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Lebendige Nacht

Ungeachtet aller Nachtschwärmer und Schlaflosen ist der Mensch im Großen und Ganzen ein tagaktives Wesen. Viele Tiere dagegen sind hervorragend an die Nacht angepasst. Eine Auswahl dieser speziellen Fauna stellt die für ihre Forschungen über Füchse bekannte Sophia Kimmig locker und unterhaltsam in ihrem neuen Buch Lebendige Nacht vor.

Bilchen, Eulen, Fledermäusen, Waschbären und Nachtfaltern ist dabei jeweils ein eigenes Kapitel gewidmet, während alternierend damit allgemeine Aspekte der Nacht (wie z. B. die Evolution nachtaktiver Tiere, aber auch die heute für viele Arten problematische Lichtverschmutzung durch die immer stärkere Beleuchtung menschlicher Siedlungen) abgehandelt werden. Den Abschluss jedes Kapitels bietet ein mit einer oft etwas augenzwinkernden Zeichnung der Autorin illustrierter „Fun Fact“, also eine kleine, interessante Information, die anderswo im Text keinen Platz mehr gefunden hat (etwa zu den besonderen Eigenschaften der Milche, die Kühe nachts geben).

Die abgehandelte Themenfülle ist dabei beachtlich, bringt es aber auch mit sich, dass nirgendwo allzu tief ins Detail gegangen wird, sondern am Ende eher ein buntes Potpourri biologischer Fakten und persönlicher Erlebnisse Sophia Kimmigs (ob nun im Zuge ihrer Forschungsarbeit oder privat) entsteht. So liest man von Nachtfaltern, die Fledermausrufe nachahmen können, unter der Erde hausenden Eulen und den Tücken des Fledermausfangs für wissenschaftliche Zwecke, aber auch vom Umgang der Autorin mit ihren Depressionen.

Wie schon in Sophia Kimmigs Fuchsbuch muss man sich an die streckenweise für Sachbuchverhältnisse doch recht umgangssprachliche Ausdrucksweise gewöhnen, und mit Popkulturanspielungen auf so manches zwischen Star Wars und Game of Thrones wird nicht gespart. Leicht „weglesen“ lässt sich die Lebendige Nacht daher ohne Probleme, aber man hat doch das Gefühl, aufgrund des weiter gefassten Themenspektrums und der loseren Gliederung nicht so tief in den Gegenstand einzusteigen wie in Von Füchsen und Menschen, sondern sich eher hier und da kleine Wissenshäppchen einprägen zu können. Eine vergnügliche Lektüre für Naturinteressierte bildet das Buch aber dennoch.

Sophia Kimmig: Lebendige Nacht. Vom verborgenen Leben der Tiere. München, Hanser, 2023, 272 Seiten.
ISBN: 978-3-446-27611-6


Genre: Sachbuch allgemein

Stadt, Land, Fuchs

Immer mehr Wildtiere sind in den letzten Jahren auch oder gar vor allem in den Städten anzutreffen. Warum das der Fall ist und welche Besonderheiten eine Auswahl von ihnen sonst noch aufweist, schildert der Biologe Josef H. Reichholf in Stadt, Land, Fuchs. Das Leben der heimischen Säugetiere. Ein erschöpfender Überblick über sämtliche in Deutschland und seinen Nachbarländern vorkommenden Säugetiere ist dabei nicht angestrebt, und auch in den Porträts der beispielhaft vorgestellten Arten wird nicht jedes Detail ihrer Biologie ausgelotet, sondern in leicht lesbarer und durchaus unterhaltsamer Form Wissenswertes über ihre Lebensweise und vor allem auch die Probleme, die das Zurechtkommen in einer vom Menschen dominierten Umwelt mit sich bringt, vermittelt.

