Archive

#BOOK!

Die Psychotherapeutin und Schriftstellerin Klara, schwer traumatisiert nach einer Missbrauchserfahrung, und der aufstrebende Maler Golo, der den Lebenskünstler mimt, aber heimlich ganz und gar nicht damit abgeschlossen hat, dass er hartnäckig den Kontakt zu seinem Sohn aus einer gescheiterten Beziehung meidet, entwickeln auf Twitter Interesse füreinander. Beide nicht mehr blutjung und aus unterschiedlichen Gründen mit gewissen Bindungsschwierigkeiten, sind sie doch vom Onlineauftritt ihres jeweiligen Gegenübers und dem, was sie in die auf Social Media sichtbar werdenden Kunst- und Lebensbruchstücke hineininterpretieren, zutiefst fasziniert. Ein Gemälde, in das Golo Klaras wolfshafte Augen nach einer Fotovorlage zu bannen versucht, und eine Kurzgeschichte, in der Klara scharfsichtiger, als sie es selbst wissen kann, Golos Vergangenheit erahnt, vertiefen die Verstrickung der beiden ineinander halb gegen ihren Willen, und so bleibt es nicht bei einer reinen Social-Media-Bekanntschaft …

In ihrem neuen Roman stellt Annette van den Bergh eine ungewöhnliche Liebesgeschichte in den Mittelpunkt, in der – wie schon der Hashtag im Titel #BOOK! erahnen lässt – die sozialen Medien, insbesondere Twitter (vor der Umwandlung in X und allen damit einhergehenden Änderungen und Abwanderungsbewegungen), eine zentrale Rolle spielen.

Doch #BOOK! erzählt diese Geschichte nicht wie ein gewöhnlicher Roman, sondern in einem dissonanten Dreiklang aus zwei Ich-Erzähler-Perspektiven und einer allwissenden Erzählstimme, die außer Begebenheiten in der realen Welt auch immer wieder mythisch-symbolische um eine einsame Wölfin und einen Jäger (ohne Rotkäppchen) einflicht, in denen man Klara und Golo erkennen kann. Wiederholt kommt es nicht nur zur direkten Wendung an das Publikum, sondern auch zur nicht gerade konfliktfreien Interaktion zwischen der Erzählinstanz und den sich ihres Aufenthalts in einem Buch durchaus bisweilen bewussten Hauptfiguren. Mit viel Sprachwucht und Wortwitz, manchmal auch nicht ohne Augenzwinkern poetisch (wenn „[e]in zaubervoller Flamingo-Morgen“ über Berlin anbricht), entwickelt sich so eine über weite Strecken metafiktionale Fiktion voller intertextueller Spielereien, die nicht nur fremde Literatur von Eichendorff über Goethe bis Handke und im Übrigen auch immer wieder bildende Kunst anzitiert, sondern auch zahlreiche Bezüge zu den eigenen Werken der Autorin herstellt (so werden einzelne Titel Annette van den Berghs hier Klara als Verfasserin zugeschrieben, und die Kneipe, in der aus der Social-Media-Bekanntschaft eine reale wird, heißt in sachter Anlehnung an die Kurzgeschichtensammlung Lost Paradise „Lost Heaven“).

Das ist vielleicht auch insofern kein Wunder, als Klara und Golo beide ihren ersten Auftritt schon in dem Sammelband Sehnsucht hatten (die Kurzgeschichten, denen sie jeweils entstammen, sind allerdings auch in #BOOK! noch einmal als Bonustexte enthalten). Beide sind ebenso sperrige wie verletzliche Charaktere mit reichlich Ecken, Kanten und Widerhaken. Ein Hund, der zwar kein Pudel ist, aber Mephisto heißt, komplettiert das kleine Hauptfigurenensemble, um das noch weitere Gestalten kreisen, die ebenfalls alle ihre Ambivalenzen haben und – so ein Leitmotiv des Romans – in den meisten Fällen wie auch die ganze Welt in irgendeiner Form „kaputt“ sind.

Dass das auch für die sozialen Medien gilt, muss eigentlich kaum noch erwähnt werden. Sicher wird nicht allen gefallen, dass dabei auch und vor allem die progressive (Literatur-)Bubble aufs Korn genommen wird (und das nicht nur, weil Klara mit Anlauf ins Fettnäpfchen tritt, als sie aus ihrer Missbrauchserfahrung heraus eine Bemerkung über etwaige Penisse in einer Frauensauna macht und daraufhin von „Woken“ als transfeindlich geschmäht und – mindestens ebenso unwillkommen – von Rechten genau dafür gefeiert wird). Aber auch, wer hier vielleicht instinktiv erst einmal zurückscheut oder lediglich Provokation wittert, sollte weiterlesen und die geschilderten Beobachtungen ernst nehmen, denn gerade weil Klara und Golo keine vorbildhaften Gestalten sind, taugen sie und ihre Erlebnisse gut dazu, einem den Spiegel vorzuhalten, was das eigene Social-Media-Verhalten angeht, sei es nun, was leidlich Harmloses und Individuelles das Hineindeuten von (zu) vielem in ein „Like“ oder einen Kommentar betrifft, oder bezogen auf die größeren und oft fataleren Dynamiken, die sich innerhalb bestimmter Gruppen entwickeln können und auch und gerade unter denen, die sich für die Guten halten (oder auch nur als solche gerieren), nicht immer frei von Doppelmoral sind. Auf beiden Ebenen wird der Kampf um Deutungshoheit jedenfalls mit harten Bandagen geführt und die eigene Position verteidigt, sei es nun die (vermeintliche) moralische Überlegenheit oder auch nur die Stellung als arrivierter Künstler, der mit einer bloßen Selfpublisherin erst einmal nicht auf Augenhöhe verkehren (und schon gar nicht von ihr durchschaut werden) will.

Nicht alles davon schwappt ins reale Leben hinüber, in dem #Book! in Annette van den Berghs geliebtem Berlin seinen Abschluss findet, aber doch genug, um nachdenklich zu stimmen, und so ist der Roman nicht zuletzt auch einer voller Denkanstöße über die Verflechtungen und Irritationen zwischen der Alltagswirklichkeit und allem Künstlerischen, Künstlichen und manchmal auch Gekünsteltem, mag es nun klein wie ein Lidstrich bzw. ein pointierter Tweet oder doch wesentlich umfassender sein.

Annette van den Bergh: #BOOK! Ohne Ort, Selbstverlag, 2024, E-Book (PDF).
Ohne ISBN.

