Eintauchung auch abtrocknen kann). Die Abbildungsnachweise sind dabei durchgehend gut und gründlich, so dass alle, die nicht nur Freude an den hübschen Illustrationen haben, sondern sich aus tiefergehendem oder gar fachlichem Interesse mit ihnen auseinandersetzen, die Möglichkeit haben, dem jeweiligen Ursprung nachzuspüren.

In den Text sind, wie aus früheren Bänden gewohnt, auch immer wieder ausführliche Quellenzitate eingebunden, teilweise nur in Übersetzung, im Einzelfall (so beim Altsächsischen Taufgelöbnis) allerdings zusätzlich auch in Originalsprache. Die direkte Konfrontation mit dem vorgestellten Zeitalter wird dem Lesepublikum also nicht nur über die Funde, sondern in kleinen Auszügen auch durch die Schriftquellen ermöglicht, was zu dem Eindruck von Greifbarkeit und Unmittelbarkeit, der die ganze Reihe prägt, entscheidend beiträgt. Wer einen ersten Einblick in eine Region an der Peripherie des Frankenreichs erhaschen oder seine Kenntnisse vertiefen möchte, ist daher mit dem Kulturenstreit gut beraten.

Arnold Muhl, Ralf Schwarz: Kulturenstreit. Frühmittelalter zwischen Harz und Elbe. Hrsg. von Harald Meller. Begleithefte zur Dauerausstellung im Landesmuseum für Vorgeschichte Halle Bd. 9. Halle, Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt, 2023, 256 Seiten.
ISBN: 978-3-948618-57-5

 


Genre: Geschichte

THE hidden LÄND

In einer archäologischen Ausstellung ein ganzes Jahrtausend abzudecken und das Publikum von der Römerzeit bis kurz vor die Schwelle zum Hochmittelalter zu führen, ist keine ganz einfache Aufgabe. THE hidden LÄND. Wir im ersten Jahrtausend, die diesjährige Landesausstellung in Baden-Württemberg, stellt sich ihr, indem sie jeweils einen von fünf besonderen Fundplätzen exemplarisch eine bestimmte Epoche und einen mit ihr assoziierten Oberbegriff vertreten lässt – eine Gliederung, die sich auch in dem üppig bebilderten, lesenswerten Begleitband niederschlägt.

Alle Kapitel folgen dabei in ihrem Aufbau dem gleichen Schema: Nach einem einführenden Beitrag, der einen kompakten ereignis- und kulturhistorischen Überblick über jeweils zwei zusammen betrachtete Jahrhunderte bietet, wird im nächsten Text der beispielhaft hervorgehobene Fundort vorgestellt, während sich im Anschluss daran Artikel wechselnden Umfangs vertiefend weiteren Funden aus der jeweiligen Epoche, aber auch wissenschaftlichen Arbeitsmethoden (von archäologischer Prospektion bis hin zu molekulargenetischen Untersuchungen) oder geschichtsphilosophischen Überlegungen (so zum Begriff der Völkerwanderungszeit und der damit verknüpften modernen Mythenbildung) widmen.

Aufgrund der hohen Anzahl der von verschiedenen Forschenden verfassten, oft nur sehr kurzen Einzelbeiträge würde eine detaillierte Besprechung Aufsatz für Aufsatz den Rahmen dieser Rezension sprengen; ich beschränke mich daher auf eine Vorstellung der einzelnen Kapitel.

Unter dem Schlagwort Integration steigt man ins 1. und 2. Jahrhundert ein, eine Epoche, in der im Zuge der Etablierung der römischen Herrschaft in Südwestdeutschland Menschen unterschiedlichster geographischer Herkunft dort eine neue Heimat fanden. Der hier zugeordnete Fundort ist Diersheim, wo zahlreiche germanische Brandgräber entdeckt wurden. Obwohl die zeitgenössische (Eigen-)Bezeichnung der dort Bestatteten für uns nicht mehr fassbar ist, könnte es sich um Sueben gehandelt haben. Die bewusst zerstörten Grabbeigaben verraten dabei enge kulturelle Kontakte zur römischen Welt, umfassen aber durchaus auch Kuriosa (etwa einen zu dem Zeitpunkt, als er einem Mann im 1. Jahrhundert mit ins Grab gelegt wurde, schon antiken keltischen Schlüssel). Herausragend unter den in diesem Kapitel behandelten weiteren Funden sind ein in einem germanischen Grab im ukrainischen Kariv entdeckter Bronzekessel, an dem als Verzierung drei Männer mit sogenanntem Suebenknoten dargestellt sind, und das römische Prunkportal von Ladenburg, das sich aus den als Hortfund erhaltenen Türbeschlägen rekonstruieren lässt, unter denen die als Türgriffe dienenden „Seeleoparden“ (nicht identisch mit den gleichnamigen Robben, sondern Mischwesen aus Raubkatze und Fisch) sicher die außergewöhnlichsten sind.