Neben dem titelgebenden Fuchs begegnen einem so von eher kleinen Wesen wie Spitzmaus und Eichhörnchen bis hin zu beachtlich großen wie Wolf und Rothirsch allerlei Säugetiere, die sich ihren Lebensraum gezwungenermaßen mit uns teilen und darunter oft zu leiden haben. Über weite Strecke ist das Buch ein Anprangern der Art, wie heutzutage Landwirtschaft und Jagd betrieben werden, und ein Werben um eine bessere Koexistenz mit den Tieren auch auf dem Land und nicht nur im städtischen Raum. Jedem Kapitel ist eine schöne Illustration von Johann Brandstetter vorangestellt, die das jeweils im Zentrum stehende Tier wirkungsvoll in Szene setzt. Der Text selbst hat neben Aufrüttelndem und betroffen Stimmendem auch viel Amüsantes zu bieten, ganz gleich, ob es nun um straßenverkehrserfahrene Wildschweine, schwimmende Maulwürfe oder scheintote (und im unerwarteten Moment wieder zum Leben erwachende) Ziesel geht.

Allerdings muss man an Stellen, an denen Reichholf sich von seinem Fachgebiet entfernt, leider genau aufpassen, um keiner Fehlinformation aufzusitzen. So führt er das Wort Trophäe auf das griechische trophein, ernähren, zurück (S. 186 und noch einmal S. 207), eine ungewöhnliche Etymologie, da es eigentlich Konsens ist, den Begriff über das lateinische tropaeum vom griechischen tropaion herzuleiten, dem aus erbeuteten Waffen an dem Ort, an dem die Wendung (trope) des Feindes zur Flucht stattgefunden hatte, errichteten Siegesdenkmal (ein sprachlicher Zusammenhang, der z. B. noch an der französischen Bezeichnung Trophée des Alpes für ein altrömisches Siegesmonument deutlich wird). Auch heißt es über den berühmt-berüchtigten Elchtest, der vor Jahrzehnten Schlagzeilen machte, als ein Mercedes ihn nicht bestand, das Auto sei dabei „nach einer Kollision mit Europas größtem Hirsch umgestürzt“ (S. 211). Für den hypothetischen Elch kann man froh sein, dass es in der Realität nur um ein schnelles Ausweichmanöver ging.

So bleibt am Ende nach der Lektüre ein geteilter Eindruck zurück. Einerseits ist Stadt, Land, Fuchs ein lesenswertes und in seinem Eintreten für einen besseren Umgang mit den heimischen Säugetieren auch sehr wichtiges Buch, aus dem man viel Interessantes mitnehmen kann. Andererseits wünscht man sich doch, dass das Lektorat bei Kleinigkeiten abseits der Biologie inhaltlich besser aufgepasst hätte, und fragt sich unwillkürlich, ob bei den Kernthemen auch mit solchen Ungenauigkeiten zu rechnen ist. Das wäre schade, möchte man das äußerlich besonder schön gestaltete Werk doch eigentlich mögen und auf seine Zuverlässigkeit vertrauen können.

Josef H. Reichholf: Stadt, Land, Fuchs. Das Leben der heimischen Säugetiere. Mit Illustrationen von Johann Brandstetter. Berlin, Aufbau, 2022, 302 Seiten.
ISBN: 978-3-351-03856-4


Genre: Sachbuch allgemein
Illustrated by Johann Brandstetter

Raben

Raben sind als kluge Vögel bekannt, die nicht nur bei der Nahrungsbeschaffung einfallsreich sind, sondern auch intensive soziale Beziehungen pflegen. Aber wie genau lösen sie Probleme, wie reagieren sie auf Veränderungen, wie kommunizieren sie miteinander, welche Eigenheiten prägen ihr Zusammenleben und wie gehen sie vor, um sich in andere hineinzuversetzen und sie gegebenenfalls sogar zu täuschen?

Diese und noch viele weitere Fragen wirft der Verhaltens- und Kognitionsbiologe Thomas Bugnyar, der seit vielen Jahren sowohl an freilebenden als auch an in Gefangenschaft aufgezogenen Raben forscht, in seinem für ein breites Publikum gedachten Buch Raben auf und findet auf manche auch Antworten.