 

 


Genre: Roman

Ich, Hannibal

Hannibal plant, gegen Rom zu ziehen, will aber vorab noch den Rat eines Orakels einholen. Von der zu dem Zweck unternommenen Reise kehrt allerdings nur seine Frau Himilke ins Heerlager zurück und behauptet Unglaubliches: Hannibal, dessen Namen sie fortan selbst annimmt, habe sich im Kampf gegen ein nun unterworfenes Fabelwesen geopfert, um ihr einer Prophezeiung gemäß den Feldherrenposten zu überlassen. Die Geschichte erregt nicht nur bei der Führungsriege des Heeres, sondern auch bei Hannibals einstigem Mentor, dem griechischen Sklaven und Chronisten Sosylos, Verdacht, aber dass sie tatsächlich nicht so ganz stimmt, weiß bis auf die neue Hannibal zunächst nur eine: die alternde Bestienjägerin Tamenzut, die magische Kreaturen einfangen und in den Kriegsdienst der Menschen pressen kann. Dennoch oder gerade deshalb ist sie bereit, Hannibal zu unterstützen, und so beginnt ein denkwürdiger Feldzug, der den Beteiligten nicht nur körperlich einiges abverlangt. In Rom findet sich unterdessen die junge Fulvia als Witwe mit drei Stiefkindern so gut wie mittellos wieder, da Scipio, der intrigante Neffe ihres verstorbenen Mannes, der kleinen Familie das Erbe streitig macht. Um ihren Rechtsanwalt bezahlen zu können, ist sie zähneknirschend bereit, sogar sich selbst zu verkaufen, und gerät so über eine Bordellwirtin mit dem sprechenden Namen Ebriete an den Iberer Caras und damit an eine ganz andere Aufgabe, als sie zunächst geplant hat: Spionage …

Ich, Hannibal, der neueste Fantasyroman von Judith und Christian Vogt, greift mit dem Zug Hannibals gegen Rom zwar ein bekanntes geschichtliches Ereignis auf, stellt aber schon von den ersten Sätzen an klar, dass man es nicht mit einem historischen Roman, sondern mit waschechter Fantasy zu tun hat (auch wenn die schöne Landkarte von C. F. Srebalus erst einmal die reale Mittelmeerwelt als Handlungsort suggeriert). Denn abgesehen davon, dass die Ausgangslage durch den frühen Tod des ursprünglichen Hannibal ein gutes Stück von ihrem echten Vorbild abweicht und auch der Verlauf der Ereignisse trotz mancher Parallelen zur Realität eigenen Regeln gehorcht, spielen hier von Anfang an der antiken Mythologie entsprungene oder eng an sie angelehnte Monster eine Rolle (von bekannten wie dem Minotaurus bis zu entlegeneren wie dem Leucrocotta). Sie zu beherrschen, bedeutet zugleich auch Macht über Menschen und damit ein Schlupfloch für die von politischen und militärischen Ämtern eigentlich ferngehaltenen Frauen, sich Positionen zu erobern, die ihnen ohne den Zugriff auf die geheimnisvollen Geschöpfe verschlossen bleiben müssten (was allerdings auch seine Schattenseiten hat – dazu unten mehr). Nicht ohne Grund ist Hannibals mystische Bindung an ein Zyklopenelefantenweibchen (hinter dem man eine Anspielung auf die Forschungsmeinung vermuten darf, dass Fossilien prähistorischer Elefantenarten die Zyklopensagen inspiriert haben) eines der bestimmenden Elemente der Handlung.

Der Titel allerdings trügt ein wenig, denn die neue Hannibal ist keine Ich-Erzählerin, sondern zunächst einmal eine schwer fassbare Gestalt, die sich nicht nur physisch meist hinter einer Maske verbirgt und oft genug auch den Perspektivfiguren ein Rätsel bleibt, aber mit List und Tücke als Heerführerin durchaus Erfolge feiert, wenn man Gemetzel denn als Erfolg betrachten will. Ich, Hannibal ist nicht allein deshalb phasenweise ein sehr brutales Buch, in dem nicht nur das Blut von Opfertieren und Ungeheuern munter vergossen wird und auch sexuelle Gewalt immer wieder fast beiläufig geübt wird. Der erste Tod per Zyklopenelefantenbestie lässt keine ganzen fünf Seiten auf sich warten und bleibt bei weitem nicht die letzte Gewaltschilderung. Dazu geht es oft äußerst derb zu, sprachlich wie auch inhaltlich. Gerade die im alten Rom allgegenwärtigen Phallusdarstellungen scheinen es dem Autorenduo angetan zu haben und werden mit viel Begeisterung geschildert (und von Tamenzut auch gelegentlich ganz handfest zum Einsatz gebracht).

Ohnehin haben Judith und Christian Vogt erkennbar Freude daran, ein pralles Bild der Antike zu zeichnen, neben Offensichtlichem auch durch viele kleine versteckte Anspielungen (so evozieren etwa die im Nebensatz einmal in Fulvias Gedanken auftretenden „verlogenen Punier“ das römische Vorurteil von der punica fides, Figuren von außerhalb dürfen konstatieren, dass Rom im 3. Jahrhundert v. Chr. eben noch nicht die in der populären Vorstellung präsente Stadt aus Marmor ist, zu der es ja erst Augustus gemacht haben will, und auch die römische Angewohnheit, über gern auch griechische Wandgraffitti zu kommunizieren, findet – sogar in sehr anrührender Form – Erwähnung). Trotz der erkennbar gründlichen Recherche steht der Aspekt der historischen Fantasy aber gar nicht unbedingt im Vordergrund. Die im Nachwort enthaltene Information, dass Fulvias aussichtsloser Kampf um das Erbe ihres Mannes auf das Schicksal von Christian Vogts Stiefgroßmutter zurückgeht, stimmt betroffen, verdeutlicht aber zugleich auch perfekt, dass es den „Vögten“, wie sie sich selbst als Duo gern nennen, nicht notwendigerweise um die spezifischen gesellschaftlichen Strukturen der Antike (ob nun in Karthago oder in Rom) geht, sondern um eine flammende Anklage gegen das Patriarchat und die vor allem männliche Tendenz, aus kriegerischer und sonstiger Gewaltausübung soziales und politisches Kapital zu schlagen.

Dieser aktivistische Ansatz ist hier noch drängender und expliziter geworden als in ihren älteren Romanen und gewinnt eine zusätzliche Ebene dadurch, dass Ich, Hannibal sich auch als Dekonstruktion der Art von (vielleicht nur vermeintlich) feministischen Geschichten lesen lässt, in denen eine einzelne, oft als außergewöhnlich charakterisierte Frau sich in einem sonst Männern vorbehaltenen Bereich gegen alle Widerstände bewährt. Hannibal und die geschlechtlich in ihrem Selbstbild nicht eindeutig festgelegte, aber von ihrer Umwelt als Frau gesehene Tamenzut brillieren zwar in klassisch männlich konnotierten Betätigungsfeldern (Feldzugsleitung und Monsterkampf), aber ob damit eigentlich viel gewonnen oder nicht doch eher das Prinzip der Durchsetzung durch Gewalt an sich fragwürdig ist, wird im Verlauf der Handlung immer stärker zum tragenden Thema des Romans.

Noch zwingender als in ihrem älteren Buch Schildmaid lassen Judith und Christian Vogt daher bei Hannibal und Tamenzut, aber auch bei Fulvia die Erkenntnis wirken, dass eine simple (Re-)Integration um ihre Freiheit kämpfender Unterdrückter in eine von Hierarchien, Unterwerfung und Zwängen geprägte Gesellschaft nicht der Weisheit letzter Schluss ist – im Gegenteil, dass vielleicht auch und gerade diejenigen, die sich ihre (begrenzte) Macht hart erkämpft haben, gut daran tun, zu hinterfragen, ob sie ein Recht haben, sie auszuüben, oder nicht doch andere und schwierigere Wege gehen sollten.