3. und 4. Jahrhundert stehen unter dem Oberbegriff Migration und rücken den vicus Güglingen als Fundort in den Mittelpunkt, an dem sich der tiefgreifende gesellschaftliche Wandel von der römischen Reichskrise des 3. Jahrhunderts bis zu den frühen Alamannen gut zeigen lässt: In den wildbewegten Zeiten änderten sich die Siedlungsstruktur und die kulturelle Identität der Menschen vor Ort beträchtlich, obwohl, anders als an anderen Fundstätten, nichts auf eine Zerstörung des vicus samt Ermordung seiner Bewohner bei den Plünderungszügen des 3. Jahrhunderts hindeutet. Weitere interessante Beiträge dieses Kapitels befassen sich mit archäobiologischer Forschung (die Veränderungen von Ackerbau, Viehzucht und sonstiger Tierhaltung zwischen römischer und alamannischer Zeit greifbar macht) und mit einem Grabstein aus Bad Cannstatt für zwei Kataphrakten (Panzerreiter), deren Herkunft aus dem Osten des römischen Reichs die hohe Mobilität von Individuen eindrucksvoll verdeutlicht.

Kommunikation ist das Schlagwort für das 5. und 6. Jahrhundert. Eine Form von Kommunikation ist ohne Zweifel die im Rahmen von Bestattungsbräuchen betriebene Repräsentation, und so überrascht es nicht, dass hier mit dem überregional bekannten alamannischen Gräberfeld von Lauchheim ein Fundort im Vordergrund steht, an dem sich an Grabbeigaben des Frühmittelalters viel darüber ablesen lässt, durch welche Gegenstände soziale Rollen und Hierarchien noch im Tod abgebildet wurden. Darüber hinaus spielen in diesem Kapitel aber auch anthropologische Untersuchungen eine große Rolle, so etwa zu den Bestatteten des Gräberfelds von Niederstotzingen, deren Verwandtschaftsverhältnisse sich dank DNA-Untersuchungen nachzeichnen lassen. Prunkstück unter den präsentierten Einzelfunden ist sicher die unbeschreiblich gut erhaltene, aus dem 6. Jahrhundert stammende Leier von Trossingen mit ihren kunstvoll geschnitzten Verzierungen, die dank einer Umzeichnung bis ins Detail zu erkennen sind.

Spielten Glaubensüberzeugungen (etwa durch Verweise auf Mithräen, Jupitergigantensäulen oder Verstorbenen mitgegebene Goldblattkreuze) schon in den vorherigen Kapiteln hier und da eine Rolle, wird Spiritualität zum Oberthema für den dem 7. und 8. Jahrhundert gewidmeten Abschnitt. Die Christianisierung als entscheidende Weichenstellung für die folgenden Jahrhunderte wird durch die Sülchenkirche von Rottenburg am Neckar bzw. eigentlich durch deren bei Sanierungsmaßnahmen zufällig entdeckten Vorgängerbau aus dem 7. bis 8. Jahrhundert repräsentiert. Mit der Hinwendung zum Christentum ging auch ein allmählicher Wandel der Bestattungsbräuche einher, der hier in verschiedenen Beiträgen differenziert nachgezeichnet wird. Das interessanteste besprochene Fundstück ist aber kein religiöses, sondern eine prunkvolle, mit einer Runeninschrift ausgestattete Fibel aus Neudingen, die zwar wahrscheinlich im Oberrheingebiet gefertigt wurde, aber künstlerische Einflüsse aus verschiedenen Regionen aufweist.