Detailliert, aber allgemeinverständlich schildert er zahlreiche Beobachtungen und vor allem auch Experimente, mit deren Hilfe er dem Denken und Handeln der Raben auf die Spur zu kommen versucht. So klug und ausgefeilt die gewählten Ansätze auch sein mögen, ist das nicht immer einfach – nicht zuletzt auch, weil Raben selbst Menschen liebend gern austricksen und weil jeder der Vögel seine eigene Persönlichkeit hat. Gerade dadurch aber bietet die Lektüre über interessante Forschungsergebnisse hinaus auch viele Momente, in denen man über die Interaktionen zwischen den Raben, „ihren“ und fremden Menschen, aber auch anderen Tieren schmunzeln kann. Denn obwohl die Verwandtschaft zwischen Raben und Menschen nur eine entfernte sein mag, gibt es hier und da doch erstaunliche Parallelen in Verhalten und Vorlieben. Kein Wunder also, dass der Autor, dessen wissenschaftliche Karriere in der Primatenforschung begann, auch die Überlegung anstellt, was wir aus der Beschäftigung mit Raben für unser menschliches Leben und unser Verhältnis zur Natur allgemein lernen können (gar nicht so wenig, wie sich zeigt).

Sympathisch ist, dass Thomas Bugnyar immer auch diejenigen würdigt und oft namentlich nennt, die im Rahmen ihres Studiums, ihrer Dissertation oder einer wissenschaftlichen Kooperation mit ihm zusammenarbeiten, und deutlich macht, in welch hohem Maße Forschung Teamwork und daneben bisweilen interdisziplinär und international ist.

Abgesehen vom Inhalt überzeugt auch die äußere Gestaltung des Buchs mit zahlreichen Abbildungen, farblich hervorgehobenen Überschriften und charmanten Details wie kleinen Rabensilhouetten. Allen, die sich für Raben oder für Verhaltensforschung interessieren, ist der schöne Band daher unbedingt zu empfehlen.

Thomas Bugnyar (in Zusammenarbeit mit Patricia McAllister-Käfer): Raben. Das Geheimnis ihrer erstaunlichen Intelligenz und sozialen Fähigkeiten. Wien, Brandstätter, 2022,
ISBN: 978-3-7106-0637-3


Genre: Sachbuch allgemein

Die Weisheit der Füchse

Ob Adele Brands Füchse. Unsere wilden Nachbarn oder Sophia Kimmigs Von Füchsen und Menschen: Fuchsbücher erfreuen sich seit einigen Jahren großer Beliebtheit. Mit Die Weisheit der Füchse bereichern nun Dag Frommhold und Daniel Peter die wachsende Liste um einen lesenswerten neuen Eintrag. Der Titel lehnt sich sicher nicht nur zufällig an Elli H. Radingers Die Weisheit der Wölfe an, sondern verrät schon viel über die zugrundeliegende Haltung: Die beiden im Fuchsschutz aktiven Autoren schreiben mit viel Einfühlungsvermögen und Sympathie über die cleveren und ziemlich liebenswerten Tiere, die schon längst nicht mehr nur in Wald und Flur, sondern auch in Städten anzutreffen sind.

Nach einem Vorwort der Fuchsforscherin Sophia Kimmig geht es in thematisch geordneten Kapiteln kreuz und quer durch alle Aspekte des Fuchslebens, von der sprichwörtlichen Schläue über Familienbande, Kommunikation, Konflikte und Spieltrieb bis hin zum oft verheerenden Umgang des Menschen mit dem Fuchs. Dass das Buch auch ein engagiertes Plädoyer gegen die Fuchsjagd ist, überrascht kaum, eher schon die Erkenntnis, dass auch falsch verstandene Tierliebe oft viel Unheil bei den Füchsen anrichtet, sei es nun, dass vermeintlich verwaiste Welpen vorschnell der Natur entnommen werden, oder dass Menschen ohne Vorwissen und geeignete Haltungsmöglichkeiten glauben, sich einen Fuchs als Haustier zulegen zu müssen.

Während das Leid, das Füchsen oft völlig unnötig zustößt, einem an die Nieren gehen kann, erfährt man aber auch immer wieder viel Nettes, Anrührendes und Amüsantes. So liest man, wie ein kluger Fuchs das Handy eines Fotografen entführt und schön weit entfernt von dessen Gepäck ablegt, um sich ungestört am darin befindlichen Leckerli-Vorrat gütlich tun zu können, während der Mann zur Handyrettung schreitet, lernt etwas über die perfekte Regenwurm-Jagdtechnik und erfährt von Freundschaften und Adoptionen unter Füchsen. Dag Frommhold lotet daneben auch immer wieder aus, welche Rolle dem Fuchs weltweit in Mythologie und Volksglauben zugewiesen wird, mit geographischem Schwerpunkt auf Europa und Asien, wo neben dem bekannten japanischen Kitsune noch manch andere übernatürliche Fuchswesen herumspuken.