Spannende Lektüre mit ausgedehnten Abenteuersequenzen ist das durchaus, aber wer hinter einer Geschichte, die mit einem weiblichen Hannibal und Fabelwesen der Antike wirbt, simple Empowerment-Fantasy vermutet, in der Frauen und andere zu kurz Gekommene endlich einmal tun und genießen dürfen, was für Männer selbstverständlich ist, wird beim Lesen wohl eine Überraschung erleben. Ob es eine böse oder nicht vielmehr eine positive ist, hängt sicher auch und vor allem von der eigenen Sicht auf die Welt ab.

Judith und Christian Vogt: Ich, Hannibal. Rom wird vor ihr erzittern. München, Piper, 2024, 432 Seiten.
ISBN: 978-3-492-70658-2


Genre: Roman

Die kleine Kanzlei gewinnt immer

Das Leben bleibt abwechslungsreich für die Münchner Anwältinnen Kerstin und Helen: Während Kerstin ihre frisch in einer Zusatzausbildung gewonnenen Mediationskenntnisse erstmals in der Praxis anzuwenden versucht und gleich an einen komplizierten Fall gerät, stellen sich vermeintliche Gesundheitsprobleme bei Helen als unverhoffte Schwangerschaft heraus. Zwingt diese Neuigkeit die verwöhnte Juristin zunächst nur, auf alkoholfreien Prosecco umzusteigen, ergeben sich bald ernstere Schwierigkeiten, und ausgerechnet jetzt fällt auch noch Frau Vogt, die treue Seele der Kanzlei, für mehrere Wochen aus und wird von der jungen Meggy ziemlich eigenwillig vertreten. Ob sich wohl dennoch alles zum Guten wendet?

Wer schon die ersten beiden Bände von Elly Sellers um Die kleine Kanzlei gelesen hat, ahnt, dass die Antwort auf die Frage Ja lautet, denn wie seine Vorgänger ist auch der neue Roman Die kleine Kanzlei gewinnt immer leicht zu lesende Unterhaltung, die ihren Protagonistinnen trotz aller Sorgen nichts allzu Dramatisches zustoßen lässt. Wie immer hat die Autorin viel Freude daran, die fachliche Seite der Arbeit einer auf Familienrecht spezialisierten Kanzlei zu schildern, aber dank des sommerlichen Settings kommen auch genüssliche Tage auf dem Balkon und prächtige Blumensträuße nicht zu kurz. Wie gewohnt werden auch allerlei kulinarische Verlockungen geschildert, die den Heldinnen den Alltag versüßen.

Das Figurenensemble erfährt durch Meggy, die – in prekären Verhältnissen in einer Hochhauswohnung aufgewachsen – in sozialer Hinsicht einen Kontrapunkt zum komfortablen Dasein ihrer Arbeitgeberinnen bildet und, einer jüngeren Generation zugehörig, ganz auf Digitalisierung setzt, eine interessante Erweiterung, doch auch die schon bekannten Charaktere entwickeln sich Stück für Stück. Insbesondere Helen, die bisher abseits ihres Berufs ein recht lockeres Leben voll spontaner Kurzurlaube, edler Restaurantbesuche und wechselnder Affären geführt hat, muss hier lernen, dass ihre feste Beziehung und mehr noch ihr sich ankündigendes Kind ihr Umstellungen und Kompromisse abverlangen. In mancherlei Hinsicht bleibt sie sich allerdings selbst treu: Gebrauchte Kindersachen kommen ihr mit ihrem Hang zum Luxus selbstverständlich nicht ins Haus (oder wenn doch, dann nur lange genug, um sie rasch im nächsten Sozialkaufhaus zu entsorgen).

Subtiler sind die Veränderungen bei Kerstin, die ihren im letzten Band begonnen Weg, stärker auf eigenen Beinen zu stehen, hier fortsetzt, aber auch mit weiteren Verschiebungen innerhalb ihrer Familie zurechtkommen muss: Ob ihr der höchst geheime neue Freund ihrer pubertierenden Tochter recht sein soll, weiß sie genauso wenig, wie Frau Vogt sich mir der alles andere als pflegeleichten Flamme ihres Sohnes anfreunden kann … Doch bei der Rechtsanwaltsfachangestellten wird hier ohnehin ein wenig am Selbstbild gerüttelt, das bisher so stark auf ihren Beruf ausgerichtet zu sein scheint, dass sie selbst in den aus ihrer Perspektive erzählten Abschnitten eben ganz seriös „Frau Vogt“ bleibt (ihren Vornamen liest man jedenfalls nur in der wörtlichen Rede ihres Mannes, der auch hinter ihrer plötzlichen Abwesenheit aus der Kanzlei steckt und für sie einiges in Bewegung bringt). Ein bisschen Niedlichkeit kommt durch Helens jetzt schon sprechenden Großneffen Robin mit ins Spiel, der sie dennoch nur unvollkommen auf ihre eigene Mutterrolle vorbereiten kann.

Das Lektorat hätte etwas gründlicher sein können, denn neben ein paar Tippfehlern sind auch kleine Widersprüche im Text stehen geblieben (heißt der Rechtsanwalt, der Kerstin ihre erste Mediation vermittelt, Gulden oder Gülden, und ist Frau Bosch nun Dolmetscherin oder Fremdsprachensekretärin?), aber darüber kann man hinweglesen. Mit seinen kurzen Kapiteln und filmisch raschen Szenenwechseln eignet sich das Buch gut als entspannte Liegestuhllektüre für den nächsten Urlaub, die einen unterhält, ohne einen zu überfordern, und Fans der Reihe wollen sicher ohnehin wissen, wie es mit den Damen aus der kleinen Kanzlei und ihrem Umfeld weitergeht.

Elly Sellers: Die kleine Kanzlei gewinnt immer. Norderstedt, Books on Demand, 2024, 258 Seiten.
ISBN: 978-3-758-38306-9


Genre: Roman

Die Weinfestengel

Die eher mäßig erfolgreiche Künstlerin und Chorleiterin Lisa Deiling sehnt sich nach einem Mann und der damit verbundenen materiellen Absicherung. Benno Schwertfeger, wohlanständiger Lateinlehrer und Organist, käme ihr da gerade recht, hat aber leider nicht das nötige Interesse an ihr. Ein Liebeszauber aus einem Buch mit Hexenritualen soll Abhilfe schaffen, muss allerdings an einem Ort ausgeführt werden, der mit dem erwünschten Partner in Verbindung steht. Die Kirche, in der Benno Orgel spielt, erscheint Lisa perfekt geeignet, und in der Tat hat die Beschwörung, die sie dort ausführt, einen gewissen Erfolg, nur nicht den gewünschten: Sie ruft den Dämon Kolar auf den Plan, der prompt den zum Kampf gegen ihn herbeigeeilten Engel Haniel besiegt und körperlos zurücklässt. Um überhaupt noch aktiv werden und Kolar das Handwerk legen zu können, braucht Haniel schnellstens einen neuen Körper, und der erste, dessen er sich bemächtigen kann, gehört ausgerechnet dem zum Kampf gegen höllische Mächte rein äußerlich nicht unbedingt geeigneten Benno. Doch so einfach wird man einen Engel als blinden Passagier nicht wieder los, und untätig bleiben kann man auch nicht, wenn sich das Böse immer tiefer in der heimatlichen Kleinstadt einnistet. Denn Bennos auf Abwege geratener Schüler Lukas bringt mit seiner fehlgeleiteten übersteigerten Marienfrömmigkeit, die sich das falsche Objekt sucht, nicht nur seinen eigenen kleinen Bruder, sondern auch noch weitere Kinder in Gefahr, Lisa riskiert nach wie vor mehr, als ihr bewusst ist, und auch die sonst in Latein stets verlässliche, nun aber mit eigenen Sorgen kämpfende jugendliche Kampfsportlerin Vanessa wird in den Konflikt höherer Mächte hineingezogen, als sich zum örtlichen Weinfest die Lage zuspitzt …