Haben die jeweils (zumindest lokal oder regional) Mächtigen einer Zeit auch schon bisher immer wieder Erwähnung gefunden, wird Herrschaft zum zentralen Thema des abschließenden, mit dem 9. und 10. Jahrhundert befassten Kapitels, in dem die Herausbildung des Herzogtums Schwaben und der Verfestigung einer für das Mittelalter prägenden Ständegliederung betont werden. Hier rückt Ulm, das in dieser Zeit als Zentralort und Königspfalz an Bedeutung gewann, in den Fokus, aber es fließt auch mit ein, was zum Machtaufbau und -erhalt beitrug (z. B. die in Dettingen unter Teck nachweisbare Eisenverhüttung). Einzelne Beiträge greifen dabei auch über die engen Grenzen des festgelegten Zeitraums hinaus, so etwa der über Schwerter und der über Ringe (jeweils über Jahrhunderte bedeutsame Statussymbole, über die sich diachron mehr aussagen lässt, als wenn man nur einen sehr kurzen Zeitabschnitt betrachtet). Den Kontrapunkt zu dieser Konzentration auf die Eliten bilden anthropologische Untersuchungen an den sterblichen Überresten der ländlichen Bevölkerung, die oft kein leichtes Leben hatte.

Insgesamt entsteht so ein vielschichtiges und reizvoll die Balance zwischen Einzelbetrachtungen und übergeordneten Aspekten wahrendes Bild der Entwicklung Südwestdeutschlands im ersten Jahrtausend unserer Zeitrechnung. Ein rundum gelungener und empfehlenswerter Ausstellungsbegleitband also? Nicht ganz, denn trotz aller unbestreitbaren Qualitäten gibt es doch einen Wermutstropfen.

Dieser in meinen Augen durchaus gewichtige Minuspunkt ist das eine unzureichend frisierte, misstrauisch dreinsehende Gestalt im trist gefärbten Umhang, die ihren Goldring zur Schau stellt, in Szene setzende Titelbild, das laut Angaben des Archäologischen Landesmuseums Baden-Württemberg im sozialen Netzwerk Bluesky mithilfe der Agentur Jung von Matt mittels KI generiert ist. Angesichts der Fülle gelungener Fundfotos im Buch (darunter übrigens auch eines von dem Ring, der für den KI-generierten Pate gestanden hat, S. 264), die prächtige Covermotive abgegeben hätten, bin ich doch ein wenig traurig und enttäuscht, dass die für die Gestaltung Verantwortlichen nicht lieber darauf zurückgegriffen haben. Aber auch abseits aller ethischen Fragen, die das Thema KI aufwirft, erschließt sich mir nicht ganz, warum man, wenn man schon diese Form der Bilderzeugung wählt, damit auch noch ausgerechnet ein Motiv herstellt, das bis zu einem gewissen Grade das Klischee von Ungepflegtheit und Wildheit in den vermeintlichen „Dark Ages“ Europas reproduziert. Dieses Buch, das inhaltlich einiges zu bieten hat und immer wieder auch mit Vorurteilen aufzuräumen versucht, hätte Besseres verdient gehabt.

Gabriele Graenert, K. Felix Hillgruber (Konzeption): THE hidden LÄND. Wir im ersten Jahrtausend. Hrsg. von Archäologischen Landesmuseum Baden-Württemberg und dem Landesamt für Denkmalpflege im Regierungspräsidium Stuttgart. Oppenheim am Rhein, Nünnerich-Asmus, 2024, 288 Seiten.
ISBN: 978-2-96176-251-4


Genre: Geschichte, Kunst und Kultur

Königsdämmerung

Das hier rezensierte Buch ist Teil einer Reihe. Ein weiterer Band ist auf Ardeija.de bereits hier besprochen worden.

Die Begleithefte zur Dauerausstellung im Landesmuseum für Vorgeschichte in Halle bieten nicht nur schöne Abbildungen der dort aufbewahrten Funde, sondern sind zugleich auch kleine, kompakte Einführungen in die jeweils vorgestellte Epoche. Der Band Königsdämmerung, in dem Arnold Muhl und Ralf Schwarz sich mit dem kurzlebigen Thüringerreich des Frühmittelalters befassen, bildet da keine Ausnahme.