Für alle, die sich primär für den Fuchs als Tier interessieren, sind manchmal in den Kapiteln von Daniel Peller die philosophischen Überlegungen dazu, was Menschen von Füchsen lernen können, fast schon zu ausgeprägt, was sich aber aus der Lebens- und Leidensgeschichte des Autors erklärt: Aufgrund einer schweren Erkrankung gezwungen, zwei Lungentransplantationen über sich ergehen zu lassen, schöpfte er Kraft aus seiner Beschäftigung mit Füchsen und ihrer Resilienz.

Zum Reiz des Buchs trägt in hohem Maße bei, dass es eine wahre Fundgrube wunderschöner Fuchsfotos ist. Vom Fuchs beim typischen Mäusesprung über sensible Porträtaufnahmen bis hin zum zusammengerollt schlafenden Welpen findet man in einem farbigen Tafelteil viel Betrachtenswertes in sehr guter Bildqualität, während überall im Text verstreut noch Schwarz-Weiß-Bilder auf einen warten. Ein von der Idee her gutes Extra sind die QR-Codes, die Zugang zu kurzen Videos mit Tonaufnahmen von verschiedenen Fuchslauten gestatten (ob es  an meiner Internetverbindung oder an der Website des Autors Daniel Peller liegt, dass die Videos bei mir leider ungewöhnlich langsam laden und nur stockend abgespielt werden, kann ich nicht beurteilen). Zusammen mit dem eingängigen Stil und dem interessanten Inhalt ergibt sich so eine gelungene Mischung für Fuchsfans und alle, die es werden wollen.

Dag Frommhold, Daniel Peller: Die Weisheit der Füchse. Schlau, verspielt und fürsorglich – was wir von den gewitzten Überlebenskünstlern lernen können. München, Ludwig, 2022, 400 Seiten.
ISBN: 978-3-453-28134-9

 


Genre: Sachbuch allgemein

Absolutely ausgesperrt

Stephan Orth fasst einen kühnen Plan: Im Pandemiesommer 2021 will er von London bis Newcastle durch ganz England reisen, aber so, dass er – von wenigen, eng umrissenen Ausnahmen abgesehen – weder einen Innenraum betritt noch Autos oder öffentliche Verkehrsmittel nutzt. Mit der Erkenntnis, dass es gar nicht so einfach ist, zu Fuß einen Flughafen zu verlassen, beginnt deshalb ein wilder Trip mit Camping in Gärten und am Straßenrand, der oft schwierigen Suche nach einer öffentlichen Toilette oder einer Essgelegenheit und allerlei weiteren zu bewältigenden Tücken. Ob es unter diesen erschwerten Bedingungen glücken kann, die schon fest gebuchte Fähre, die fünf Wochen nach Reisebeginn von Newcastle aus ablegen soll, zu erreichen?

Reiseberichte kennt man von Stephan Orth, ob nun in Form seiner beliebten Couchsurfing-Reihe oder als Expeditionsschilderung in Opas Eisberg. Während es sonst aber meist in aus mitteleuropäischer Sicht ferne und aufregende Gegenden von Grönland über Saudi-Arabien bis China geht, steht diesmal mit England ein eher nahes und scheinbar recht gut bekanntes Ziel im Mittelpunkt. Dass dabei dennoch das wohl bisher abgefahrenste Buch aus Orths Feder herausgekommen ist, liegt an der besonderen Situation einer Reise unter den Bedingungen der Corona-Pandemie und selbstgesetzter Vorgaben. Zwar sind in England im August 2021, als Orth dort eintrifft, die Bestimmungen im Vergleich zur Situation in Deutschland schon relativ locker, aber im Hintergrund ist die Seuche natürlich immer präsent.

Dass das Buch trotzdem eher amüsant und erhellend als beklemmend gerät, liegt an Orths unnachahmlicher Mischung aus Entdeckerfreude und Sprachwitz. Obwohl man selbst wahrscheinlich nicht in Versuchung gerät, die überlange Zelttour nachmachen zu wollen, die nur sehr begrenzte Möglichkeiten der Körperhygiene bietet und über weite Strecken auf einem doch äußerst speziellen Fahrrad bestritten wird, kann man an vielen Stellen herzlich lachen und lernt nebenbei ein England kennen, das so in den meisten Reiseführern nicht vorkommt.