Susanne Bonns neuer Roman Die Weinfestengel bietet, ganz dem Titel gemäß, süffige Unterhaltung, die sich ein bisschen so liest wie eine in eine deutsche Kleinstadt verlegte Variante von Good Omens auf … nun ja, nicht direkt Drogen, aber vermutlich reichlich Riesling. Himmel- und Höllenwesen aller Art ringen mit List, Tücke und roher Gewalt um die Seelen unschuldiger Kinder, aber neben ihnen greifen auch noch Gestalten des Volks- und Aberglaubens mit ins Geschehen ein, vom furchterregenden Bouz über eine spukende Weiße Frau bis hin zu allerlei Waldwesen von paganer Anmutung. Das alles könnte hochdramatisch und tragisch sein, geht es doch immer wieder um Todesfälle (auch und besonders unter Kindern), bestenfalls triste Familienverhältnisse und alle Arten von Verführbarkeit des Menschen mit oft fatalen Folgen. Doch statt eine bitterernste Schauergeschichte aus diesen Zutaten zu machen, erzählt Susanne Bonn über weite Strecken schräg und komisch, wie der herrlich unheroische Benno, dem nur reichlich Alkohol gegen den nicht immer segensreichen Einfluss seines Engelsbegleiters hilft, von einer Kalamität in die nächste gerät und auch wohlwollende Kräfte nur sehr bedingt für eine Verbesserung der Gesamtsituation sorgen können (denn wie sich herausstellt, ist es zum Beispiel gar nicht so einfach, die Hilfe zuständiger Heiliger zu erhalten).

Gewürzt ist dieser wilde Ritt über Schulhof, Orgelempore und Weinfest mit allerlei augenzwinkernden Anspielungen, wenn etwa Haniel den Menschen, die mit ihm interagieren, je nach ihrem Hintergrund in anderer Gestalt erscheint (nimmt Benno ihn als den Komponisten Johann Hermann Schein wahr, verleiht ihm Vanessa eine eher popkulturell inspirierte Anmutung) oder allerlei (un-)passende Musikstücke Erwähnung finden, bis hin zur Titelmelodie von Wickie und die starken Männer. So bringt man einen Großteil der Lektüre lachend zu, weil einen immer dann, wenn eigentlich gerade etwas sehr Übles geschehen ist, entweder die Situationskomik oder das nächste Easter Egg wieder genug amüsiert, um nicht allzu tief über manch ein im Grunde todtrauriges Detail nachzugrübeln. Und eines steht immerhin fest: Verkatert lässt einen dieser kreative Cocktail, den man sich auch gut verfilmt vorstellen könnte, garantiert nicht zurück.

Susanne Bonn: Die Weinfestengel. München, tolino media, 2024, 297 Seiten.
ISBN: 978-3-7392-3369-7


Genre: Roman

TickTackTakTik

In für das moderne Berlin nicht untypischen prekären Verhältnissen lebt ein Neuköllner Ehepaar, Luise und Lars Dietrich. Zur Zeit ihres Kennenlernens waren noch beide im Journalismus tätig, während sie mittlerweile als esoterische Telefonberaterin sein Leben als Autor und Musiker finanziert und ihre eigenen Gedichte dabei zu kurz kommen. Kein Wunder also, dass Luise auf die Dauer nicht glücklich mit sich selbst und diesem Arrangement ist, zumal Lars Dietrich und sein Musikerkollege – ein weiterer Lars – mehr Geschäftssinn von ihr erwarten und ihr immer wieder vermeintlich wohlüberlegte Marketingstrategien aufzudrängen versuchen. Die ihr nur telefonisch bekannte wohlhabende Kundin Carina bietet da mit ihren ständigen Männergeschichten eine willkommene Abwechslung, bis sich Stück für Stück abzuzeichnen beginnt, dass Beraterin und Klientin mehr Berührungspunkte haben, als ihnen zunächst bewusst ist, und so nimmt das Unheil seinen Lauf …

Wie auch in ihren Erzählungen in den Bänden Sehnsucht und Lost Paradise stellt Anette van den Bergh in ihrem Roman TickTackTakTik das menschliche Dasein in seiner Beziehung zur Kunst in den Mittelpunkt. Nicht ohne Grund evoziert der Titel dabei das Ticken einer Uhr: Neben Männlichkeit und Weiblichkeit samt all ihren Tücken innerhalb verschiedener (Liebes-)Verhältnisse spielt nämlich das Verstreichen der Zeit beim oft vergeblichen Warten auf den großen musikalischen oder literarischen Durchbruch, der Suche nach dem richtigen Partner und der Auseinandersetzung mit Sehnsüchten und (oftmals geplatzten) Lebensträumen allgemein eine große Rolle. Wie viel Zeit jeweils seit für Luise einschneidenden Erfahrungen vergangen ist oder wie viele (unweigerlich zu kurze) Minuten ihr für ihren Auftritt in einer zweifelhaften Wahrsage-TV-Show zur Verfügung stehen, findet leitmotivisch immer wieder Erwähnung, so dass gewissermaßen bei der Lektüre die Uhr im Hintergrund mittickt. Ganz dazu passend ist die Sprache des Romans ein beständiger Strom, lyrisch, oft lautmalerisch, und prägt das für Annette van den Bergh so typische Ineinanderfließen von Erzählerbericht, erlebter Rede und nicht durch Anführungszeichen abgegrenzten Dialogen in einer Art, die beim Lesen Sogwirkung entfaltet.

Literarische Anspielungen gibt es nicht zu knapp, ob nun ganz klassisch auf John Donnes Erkenntnis, dass kein Mensch eine Insel ist, und Platons Symposion und die darin enthaltene Geschichte von den einst zweigeteilten Menschen, die in der Liebe ihre andere Hälfte wiederzufinden hoffen, oder moderner und populärkultureller auf das Dschungelbuch sowie aufs Taubenvergiften (allerdings nicht im Park, sondern auf der Dachterrasse). Auch Kunst, Märchen und Mythologie, von Babylon bis Botticelli, sind, wie von Annette van den Bergh gewohnt, immer wieder in den Text eingeflochten und helfen, eine Welt heraufzubeschwören, in der – um Luises Einschätzung eines Musiklokals zu zitieren – „[a]lles ranzig. Aber ranzig mit Stil“ und nur die Kaffeemaschine wirklich edel ist.