Nur etwa 80 Jahre oder zwei Königsgenerationen lang, bis zur Eroberung durch die Franken im Jahre 531, bestand das Reich der Thüringer, war aber während seiner Existenz nicht nur durch kriegerische Aktionen, sondern auch durch Migration sowie zahlreiche kulturelle und diplomatische Kontakte in die  Welt seiner Zeit eingebunden, wie vor allem reich mit Beigaben versehene Bestattungen belegen, von denen eine aus dem Ort Stößen mit prächtigem Spangenhelm hier sogar als die des Berthachar, der im 6. Jahrhundert ein thüringisches Teilkönigreich beherrschte, angesprochen wird.

Mag es auch keine letztgültigen Belege für diese Identifizierung geben, ist sie natürlich attraktiv, aber auch abgesehen davon beeindrucken an dem Band vor allem die edel auf schwarzem Hintergrund präsentierten Fundfotos. Eine besondere Rolle spielen dabei die gerade für die Frauentracht bedeutenden und auch als Zugehörigkeits- und Abstammungssymbole genutzten Fibeln, die in großer Auswahl gezeigt werden. Neben diesem prachtvollen Schmuck aus den Gräbern der Oberschicht treten Funde, die Aussagen über das Alltagsleben gestatten, etwas in den Hintergrund, aber es sind auch Gefäße, Kämme, Gegenstände aus dem Bereich der Textilherstellung (wie Spinnwirteln oder Webschwerter), Waffen und Amulettanhänger, die etwas über die Glaubensvorstellungen, bei denen sowohl Paganes als auch Christliches fassbar ist, verraten, im Buch vertreten.

In die Darstellung eingebettet sind immer wieder auch Auszüge aus den Schriftquellen, über denen sich etwas über das Thüringerreich erschließen lässt. Teilweise geschieht das sehr effektvoll. Die Entscheidung, den Band mit Auszügen aus den Klageliedern enden zu lassen, die Venantius Fortunatus aus Perspektive der im Zuge der Eroberung verschleppten und zur Heirat mit dem fränkischen König Chlothar gezwungenen Thüringerprinzessin Radegunde, deren Vertrauter er war, verfasste, macht eindringlich deutlich, wie sehr mit den unruhigen Zeiten der fränkischen Expansion individuelles und kollektives menschliches Leid verbunden war.

Amüsant ist dagegen, dass ein zweimal zitierter Brief des Ostgotenkönigs Theoderich anlässlich der Heirat seiner Nichte Amalaberga mit dem Thüringerkönig Herminafried in zwei sehr verschiedenen Übersetzungen bemüht wird (S. 11 und S. 83, leider ohne direkte Quellenangabe, um welche es sich jeweils handelt – hier muss man angesichts des Literaturverzeichnisses raten). Das hat zwar den Vorteil, erkennbar werden zu lassen, wie viel Interpretation in den Übertragungen historischer Quellen in moderne Sprachen steckt und welche Deutungsspielräume sie daher auch zulassen, überrascht aber in einem an ein allgemeines Publikum gerichteten, eher zur niedrigschwelligen Einführung in das Thema gedachten Werk dann doch.

Von dieser kleinen Merkwürdigkeit abgesehen, bietet Königsdämmerung einen gelungenen Einstieg in die Beschäftigung mit einem frühmittelalterlichen Gemeinwesen, das oft nicht so im Fokus des Interesses steht wie die zeitgleichen gotischen und fränkischen Reichsbildungen.

Arnold Muhl, Ralf Schwarz: Königsdämmerung. Das frühmittelalterliche Thüringerreich. Hrsg. von Harald Meller. Begleithefte zur Dauerausstellung im Landesmuseum für Vorgeschichte Halle Bd. 8. Halle, Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt, 2022, 128 Seiten.
ISBN: 978-3-948618-50-6


Genre: Geschichte

Frühe Kulturen der Ägäis (Band 2)

Das hier rezensierte Buch ist der zweite Band eines zweiteiligen Werks. Die Besprechung von Band 1 ist hier zu finden.

Im zweiten Band seiner Frühen Kulturen der Ägäis konzentriert sich Klaus Tausend auf das mykenische Griechenland, das, wie er in der Einleitung erläutert, auch seinen Forschungsschwerpunkt darstellt (wobei ihn politische und militärhistorische Fragen besonders beschäftigen, was sich auch in der Gewichtung bestimmter Themen im Buch niederschlägt, aber dazu später mehr).