Dabei werden auch durchaus ernste Themen wie Klimawandel und Rassismus angeschnitten, aber von Landschaft bis Streetart entdeckt Stephan Orth auch vieles, das schön und eindrucksvoll ist. Eingestreut in den Text sind immer wieder gesondert hervorgehobene Outdoor-Tipps für alle, die auch einmal abseits ausgetretener Touristenpfade wandeln wollen (obwohl – wie gesagt – den meisten eine weniger extreme Variante des Zivilisationsverzichts liegen dürfte, als sie hier teilweise praktiziert wird).

Wie schon in den Couchsurfing-Büchern sind es aber auch und vor allem die Begegnungen mit Menschen, von denen Absolutely ausgesperrt lebt. Stephan Orth trifft alle möglichen interessanten und sympathischen Leute, aber auch einige ziemlich seltsame Typen, ob nur kurz unterwegs oder zu längeren Gesprächen (teils samt Stadtführung oder Übernachtung auf einem Privatgrundstück). Die Vielfalt der englischen Gesellschaft – vom selbst schon weitgereisten Einwanderer über die Selbstversorger-Kommune bis hin zum ausländerfeindlichen Brexit-Befürworter – wird so zumindest schlaglichtartig fassbar.

Auch wenn man sich die ganze Zeit über fragt, ob die Schnapsidee zu Absolutely ausgesperrt nicht letztlich eine Notlösung gewesen sein könnte, weil Stephan Orths eigentliches Erfolgsmodell der Erkundung eines mehr oder minder exotischen Landes in Pandemiezeiten schlicht nicht umzusetzen war, ist das Buch also durchaus lesenswert und dank des leichten und amüsanten Stils auch schnell verschlungen.

Stephan Orth: Absolutely ausgesperrt. Wie ich 700 Kilometer durch England reiste und immer draußen blieb. München, Malik (Piper), 2022, 224 Seiten.
ISBN: 978-3-89029-567-1


Genre: Sachbuch allgemein

Von Füchsen und Menschen

Als anpassungsfähige Tiere, die sich in alle möglichen Lebensräume einfügen können, sind Füchse längst nicht mehr nur im Wald zu finden, sondern auch in Großstädten. Die Füchse von Berlin hat die Biologin Sophia Kimmig im Rahmen ihrer Dissertation erforscht. Was sie dabei herausgefunden, aber auch und vor allem selbst erlebt hat, schildert sie locker und amüsant in ihrem an ein allgemeines Publikum gerichteten Buch Von Füchsen und Menschen. Neben dem Text und einem Fototeil sind auch zahlreiche hübsche Zeichnungen enthalten, die von der Autorin stammen.

Zugegeben: An den teilweise etwas flapsigen Sprachstil muss man sich bei einem Sachbuch erst einmal gewöhnen, aber es lohnt sich, denn informativ, bisweilen ergreifend und oft auch urkomisch ist das, was Sophia Kimmig über Füchse zu erzählen weiß, allemal. Neben Allgemeinem zu Lebensweise und Verhalten von Füchsen erfährt man auch viel über die Geschichte ihrer Erforschung (bis hin zu seltsamen Zuchtexperimenten, die zahme Füchse, vergleichbar mit Haushunden, erzeugen sollten).

Das Hauptaugenmerk des Buchs liegt aber auf Berlin und seinen wilden Bewohnern, von denen auch noch einige weitere vorgestellt werden, sind doch in der Hauptstadt außer Füchsen auch Wildschweine, Kormorane, Kaninchen und Nebelkrähen, aber auch eingeschleppte Arten wie der Amerikanische Sumpfkrebs unterwegs. Einige Stadttiere wie Waschbären, Eichhörnchen, Igel oder Hauskatzen erleichtern Sophia Kimmigs Forschungsprojekt nicht unbedingt, denn bei dem Versuch, Füchse einzufangen und mit Halsbandsendern zu versehen, muss sie oft feststellen, dass ihre Köder eben gerade keine Füchse, sondern andere Neugierige in die Falle gelockt haben.