So ernst die zugrundeliegenden Themen – wie die Kritik an der gnadenlosen Kommerzialisierung und Vermarktung von Spiritualität und Kunst sowie am Zynismus des Literaturbetriebs, aber noch mehr die Frage, inwieweit wir viel von unserer Lebenszeit bei allen hochfliegenden Plänen eigentlich nur vertun – auch sein mögen, TickTackTakTik ist trotz allem kein rein spöttischer und verbitterter Roman, sondern immer auch mit einer gewissen Leichtigkeit, bisweilen finsterem Humor und viel Gespür für Satire geschrieben. Zu all dem Menschlichen und allzu Menschlichen, das hier mit spitzer Feder, aber nicht ohne Gefühl karikiert wird, passt dann auch, dass alles am Ende noch eine augenzwinkernde Wendung nimmt, die zwar nicht ganz einen typischen Deus ex Machina erfordert, aber doch ein Spiel mit literarischen Konventionen (in mehr als einem Sinne) beinhaltet. Die Kunst bleibt also auch auf der Metaebene bis zum Schluss präsent, und die beim Lesen verstrichene (oder vielleicht angenehm dahingetickte?) Zeit ist deshalb auf alle Fälle nicht verschwendet.

Annette van den Bergh: TickTackTakTik. Norderstedt, BoD, 2021 (E-Book).
ISBN: 978-3-7543-1907-9

 


Genre: Roman

Cursed Cocktails

Als einer der gefürchteten Blutmagier früh in den Armeedienst gepresst, hat Dunkelelf Rhoren die letzten zwanzig Jahre damit zugebracht, im kalten Norden Monster zu bekämpfen, und dabei seine Gesundheit ruiniert. Nachdem er endlich in den Ruhestand entlassen worden ist, zieht er auf den Rat eines guten Freundes hin in den Süden, dessen mildes Klima seine chronischen Schmerzen lindern soll. Doch in der quirligen Hafenstadt Eastborne angekommen, weiß er zunächst wenig mit sich anzufangen, bis er über das Notizbuch mit Cocktailrezepten, das er von seinem früh ums Leben gekommenen Vater geerbt hat, Freundschaft mit dem Barkeeper Kallum schließt und auf die Idee kommt, selbst ein Lokal zu eröffnen. Doch geeignete Räumlichkeiten sind in Eastborne gar nicht so einfach zu finden – sieht man von einem Haus ab, in dem es angeblich so fürchterlich spukt, dass bisher alle Mieter schnell wieder die Flucht ergriffen haben …

Wie S. L. Rowland in seinem Nachwort selbst zugibt (und man auch ohne den expliziten Hinweis des Autors erraten könnte), steht Cursed Cocktails ganz in der Tradition von Travis Baldrees Bestseller Legends & Lattes, in dem sich eine ehemalige Orkkriegerin als Cafébetreiberin versucht. Hier ist es also nun ein magiebegabter Elfenkämpfer, der Hochprozentigeres kredenzt, aber das auf durchaus amüsante Art, so dass man an dem kleinen Roman auch dann sein Vergnügen haben kann, wenn man mit alkoholischen Mixgetränken eigentlich so wenig anfangen kann wie die Rezensentin und die in den Text integrierten Rezepte nicht zu eigenen Cocktail-Experimenten zu nutzen gedenkt. Möglich wäre das wohl durchaus, denn die Namen der exotisch-phantastischen Spirituosen, aus denen Rhorens Kreationen bestehen, sind gegenüber ihren realweltlichen Vorbildern nur so wenig verfremdet, dass die Identifikation der passenden Sorte Alkohol keine Probleme bereitet.

Den Gipfel allen Anspruchs darf man von der Geschichte nicht erwarten, und auch die geschilderte Fantasywelt mit ihren Elfen, Zwergen, Gnomen und Ungeheuern verströmt recht generisches Rollenspiel-Flair. Die Anspielungen auf bekannte literarische Werke des Genres könnten in manchem Fall eleganter sein (dass hier ausgerechnet ein Professor ein Buch liest, in dem unschwer Tolkiens Herr der Ringe zu erkennen ist, ist z. B. etwas dick aufgetragen).

Wen all das nicht stört, der findet hier eine entspannte Lektüre um sympathische Protagonisten, die vom eigenwilligen Kater über die schwierige Nachbarin bis zum kleinkriminellen kindlichen Geschwisterpaar eigentlich jeden nett behandeln und über weite Strecken des Buchs in bester Cozy-Fantasy-Manier vor allem mit Alltagsproblemen aller Art konfrontiert sind. Gegen Ende gibt es dann noch einmal einen Hauch von Weltrettung samt handfester Action, bei der sich Rhorens frühere Berufserfahrung als äußerst nützlich erweist, aber dass alles schon nicht allzu übel für ihn und seinen neuen Freundeskreis ausgehen wird, versteht sich bei dieser Art Roman natürlich von selbst. Als unterhaltsame Wochenendlektüre oder zur Entspannung zwischendurch sind die Cursed Cocktails aber sicherlich geeignet, solange man keinen gewaltigen Tiefgang braucht.

S. L. Rowland: Cursed Cocktails, o. O., Aethervale Publishing, 2023, 274 Seiten.
ISBN: 979-8-987-85020-6


Genre: Roman

Der letzte Zug nach Schottland

Inspector Alan Grant ist überarbeitet und einem Nervenzusammenbruch nahe. Ein paar Wochen Angelurlaub bei seiner Cousine Laura und deren Familie in Schottland sollen ihm helfen, wieder zu sich selbst zu finden. Doch als er, am Ziel angekommen, den Nachtzug verlässt, beobachtet er, wie der Schaffner in einem Abteil einen Toten findet, und sammelt aus alter Gewohnheit eine herumliegende Zeitung auf. Natürlich ist Grant nicht für den Fall zuständig, und der scheint rasch geklärt: Offenbar hat der Verstorbene nur zu viel getrunken und ist dann unglücklich gestürzt. Ein bedauerlicher, aber nicht weiter weltbewegender Unfall also – wäre da nicht die von Grant stibitzte Zeitung, auf der jemand ein unvollständiges, geheimnisvoll anmutendes Gedicht notiert hat, in dem singender Sand und der Weg ins Paradies von zentraler Bedeutung zu sein scheinen. Eine letzte Botschaft des Toten? Die Frage lässt Grant nicht los, und statt sich zu erholen, beginnt der kranke Polizist privat zu ermitteln. Bald ahnt er, dass er es in Wahrheit mit einem perfiden Mord zu tun hat, dessen abenteuerliche Hintergründe sich erst nach und nach herauskristallisieren  …

Die 1952 verstorbene Schriftstellerin Josephine Tey ist im deutschen Sprachraum wahrscheinlich vor allem für Alibi für einen König bekannt, ein Buch, in dem der nach einem Beinbruch bettlägerige Grant vom Krankenhaus aus und mit knapp 500 Jahren Abstand herauszufinden versucht, ob der englische König Richard III. tatsächlich seine Neffen auf dem Gewissen hatte. Neben weiteren Romanen, Dramen und Erzählungen hat sie jedoch auch noch andere Krimis um Inspector Grant verfasst, von denen Der letzte Zug nach Schottland (im Original: The Singing Sands) tatsächlich auch der letzte ist. Bei Kampa ist er unter dem Imprint Oktopus nun in der Übersetzung von Manfred Allié mit einem Nachwort der bekannten Krimiautorin Val McDermid wiederveröffentlicht worden.

