Als kleines Mädchen ist Sine, die der Minderheit der Siebenbürger Sachsen entstammt, mit ihren Eltern von Rumänien nach Deutschland ausgewandert und seitdem nicht mehr zurückgekehrt. Der Tod ihrer Großmutter Agneta sorgt dafür, dass sie nun, da sie kurz nach ihrem Universitätsabschluss wenig mit sich anzufangen weiß und keine klaren Pläne hat, doch noch mit ihrem Vater in seinen Heimatort Michelsberg fährt. Dort sieht sie nicht nur unerwartet ihren Kindheitsfreund Julian wieder, sondern kommt auch einem lange totgeschwiegenen Familiengeheimnis auf die Spur und muss sich nicht zuletzt der Frage stellen, wer sie selbst ist und wie sie mit den Erinnerungen und historischen Besonderheiten, die sie und ihr Umfeld geprägt haben, umgehen will.
Der Titel Halber Stein, den Iris Wolff ihrem Buch um die Ich-Erzählerin Sine gibt, bezieht sich auf eine landschaftliche Besonderheit bei Michelsberg, einen augenscheinlich zerbrochenen Felsen, dessen zweite Hälfte fehlt. In ihm kommen zwei Grundzüge des feinsinnigen Romans zusammen, zum einen das Thema von Verlust und Vergänglichkeit, das nicht nur individuelle Schicksale, sondern auch die in ihrer über Jahrhunderte gewachsenen Gestalt vor dem Aus stehende Bevölkerungsgruppe der Siebenbürger Sachsen prägt, zum anderen aber die immense Bedeutung von Natur- und Umgebungsbeschreibungen, die ein entscheidendes Charakteristikum von Wolffs Erzählweise sind. Ob nun die spätsommerliche Landschaft, das ungewöhnliche Haus der Großmutter mit seinen verschiedenfarbigen Zimmern, seinem Garten und seinem vielfältigen Inventar oder die architektonischen Besonderheiten von Michelsberg und Hermannstadt, alles ist mit Bedeutung aufgeladen und für Sine voller Erinnerungen, die als kunstvolle Rückblenden mit der voranschreitenden Handlung in der Jetztzeit des Romans verwoben sind.
Ähnlich präzise und sensibel beobachtet sind die Figuren, die Gegenwart und Vergangenheit bevölkern: Sines alter Freund Julian, mit dem sie bald mehr als nur die Liebe zur Literatur teilt, der aber zugleich als Daheimgebliebener, dem ein Studium vorerst versagt war, auch wenn er sehr genau weiß, was er will, ihr Gegenbild ist, ihr Vater, ein Kunstmaler, dessen Verhältnis zu seiner Tochter im Zuge des gemeinsamen Abschieds von Agneta an Tiefe gewinnt, ihre Familie mütterlicherseits, die mit dem Kapitel Rumänien abgeschlossen hat oder haben will (und entsprechend physisch abwesend ist), allerlei Nachbarn und Bekannte der sympathischen oder der unersprießlichen Sorte und nicht zuletzt auch immer wieder Agneta selbst, die noch als Verstorbene ungeheuer präsent bleibt und deren schwierige Lebensgeschichte sich erst Stück für Stück enthüllt.
Zentral für die Erfahrungen aller Hauptfiguren ist dabei die Erkenntnis, dass man sich weder bei Menschen noch bei materiellen Habseligkeiten oder gar liebgewonnenen (Heimat-)Orten sicher sein darf, dass sie einem ewig erhalten bleiben werden, dass man aber durch die Erinnerung und durch ihre künstlerische Ausgestaltung (ob nun in Literatur, Malerei oder Handarbeit) eine Form des Umgangs mit dem Verlorenen finden kann, das es einem in gewisser Weise erhält.
Sprachlich ist all dies in eine sehr schöne Form gegossen, die sich angenehm liest und viel Gespür für Klang und Bedeutungsgehalt von Ausdrücken verrät, auch abseits der Passagen, die sich explizit damit befassen (etwa in Bezug auf Unterschiede zwischen dem Dialekt der Siebenbürger und den in Deutschland gängigen Bezeichnungen oder auf Sines Großmutter mütterlicherseits, die energisch Einfluss auf die Sprache ihrer Angehörigen zu nehmen versucht). Was vor dem Hintergrund dieses so bewusst anmutenden Sprachgebrauchs und der auch sonst spürbaren Einfühlsamkeit irritiert, ist allerdings die unbefangene Verwendung des nach heutigem Verständnis pejorativen Worts „Zigeuner“, obwohl parallel durchaus auch der neutrale Begriff „Roma“ auftaucht. Gerade angesichts dessen, dass der Roman die schwierige Situation einer Minderheit und ihre teils gezielte, teils unbewusste Diskriminierung sowohl in ihrer Heimat als auch in Deutschland schildert, hätte man sich hier einen reflektierteren Umgang mit einer anderen Minderheit erhofft.
Von diesem kleinen Stolpern abgesehen jedoch ist der Roman Halber Stein einer, der einen begeistern kann und den man sicher nicht nur ein einziges Mal lesen wird, sind doch Erzählkunst wie Inhalt ein mehrmaliges Einlassen auf ihren Zauber mehr als wert.
Iris Wolff: Halber Stein. Salzburg/Wien, Otto Müller Verlag, 5. Aufl. 2024, 296 Seiten.
ISBN: 978-3-7013-1319-8