Von den dann doch noch besenderten Füchsen werden drei Fähen näher vorgestellt. Lebendig und unterhaltsam imaginiert Sophia Kimmig, welche Verhaltensweisen und Erlebnisse wohl zu den Bewegungsmustern geführt haben könnten, die sich dank der Sender nachvollziehen lassen, und die vierbeinigen Protagonistinnen wachsen einem rasch als Herz. Umso ernüchternder ist es, zu erfahren, dass zwei von ihnen mittlerweile durch menschliche Einwirkung ums Leben gekommen sind, denn obwohl Füchse in der Stadt in der Regel nicht bejagt werden, sind sie vor Giftködern und vor den Risiken des Straßen- und Schienenverkehrs natürlich nicht gefeit.

Diese bitteren Aspekte des Buchs werden aber durch humorvolle Schilderungen, die oft auch von Selbstironie geprägt sind, wieder ausgeglichen. Denn eine forschende Biologin, die in Berlin Füchsen auf der Spur ist, hat es offensichtlich nicht leicht, ganz gleich, ob sie nun von der Polizei als Gefahr für den Straßenverkehr betrachtet wird, es mit den Tücken eines Fernsehdrehs zu tun bekommt oder am Schloss Bellevue nur knapp einer Kollision mit dem Wachbataillon entgeht. Doch es gibt auch freundlichere Begegnungen mit den Menschen, die der Titel neben den Füchsen verspricht, so zum Beispiel mit einer Restauratorin auf einem Friedhof, der Belegschaft verschiedener Betriebe, auf deren Gelände Füchse hausen, oder Fuchsbegeisterten aller Art. Was das nun beendete Fuchsprojekt für Sophia Kimmig selbst bedeutet hat, wird erst ganz gegen Ende des Buchs deutlich, denn aufgrund ihrer damaligen Situation war ihre Doktorarbeit keine wie alle anderen.

So ergibt sich eine lesenswerte Mischung aus Fuchsbuch und persönlichem Erlebnisbericht, die einem nicht nur einiges über Füchse beibringt, sondern einen auch oft tief berührt und außerdem gut unterhält. Wer Füchse mag, kommt an diesem Buch nicht vorbei!

Sophia Kimmig: Von Füchsen und Menschen. Auf den Spuren unserer schlauen Nachbarn – als Wildbiologin unterwegs in der Großstadt. München, Malik (Piper), 2021, 255 Seiten.
ISBN: 978-3-89029-547-3


Genre: Sachbuch allgemein

Von Raben und Krähen

Rabenvögel sind bei manchen Menschen eher unbeliebt – sehr zu Unrecht, wie Britta Teckentrup findet, die in Von Raben und Krähen die faszinierenden Vögel kenntnisreich und voller Sympathie porträtiert. Dabei besticht das Buch durch seine wunderschönen, oft ganzseitigen Illustrationen und seine insgesamt gelungene Gestaltung (begonnen schon mit der Rückseite, auf der zwei Krähen munter den Barcode auseinandernehmen). Der künstlerische Anteil beschränkt sich aber nicht auf das Äußerliche, denn der Text umfasst neben interessanten biologischen und kulturhistorischen Fakten auch eine Sammlung literarischer Auftritte von Raben und Krähen.

Der Sachbuchteil kommt leicht und locker, aber nicht anspruchslos daher und vermittelt auf unterhaltsame Weise alle möglichen Informationen über Raben und Krähen, von ihrer Kommunikation über ihr Verhalten, ihre Lernfähigkeit und ihre Problemlösungsstrategien bis hin zu ihren Gefühlen (soweit diese für Menschen zu erschließen sind) – denn auch Rabenvögel können trauern und sind übrigens auch weitaus bessere Eltern, als die abfällige Bezeichnung „Rabeneltern“ erst einmal vermuten lassen könnte. Nebenbei werden auch noch kurz verschiedene Rabenvögel vorgestellt. Darunter sind heimische Arten wie der Eichelhäher und die Dohle, aber auch Tiere aus aller Welt, von denen man noch nicht unbedingt etwas gehört hat, wie etwa die Spatelbaumelster oder der Erzrabe.

Ein eigenes Kapitel ist den Raben in der Mythologie gewidmet, in der sie in den verschiedensten Kulturen eine wichtige Rolle spielen, von der Schöpfergestalt über mit Weisheit, Erinnerung und Magie assoziierte kluge Vögel bis hin zu wahren Unglücksboten, die als Aasfresser für Tod und Verderben stehen und darum nichts Gutes verheißen.