Im direkten Vergleich ist Alibi für einen König dabei das bessere Buch, denn – so viel sei vorab verraten – im Letzten Zug nach Schottland führt Tey in die Ereignisse, die sich als ursächlich für das Mordmotiv entpuppen, ein absolut verzichtbares spezielles Element ein, das so unwahrscheinlich wirkt, dass es in einem phantasievollen Abenteuerroman des 19. Jahrhunderts besser aufgehoben wäre als in einem ansonsten mehr oder minder realistischen Krimi. Sieht man von diesem speziellen Detail jedoch ab, ist Der letzte Zug nach Schottland ein sehr spannender und unterhaltsamer Roman, der nicht nur durch stimmungsvolle Beschreibungen von Landschaft und Atmosphäre besticht, sondern auch durch seine gekonnt gezeichneten, teilweise herrlich verschrobenen Charaktere, unter denen Pat, der kleine Sohn von Grants Cousine, mit seinem Berufswunsch „Revolutionär“ und seinen liebevoll porträtierten kindlichen Eigenarten besondere Erwähnung verdient.

Aber auch Grant selbst ist eine besondere, für die Entstehungszeit des Romans ungewöhnliche Figur. Modern ausgedrückt leidet er an einem Burnout, der mit Angstzuständen und Attacken von Klaustrophobie einhergeht, und wie er sich mit seinen psychischen Problemen auseinandersetzt, ist durchaus mitfühlend und sensibel geschildert. Auch in anderen Punkten war Teys Blick auf die Welt ihrer Zeit wohl voraus, wie McDermid in ihrem Nachwort im Hinblick auf die androgyne Figur Zoë Kentallen – eine Grant nicht ganz gleichgültige Schulfreundin von Laura – und auf latent anklingende homoerotische Motive herausarbeitet.

In manchen Punkten dagegen ist Der letzte Zug nach Schottland ein Produkt seiner Epoche, etwa in seinen pauschalen Aussagen über den angeblichen Charakter bestimmter Nationen und den aus heutiger Sicht rassistisch anmutenden, wenngleich nur im Nebensatz geäußerten Bedenken gegen die Vermischung unterschiedlicher Ethnien. Anderes wirkt allerdings immer noch frisch und zeitlos, so zum Beispiel der bissige Humor, mit dem Esoterisches, Geltungsdrang aller Art und literarisch hochgelobte, aber real enttäuschende Reiseziele aufs Korn genommen werden. Alles ist allem ist der Roman so auch noch über 70 Jahre nach seinem ersten Erscheinen durchaus lesenswert und eine lohnende Entdeckung für alle Krimifans.

Josephine Tey: Der letzte Zug nach Schottland. Zürich, Oktopus (Kampa), 2023 (Original: 1952), 336 Seiten.
ISBN: 978-3-311-30032-8


Genre: Roman

Marco Polo. Bis ans Ende der Welt

Schon seit Jahren befindet sich Rustichello da Pisa unter immer erbärmlicheren Bedingungen in genuesischer Kriegsgefangenschaft, als die Ankunft eines neuen Zellennachbarn sein in Leid und Kummer erstarrtes Dasein gründlich durcheinanderwirbelt. Denn Marco Polo, der nach einer verlorenen Seeschlacht im Kerker gelandet ist, hat Aufregendes über seine weite Reise mit seinem Vater Nicolò und seinem Onkel Maffeo, seinen langen Aufenthalt in einer märchenhaften Fremde am Hofe Kublai Khans und seine unter keinem guten Stern stehende Liebe zu der mongolischen Prinzessin Kokachin zu erzählen. Seine Geschichten lassen nicht nur Rustichello neuen Lebensmut schöpfen, sondern gefallen auch den sonst oft brutalen und verächtlichen Wärtern so gut, dass sie den Weg zu besseren Haftbedingungen und allerlei Vergünstigungen ebnen, die sich Rustichello trotz aller Zweifel, ob sein neuer Freund überhaupt die Wahrheit sagt oder nur gekonnt fabuliert, gern gefallen lässt. Erst ganz allmählich beginnt er zu begreifen, dass vielleicht nicht er selbst, sondern der scheinbar so gewandte Marco Polo derjenige ist, der am meisten Hilfe braucht – und dass sich eine ungeahnte Möglichkeit bieten könnte, ihn zu unterstützen.

Wer einen Roman über eine berühmte und mehr oder minder gut dokumentierte historische Persönlichkeit schreibt, steht immer vor dem Problem, die Quellen mit einer Handlung in Einklang zu bringen, die trotz des in aller Regel schon im Voraus bekannten Ausgangs spannend bleibt. Oliver Plaschka wählt in Marco Polo. Bis ans Ende der Welt die elegante Lösung, gar nicht erst eine allzu exakte Rekonstruktion dessen zu versuchen, was sich in der Realität auf Marco Polos Reisen und bei seinem Aufenthalt im mongolisch beherrschten China abgespielt haben könnte, sondern bewusst eine in vielen Teilen erfundene und manchmal auch vom historisch Belegbaren oder Anzunehmenden abweichende Geschichte zu erzählen. Dank des Kunstgriffs der Rahmenhandlung im Gefängnis, dessen Mikrokosmos in einer vielfältigen Wechselbeziehung zu der in den Geschichten aufscheinenden großen weiten Welt steht, ist auch nie ganz sicher, ob Marco Polo ein sehr zuverlässiger Erzähler ist oder hier und da etwas ausschmückt und spontan dem Publikumsgeschmack anpasst. Fest steht nur, dass er je nach Zuhörerschaft unterschiedlich viel enthüllt und manches auch gar nicht in die Verschriftlichung seiner Geschichten, die Rustichello irgendwann anzufertigen beginnt, einfließen sehen will.