Aufgeteilt ist der Band in zwei große Oberkapitel, deren erstes sich der Ereignisgeschichte widmet, während das zweite Gesellschaft, Wirtschaft, Kultur der mykenischen Zeit darstellt. Sich den mykenischen Griechen aus ereignishistorischer Perspektive zu nähern, ist dabei kein einfaches Unterfangen, da sie mit Linear B zwar eine Schrift hatten, diese aber – soweit bisher bekannt – ausschließlich zu Verwaltungszwecken nutzten (anders als in anderen Kulturen ihrer Epoche gab es noch nicht einmal Inschriften, die herrscherlicher Repräsentation oder religiösen Zwecken gedient hätten). Erzählende Quellen existieren daher bestenfalls im Ansatz und immer nur in den Fällen, in denen mykenische Akteure etwa mit Hethitern oder Ägyptern in Kontakt (und nicht selten auch Konflikt) gerieten. Das Wenige, was daraus zu entnehmen ist, mit den weit umfangreicheren archäologischen Funden unter einen Hut zu bringen, erfordert Interpretationen, die auch spekulative Elemente beinhalten können, und so gibt Tausend hier immer wieder ausführlicher als im ersten Band auch Forschungsdebatten wieder (etwa zu der Frage, wie umfangreich man sich das in hethitischen Dokumenten mit Ahhijawa bezeichnete Gebiet vorzustellen hat und wo es zu lokalisieren ist – hier reicht die Bandbreite von Deutungen von einem örtlich relativ eng begrenzten Herrschaftsraum, der an unterschiedlichsten Stellen vermutet wird, bis hin zum kompletten mykenischen Griechenland).

Im Gesellschaft, Wirtschaft, Kultur beleuchtenden zweiten Teil des Buchs werden nicht nur die erhaltenen Gebäudereste sowie Kunstwerke und das, was man über Wirtschafts- und Gesellschaftsstruktur der mykenischen Welt rekonstruieren kann, vorgestellt, sondern auch immer wieder Kontinuitäten zu der in ihren Einzelheiten besser überlieferten griechischen Welt ab der archaischen Zeit deutlich, etwa, was bestimmte Götternamen betrifft, die schon hier in der Bronzezeit belegt sind. Den Forschungsinteressen des Verfassers entsprechend, erhalten auch Militär und Kriegsführung ein eigenes Unterkapitel, während andere Bereiche eher kursorisch gestreift werden (so erfährt man beispielsweise sehr wenig über die Rolle von Frauen, die nur als Priesterinnen und als im Krieg verschleppte, möglicherweise versklavte Arbeitskräfte kurz auftauchen).

Wie schon beim ersten Band hat man an einzelnen Stellen das Gefühl, dass noch ein Korrekturdurchgang mehr nicht hätte schaden können (so fällt z. B. auf, dass das sogenannte „Schatzhaus des Atreus“, ein nach der Sagengestalt Atreus benanntes Grab bei Mykene, hier durchgängig „Schatzhaus des Artreus“ geschrieben wird). Insgesamt aber bildet dieser zweite Band der Frühen Kulturen der Ägäis einen interessanten und nicht viel Vorwissen voraussetzenden Einstieg in die mykenische Welt, der zahlreiche Abbildungen (wie Kartenmaterial und Fundfotos) bietet und, anders als die Einführung zum selben Thema von Deger-Jalkotzy und Hertel, aus einem Guss und dadurch eingängiger lesbar ist.

Klaus Tausend: Frühe Kulturen der Ägäis. Band 2: Das Zeitalter der homerischen Helden. Stuttgart, Kohlhammer, 2024, 236 Seiten.
ISBN: 978-3-17-040950-7


Genre: Geschichte

Triumvirat

Im Jahr 60 v. Chr. zählten Caesar, Pompeius und Crassus zu den ehrgeizigsten römischen Politikern, doch allein oder gar gegeneinander konnten sie ihre jeweiligen Ziele nicht erreichen. Unter Federführung Caesars schlossen sie sich daher zu einem Zweckbündnis zusammen, das als erstes Triumvirat in die Geschichte eingehen sollte. Der Altphilologe Markus Schauer zeichnet in seinem lesenswerten Buch Triumvirat nach, wie es zu dieser bemerkenswerten Konstellation kommen konnte und wie letztlich dennoch jeder Einzelne der drei mit seinen Ambitionen scheiterte (wenn auch Caesar immerhin der postumen Triumph vergönnt war, sich mit Augustus einen Erben ausgesucht zu haben, der auf lange Sicht erfolgreicher agierte).