Die liebevoll zusammengetragenen literarischen Texte schließlich decken ein breites Spektrum ab, vom Raben in der Fabel bei Äsop über Märchen und Gedichte bis hin zu dem leider so tragisch endenden Hans Huckebein von Wilhelm Busch.

Zum Abschluss wird noch einmal die Beziehung zwischen Rabenvögeln und Menschen in den Blick genommen, die trotz aller Vorurteile eng ist (nicht nur, was Kuriosa wie die Raben im Londoner Tower betrifft): So sind gerade Krähen als Kulturfolger in vielen großen Städten vertreten, und man erfährt ein paar verblüffende Details darüber, wie sie sich in Berlin, New York und Tokio mit dem urbanen Leben arrangiert haben.

Ein Buch, um wissenschaftlich tief in das Thema einzusteigen, ist Von Raben und Krähen zwar nicht, aber eine anregende und in jeder Hinsicht liebevoll gestaltete Möglichkeit, etwas über Rabenvögel zu erfahren. Für alle Fans von Raben und Krähen ist dieses literarische Schmuckstück ohnehin ein Hochgenuss und wärmstens zu empfehlen.

Britta Teckentrup: Von Raben und Krähen. Berlin, Jacoby & Stuart, 2021, 164 Seiten.
ISBN: 978-3-96428-089-3


Genre: Kunst und Kultur, Sachbuch allgemein

Seelenfutter vegan

Sabine Schlimm und Susanne Bodensteiner sind ein bewährtes Team, wenn es um Kochbücher geht. Nun fügen sie ihrer Seelenfutter-Reihe, in der sie Wohlfühlgerichte für den Alltag präsentieren, mit Seelenfutter vegan einen neuen Band hinzu, der sich an alle wendet, die generell oder vielleicht auch nur manchmal ohne tierische Produkte auskommen möchten. Mit zumeist ganzseitigen Fotos von Julia Hörsch illustriert, ist das Buch schon beim Durchblättern ein Augenschmaus, aber natürlich lohnt sich auch und vor allem die Lektüre.

Anders, als der Titel vermuten lassen könnte, geht es bei den Seelenfutter-Qualitäten der vorgestellten Rezepte in den meisten Fällen nicht unbedingt um das nostalgische Nachkochen traditioneller Lieblingsgerichte aus der Kindheit, auch wenn sich unter dem Stichwort Seelenfutter-Klassiker Beiträge z.B. zu Kartoffelpuffern, Kartoffelsalat und Klößen in „Braten“-Sauce finden (allerdings meist mit einer frischen Abwandlung, die das Gewohnte etwas aufpeppt – z.B. wird zu den Kartoffelpuffern nicht das typische Apfelmus serviert, sondern ein Apfel-Kürbis-Kompott mit Ingwer). Vielmehr sind hier, ähnlich wie schon im Vorgängerband One Pot Soulfood, Rezepte nach Inspirationen aus aller Welt versammelt, die in manchen Fällen auch etwas exotischere Zutaten wie Tamarindenpaste oder chinesischen Chinkiang-Essig erfordern. Aber keine Sorge: Oft sind auch Alternativen angegeben, falls man nicht alle Bestandteile problemlos auftreiben kann.

Geordnet sind die Rezepte nach Jahreszeiten und kommen so allen entgegen, die gern mit saisonal verfügbaren Produkten kochen. Ein abschließender Abschnitt zu Pflanzenpower rund ums Jahr versammelt alles, was nicht an Frühling, Sommer, Herbst oder Winter gebunden, sondern ständig verfügbar ist. Es dominieren zwar Hauptgerichte, aber am Ende jedes Kapitels gibt es auch etwas Süßes für Dessert- und Gebäckfans. Der Seelentrösterfunktion des Buchs besonders gut gerecht wird der hohe Anteil von Suppen- und Pastagerichten, ob es sich nun um Spaghetti mit rauchiger Bohnencreme, Pasta mit Miso-Kürbis oder Ofentomatensuppe mit weißen Bohnen handelt. Ansonsten reicht die Bandbreite vom Auberginen-Curry über Steinpilzragout mit Cognac und Okonomiyaki (japanische Weißkohlpfannkuchen) bis hin zum dekadenten Bohnen-Burger mit Röstzwiebelcreme. Als i-Tüpfelchen kommen noch so nette Ideen wie ein aus Gemüse gelegtes Blumenmuster auf einer Bunten Garten-Quiche hinzu.