Geschickt schildern Rahmen- wie Binnenhandlung jeweils eine Geschichte von Aufstieg (in den Gefängnisszenen sehr wörtlich aus dem Keller in bequemere Geschosse, in denen mit fast schon vergessenen Freuden wie einem Bad oder einem Blick auf den Himmel zu rechnen ist) und Fall und weisen auch atmosphärische Parallelen auf. Ist in der frühen Phase, in der Marcos Erzählungen für Rustichello zum innerlichen Ausweg aus der Gefängnisenge werden, die Binnenhandlung noch von viel Fernweh, Entdeckerfreude und Begeisterung für den Kontakt mit fremden Sprachen, Kulturen sowie Religionen, ja sogar von fast mystischen Erlebnissen (in denen immer wieder weiße Pferde eine Rolle spielen), geprägt, erweist sich Kublai Khans in seinem Prunk und seiner Weite zunächst wie eine Zauberwelt anmutendes Reich, in dem Marco beneidenswert schnell Karriere macht (sich aber auch schon einmal ungewollt im Tigerkäfig wiederfindet), nach und nach als nur von Gewalt und Unfreiheit zusammengehaltenes Gebilde, ganz gleich, ob bei grausamen Kriegszügen ganze Städte ausgelöscht werden oder der Herrscher mit harter Hand tatsächliche oder vermeintliche Untaten mit drastischen Hinrichtungsmethoden oder Verstümmelungen ahndet und mit Anschlägen von Neidern und Missgünstigen jederzeit zu rechnen ist. Kein Wunder also, dass sich sogar die (halbwegs) Guten irgendwann eines ninjahaften Auftragsmörders bedienen oder selbst eiskalt jemanden meucheln, der ihren Plänen im Wege steht – denn ob man in einer von Macht- und Geldgier geprägten Umwelt, in der der einzelne Mensch und seine Interessen und Bedürfnisse wenig zählen, anständig bleiben kann, ist eine Frage, die immer wieder aufgeworfen wird, es sei denn, man hat gar nicht erst den Drang, es zu versuchen, wie etwa der umtriebige Maffeo (ein fürchterlicher Mensch, aber eine gelungen gezeichnete Romanfigur).

Mag die Handlung selbst auch noch so phantasievoll ausgestaltet sein, die Hintergründe sind gut und genau recherchiert, so dass in unterhaltsamer Form eine Fülle von Wissen über die Geschichte des 13. Jahrhunderts und kulturhistorische Details auch abseits von Marco Polos großer Reise mit einfließt. Auf welche Quellen und Darstellungen der Autor dabei zurückgegriffen hat, enthüllt das dankenswert ausführliche Nachwort, das auch Abweichungen vom historisch Überlieferten (und die dramaturgischen und sonstigen Gründe dafür) detailliert offenlegt. Auch eine nützliche Auswahlbibliographie wird geboten. Stutzig macht einen angesichts dieser Akribie  allein, dass die italienische Anrede Messere („mein Herr“, analog zum französischen Monsieur) offenbar als eingedeutschtes Fremdwort verwendet wird und so im Plural Messeres (statt Messeri) steht und auch beim Gebrauch direkt vor einem Namen nicht, wie man erwarten würde, das End-E wegfällt (vielleicht, um eine Verwechslung mit dem gleich geschriebenen deutschen „Messer“ zu vermeiden?).

Vor allem aber ist Marco Polo ein Buch über die Macht von Geschichten und die Kunst des Erzählens, die Menschen auch in den unwahrscheinlichsten Situationen zusammenführen kann, aber auch der Selbstdarstellung und Identitätsfindung, bisweilen allerdings sogar der Manipulation dient. Das gilt nicht nur für die Rahmenhandlung: Auch in der Reiseerzählung kommt es immer wieder zu Situationen, in denen erzählt wird, wobei Marco hier meist in der Zuhörerrolle erscheint (und im Zuge dessen eine Erklärung dafür angeboten wird, wie einige der sagenhafteren Elemente seines Reiseberichts – so etwa die Geschichte um den Priesterkönig Johannes – ihren Weg zu ihm gefunden haben könnten), während er später als Erzähler auch Dinge wiedergibt, die er selbst nur aus zweiter Hand weiß. Die Wahrheit ist nicht nur in diesen Fällen schwer zu ermitteln, und nicht ohne Grund findet der venezianische Karneval mit seinen Masken hier und da Erwähnung. Denn beileibe nicht jede Figur ist, was sie auf den ersten Blick zu sein scheint, und manch eine schlüpft im Laufe der Handlung zeitweise oder dauerhaft in eine neue Rolle. Das erlaubt einige überraschende Wendungen, und auch das Ende, in dem Rahmen- und Binnenhandlung bis zu einem gewissen Grade zusammenfinden, gestaltet sich vielleicht nicht so, wie man zu Anfang hätte vermuten können.

Bei allem Ernst erzählt Oliver Plaschka durchaus nicht ohne Humor, der sich teilweise in gelungen geschilderter Situationskomik äußert (Dromedarreiten ist nichts für schwache Nerven und Tee kein Getränk für den europäischen Gaumen des Mittelalters), manchmal aber auch als historischer Insiderwitz aufblitzt, wenn etwa Marco Polo spekuliert, sein Onkel Maffeo werde aus der geplanten Ehe seines Neffen mit Donata Badoer mindestens drei Söhne erwarten. Wer sich schon einmal mit dem Testament des historischen Marco Polo befasst hat, weiß, dass es an der nötigen Anzahl von Versuchen offenbar nicht gefehlt hat – wohl aber am „Erfolg“ nach den Maßstäben des literarischen Maffeo.

Alles in allem bietet Marco Polo Spannung und Unterhaltung auf einem hohen Niveau, das andere historische Romane oft vermissen lassen, und ist so trotz des Buchumfangs ein schnell verschlungenes Lesevergnügen, das auch mit der Epoche Vertraute immer wieder zu erstaunen vermag.

Oliver Plaschka: Marco Polo. Bis ans Ende der Welt. München, Droemer Knaur, 2016 (E-Book; Druckausgabe: 864 Seiten).
ISBN: 978-3-426-43602-8


Genre: Roman

Die Toten von Brambly Hedge

Das hier besprochene Buch ist der zweite Teil einer Reihe; die Rezension des ersten Bandes ist hier zu finden.

Erst vor kurzem und durchaus nicht zur allgemeinen Freude hat DCI Liam Woodhouse das Disziplinarverfahren überstanden, das nach seinem letzten großen Fall unausweichlich war, und auch ansonsten sieht die Lage trübe aus: An seinen Personalentscheidungen gibt es Kritik von allen Seiten, im Privatleben sind allerlei Probleme zu bewältigen und die enge Zusammenarbeit mit Joanna Bloom, die für ihn mehr als eine beliebige Untergebene ist, hat ein vorläufiges Ende gefunden. Als drei Mitglieder eines sonst unzertrennlichen Quartetts von Obdachlosen tot aufgefunden werden und der Vierte aus der Runde, ein gewisser Shaun Pantinkin, spurlos verschwunden ist, kommt zu allem Elend auch noch von höherer Stelle die Order, den Fall gar nicht erst zu verfolgen. Zu offensichtlich scheint eine Überdosis Drogen im Spiel gewesen zu sein. Aber Woodhouse wäre wohl nicht Woodhouse, wenn er nicht dennoch seinem Verdacht nachgehen und Bloom mit ins Boot holen würde, um herauszufinden, wer Die Toten von Brambly Hedge auf dem Gewissen hat.