Eingebettet sind die drei ineinander verflochtenen Biographien in eine Geschichte der späten römischen Republik, die der Bezugsrahmen war, in dem Karrieren wie die der Triumvirn sich abspielen konnten, obwohl sie letztlich dazu beitrugen, das bestehende System in den Untergang zu treiben und den Boden für die Kaiserzeit zu bereiten. Schauer sieht als treibende Kraft hinter dieser Entwicklung neben dem individuellen Machtstreben, das sich nicht nur aus einem aristokratischen Selbstverständnis, sondern durchaus auch aus der Orientierung an literarischen und historischen Vorbildern wie den homerischen Helden und Alexander dem Großen speiste, nicht zuletzt auch die Tatsache, dass der ohnehin nicht im modernen Sinne demokratischen Gesellschaft Roms spätestens seit den Gracchen der Konsens darüber verloren gegangen war, wie politische Entscheidungen gefällt werden sollten. Diese Unsicherheit nur auf den bekannten Gegensatz zwischen Popularen und Optimaten zu reduzieren, würde zu kurz greifen, da neben die althergebrachte Legitimation durch Volksversammlung und Senat auch immer stärker die durch militärische Macht drängte, erfolgreiche Feldherren mithin auch abseits der oder zusätzlich zur gängigen Ämterlaufbahn Einfluss anhäufen konnten.

Könnte man diese Informationen noch so oder so ähnlich auch in anderen Darstellungen finden, ist die Art, wie hier die Geschichte des Triumvirats und seiner drei Mitglieder erzählt wird, bemerkenswert und vielleicht nicht zuletzt der Tatsache geschuldet, dass der Autor eben kein typischer Historiker ist, sondern von Haus aus Literaturwissenschaftler, der als Deutender wie als Verfasser sehr bewusst mit Texten und ihren Feinheiten umgeht. Denn Schauer nimmt nicht nur die antiken Historiker und ihre Einschätzungen des Geschehens ernst, sondern bedient sich auch selbst eines in gewisser Weise bei ihnen entlehnten Kunstgriffs: Legten sie ihren Protagonisten oft fiktive Reden in den Mund, die so nie gehalten wurden, aber doch treffend Persönlichkeiten zu charakterisieren und Situationen zu verlebendigen vermochten, ist es bei Schauer an exponierter Stelle fiktive erlebte Rede, die einen Blick in die Gedankenwelt von Pompeius, Crassus und vor allem Caesar – nicht wie sie war, aber wie sie sehr wohl hätte sein können – gestattet. Ist man eher trockene historische Darstellungen gewohnt, mag das Stilmittel zunächst irritieren, aber gerade dadurch kann es als interessanter Denkanstoß dienen, der einem zudem bewusst macht, dass alle historische Forschung, auch wenn sie es nicht notwendigerweise so offen deutlich macht wie Schauer hier, immer auch Interpretation beinhaltet.

Es lohnt sich also, sich auf diese auf den ersten Blick ungewohnte, aber zugleich auch packende Art des Erzählens vom Ende der römischen Republik einzulassen. Die Lektüre ist auf jeden Fall ein Gewinn.

Markus Schauer: Triumvirat. Der Kampf um das Imperium Romanum. München. C.H. Beck, 2023, 432 Seiten.
ISBN: 978-3-406-80645-2

 


Genre: Biographie, Geschichte

Die Geheimnisse des Tibers

Die Entstehung und die historische Entwicklung Roms sind ohne den Tiber kaum vorstellbar. Dennoch wird der Fluss in Betrachtungen der Stadtgeschichte – ganz gleich ob nun auf die Antike oder auf Mittelalter und Neuzeit bezogen – oft eher stiefmütterlich als bloßes Beiwerk behandelt. Birgit Schönau dreht in ihrem lesenswerten Buch Die Geheimnisse des Tibers diese Perspektive konsequent um und erzählt mit dem Tiber als Zentrum von Rom und seinen Menschen.

Die Darstellung ist dabei nicht chronologisch, sondern thematisch gegliedert, und das ist in diesem Fall äußerst sinnvoll. Denn bevor man ihn im späten 19. Jahrhundert zum Hochwasserschutz mit hohen Mauern, denen viele historische Bauwerke geopfert wurden, einhegte und damit bis zu einem gewissen Grade auch aus der Stadt verbannte, spielte der Tiber seine verschiedenen durchaus widersprüchlichen Rollen oft jahrhundertelang, so dass der epochenübergreifende Ansatz bestimmte Aspekte weitaus deutlicher hervortreten lässt, als eine Erzählung in strikt zeitlicher Folge es könnte.

So erfährt man vom Tiber als Naturgewalt, die oft genug verheerende Überschwemmungen brachte, aber auch von seiner Funktion als Wasserspender und Abwasserentsorger zugleich sowie als Verkehrsweg für Waren und Reisende und als Mühlenantrieb. Klingt dies alles noch mehr oder minder typisch für Flüsse allgemein, erfuhr der Tiber aber auch durch die Kultur an seinen Ufern ganz spezielle Deutungen und Nutzungen. Religiös zunächst als paganer Flussgott verehrt, dann von dem Päpsten zu einer Art zweitem Jordan uminterpretiert, waren er und seine Umgebung gar nicht so erhaben, wie man angesichts dieser spirituellen Überhöhung annehmen könnte: In die Uferbereiche des Tibers lagerten die Mächtigen der Stadt auch marginalisierte und missliebige Personen aller Art aus, entstanden dort doch das Ghetto, in das man die Juden unter erbärmlichen Bedingungen einpferchte, Kranken-, Armen- und Waisenhäuser, aber auch Gefängnisse.

Vor diesem Hintergrund ist es dann kaum noch ein Wunder, dass nahe am Tiber auch immer wieder grausame Hinrichtungen und brutale (Lynch-)Morde stattfanden, gelegentlich auch gleich mit Entsorgung der Getöteten im Fluss. Im krassen Gegensatz dazu steht der Tiber als Ort des Vergnügens sowohl der Oberschicht, die in Antike wie Renaissance Paläste und Gärten in Tibernähe errichten ließ, als auch der kleinen Leute, die hier lange dem Badespaß frönten (womit es heute allerdings vorbei ist) und auch Treffpunkte zu Geselligkeit und Beziehungsanbahnung fanden.

Es überrascht nicht, dass ein derart allgegenwärtiger Fluss auch zu Kunst aller Art inspirierte und inspiriert, so dass Birgit Schönau dem Tiber „in Malerei, Literatur und Film“ abschließend noch ein ganz eigenes Kapitel widmet – unter besonderer Berücksichtigung von Pier Paolo Pasolini, dessen Wirken mit dem Tiber ebenso eng verknüpft ist wie sein bis heute nicht vollständig aufgeklärter Tod.

Obwohl also auch immer wieder mit klarem Blick Schattenseiten des Lebens in Rom einst und jetzt benannt werden, merkt man der Autorin ihre Begeisterung für den Tiber und seine Stadt deutlich an, und sie versteht sie in einem so gut lesbaren und unterhaltsamen Stil zu vermitteln, dass das Buch selbst ein wenig wie ein Fluss wirkt: mitreißend, gelegentlich auch zum tieferen Eintauchen einladend, aber vor allem immer in Bewegung und niemals langweilig.

Bild- und Kartenmaterial, eine Zeittafel der wichtigsten Ereignisse und ein Überblick über Roms Tiberbrücken, die gar nicht einmal so zahlreich sind, wie man annehmen könnte, runden den durch und durch empfehlenswerten Band ab und laden dazu ein, sich mit bestimmten angerissenen Themen noch ein bisschen tiefergehend zu befassen.

Birgit Schönau: Die Geheimnisse des Tibers. Rom und sein ewiger Fluss. München, C.H. Beck, 2023, 320 Seiten.
ISBN: 978-3-406-80837-1


Genre: Geschichte, Kunst und Kultur