Wer mit dem Namen „Brambly Hedge“ bisher nur die niedlichen Mäusegeschichten von Jill Barklem verbindet, wird sich verwundert die Augen reiben, denn was Christian Wagnon in seinem neuen Krimi auffährt, ist von der idyllischen Welt der liebenswerten Bilderbücher denkbar weit entfernt. Geht es erst nur darum, Pantinkin aufzuspüren und festzustellen, ob er Täter, Opfer oder an dem Vorfall völlig unbeteiligt ist, kommen bald noch Drogen- und Menschenhandel, die Ausbeutung und Misshandlung Hilfloser (von jugendlichen im sozialen Abseits bis hin zu kranken alten Leuten), unschöne Verhältnisse in einer sozialen Einrichtung, die eigentlich die Schwächsten unterstützen soll, und eine äußerst unersprießliche Familiengeschichte voller Hass und Missgunst mit ins Spiel. Dass es selbstverständlich auch nicht bei drei Toten bleibt, sondern weitere Menschen ums Leben kommen oder zumindest in große Gefahr geraten, versteht sich da fast schon von selbst. Besonders bedrückend ist daran, dass teilweise reale Ereignisse die Inspiration für den Roman geliefert haben (auf den Missbrauchsskandal von Rotherham wird explizit Bezug genommen).

Die Geschehnisse werden dabei nicht nur aus Sicht der Polizei geschildert: Parallel zu den Mordermittlungen entwickelt sich die damit zunächst scheinbar nur zufällig verbundene Geschichte des jungen Kylen Desai, der in die Dienste eines Kriminellen gepresst wird und, wie auch seine mit einer drogenabhängigen Cousine geschlagene Freundin Jayda Ellis, Dinge erlebt, die wahrlich nichts für schwache Nerven sind.

Wie immer bei Christian Wagnon gibt es aber den ein oder anderen Ausgleich zu den harten Krimianteilen: Gelegentlich gönnt er seinen Figuren durchaus ein wenig Behaglichkeit und kulinarische oder musikalische Genüsse, und die polizeiinternen Intrigen, die diesmal sogar die dienststelleneigenen Meerschweinchen in ernste Gefahr bringen, sind mit einem Schuss Humor erzählt, der auch in der Namensgebung mitschwingt (dass ein Lokal ausgerechnet The Sinking Ship heißt, sagt schon einiges über die Atmosphäre des Buchs aus). Apropos Tiere: Auch Schafe spielen diesmal eine durchaus nicht unwichtige Nebenrolle.

Insgesamt ist also auch der zweite Band um die Payton Lane ein spannender Krimi, der sich bei aller Düsternis flott liest und die Neugier auf das wiederkehrende Figurenensemble wachhält, das hier zwar schon erste, aber beileibe nicht alle seiner Geheimnisse preisgibt.

Christian Wagnon: Die Toten von Brambly Hedge. DCI Liam Woodhouse Band 2. Dresden 2023. E-Book (über Amazon zu beziehen).
ASIN: ‎ B0CBWTM5CG

 


Genre: Roman

Frau Komachi empfiehlt ein Buch

In die Bibliothek eines Gemeindezentrums in Tokio verschlägt es nach und nach fünf sehr unterschiedliche Menschen, in deren Leben alles gerade nicht zum Besten steht: die junge Verkäuferin Tomoka, die damit hadert, keine glänzende Karriere hingelegt zu haben, sondern sich mit schwierigen Vorgesetzten und unfreundlicher Kundschaft herumschlagen zu müssen, den Buchhalter Ryo, der von einem eigenen Antiquitätengeschäft träumt, den Sprung ins kalte Wasser aber scheut, die ehemalige Redakteurin Natsumi, die sich seit der Geburt ihrer Tochter mit einer weniger erfüllenden Stelle begnügen muss und damit ringt, Beruf und Familie unter einen Hut zu bringen, den Arbeitslosen Hiroya, dem der große Durchbruch als Zeichner versagt geblieben ist, während anderen in seinem Umfeld alles spielend zu gelingen scheint, und den frischgebackenen Rentner Masao, der nicht so recht weiß, wie es im Ruhestand mit ihm weitergehen soll. Alle wenden sie sich auf der Suche nach bestimmten Büchern an die Bibliothekarin Sayuri Komachi, die auf den ersten Blick zwar abweisend wirkt und sich nur für ihre Filzarbeiten zu interessieren scheint, aber jedem Menschen, der sich an sie wendet, nicht nur einen kleinen Glücksbringer schenkt, sondern auch ein Buch zusätzlich zu dem eigentlich gewünschten empfiehlt. Wer sich darauf einlässt, kann Überraschendes erleben.

Michiko Aoyama legt ihrem Roman Frau Komachi empfiehlt ein Buch im Grunde ein ähnliches Konzept zugrunde wie Carsten Henn seinem Buchspazierer: Eine leicht exzentrische, aber kluge Gestalt nutzt ihre Menschenkenntnis, um den mehr oder minder unglücklichen Personen, die sich an sie wenden, genau das passende Buch zuzuordnen, das, mit dem richtigen Blick gelesen, eine lebensverändernde Wirkung entfaltet. Während die Titelfigur bei Henn allerdings stark im Zentrum der Geschichte steht, ist sie bei Aoyama eher eine helfende Instanz im Hintergrund, über deren eigenen Lebensweg und seine unerwarteten Wendungen man nur bruchstückhaft etwas erfährt, ohne je ihre Perspektive erleben zu dürfen.

Stattdessen schlüpfen die fünf, die sich bei der Bibliothekarin nach Büchern erkundigen, nacheinander in die Ich-Erzähler-Rolle. Da die Hauptfiguren nichts weiter miteinander zu tun haben, könnte man die einzelnen Kapitel auch als eigenständige kleine Geschichten lesen – könnte, sollte aber nicht, denn auf subtile Art, durch erst ziemlich unauffällige Nebenfiguren und scheinbar beiläufig eingestreute Einzelheiten, sind alle Abschnitte auch über die Bibliothek als Ort und Sayuri Komachi und ihre Assistentin als wiederkehrende Gestalten hinaus so eng miteinander verflochten, dass sie erst in der Zusammenschau ein großes Ganzes ergeben.

Während die geschilderten Schicksale in manchen Zügen sehr japanisch geprägt sind (gerade der hohe, für die eigene Identität zentrale Stellenwert, den eine bestimmte Art von Arbeitsverhältnis genießt, mutet nach europäischen Maßstäben extrem an), ist die zentrale Botschaft des Buchs, sich auch einmal auf Lektüre, nach der man vielleicht nicht spontan greifen würde, einzulassen und darin den nötigen Anstoß zu finden, Chancen zu nutzen oder sich wenigstens so gut wie möglich mit den gegebenen Verhältnissen zu arrangieren, universell gültig.

In einigen Fällen hat man den Eindruck, dass Aoyama die Wendung zum Guten im Leben ihrer Figuren etwas zu mühelos eintreten lässt: Dass ein zufälliges Alltagsgespräch mit den richtigen Leuten umgehend zum Traumjob führt, wie hier gleich zweimal, wünscht man sich zwar sicher, aber das Glück haben wohl nur die wenigsten. Doch alles in allem liest sich der hoffnungsvolle und freundliche Roman in der Übersetzung von Sabine Mangold angenehm und unterhaltsam. Wer Lust auf ein Buch über Bücher hat, das einen in positiver Stimmung zurücklässt, kann hier daher nicht viel falsch machen.

Michiko Aoyama: Frau Komachi empfiehlt ein Buch. 3. Aufl. Hamburg, Kindler (Rowohlt), 2023, 288 Seiten.
ISBN: 978-3-463-00040-4


Genre: Roman