Auch die einleitenden Abschnitte und in den Rezeptteil eingeschobenen Sonderseiten – einmal zu den oben schon erwähnten Seelenfutter-Klassikern, dann aber auch zu Genussjokern (womit besonders leckere Zutaten wie Bärlauch oder Steinpilze gemeint sind) – sollte man keinesfalls überblättern, sondern aufmerksam lesen, denn neben Grundlageninformationen zu den jeweiligen Nahrungsmitteln finden sich hier Zusatzrezepte und viele praktische Tipps, die gerade denjenigen, die noch nicht viel Erfahrung mit veganer Küche haben, sehr weiterhelfen können.

Jedes einzelne Rezept ist übrigens noch mit einer launigen kleinen Einleitung versehen, die einen beim Lesen schmunzeln lässt, wie die Autorinnen überhaupt deutlich machen, dass nicht nur das Essen an sich ein Stimmungsaufheller sein kann, sondern auch die Zubereitung (selbst dann, wenn es einmal schnell gehen muss und man es sich mit einem Fertigprodukt wie einem Flammkuchenteig leicht macht – doch für diejenigen, die Fertigem lieber ganz aus dem Weg gehen wollen, gibt es auch Hinweise, wie man Ersatz selbst zubereiten kann, z.B. bei veganer Mayonnaise).

Wie gewohnt sind die Rezepte jeweils für zwei Personen berechnet, was gerade kleineren Haushalten sehr entgegenkommt. Angenehm für alle, die – wie die Rezensentin – zwar durchaus gern mit pflanzlichen Zutaten kochen, aber nicht gezielt vegan leben, ist an den Rezepten auch, dass sich vieles problemlos gegen Produkte tierischen Ursprungs austauschen lässt, wenn man Lust darauf hat (so gibt es z. B. bei den höchst verlockenden Pappardelle mit Wildpilz-Tomaten-Sugo eine Anleitung, wie man aus Cashewkernen Parmesanersatz zaubern kann, aber sie schmecken auch prima mit richtigem Parmesan). Das Register schließlich erleichtert durch die farbliche Hervorhebung von Hauptzutaten (wie Apfel, Nudeln oder Paprika) den Überblick und lässt einen schnell aufspüren, wonach man sucht.

Dank all dieser Qualitäten ist Seelenfutter vegan ein gelungenes Kochbuch für Neugierige und Experimentierfreudige, die neben modernen Interpretationen klassischer Gerichte vor allem auch Anregungen aus aller Herren Länder zu schätzen wissen.

Susanne Bodensteiner, Sabine Schlimm: Seelenfutter vegan. Sattmacherrezepte, die glücklich machen. München, GU (Gräfe und Unzer), 2021, 192 Seiten.
ISBN: 978-3-8338-8018-6


Genre: Sachbuch allgemein

Der Strandsammler

Der Strand als Übergangsort zwischen Land und Meer ist immer für überraschende Entdeckungen gut, ob nun äußerlicher Art oder auch, was menschliches Verhalten betrifft. Küstenbewohner wie Urlauber werden von ihrem Kontakt mit dieser Landschaft geprägt und prägen sie doch auch ihrerseits. Es ist diese Vielfalt, die Oliver Lück in seinem Buch Der Strandsammler am Beispiel der Strände Norddeutschlands erfahrbar macht.

Schon der Einstieg, der sich mit Besonderheiten der norddeutschen Sprache befasst, bringt einen zum Schmunzeln und ist sehr treffend. Locker aneinandergereiht folgen darauf auch gut einzeln lesbare Kapitel, deren Stil den Hintergrund des Autors als Journalist schon ahnen lässt und die sich mit allem Möglichen befassen, was einem am Strand auffallen kann: Der allgegenwärtige Sand erfährt hier ebenso Aufmerksamkeit wie typische Strandfunde, schöne wie Bernstein oder Treibholz, aber auch traurige wie die Müllmassen, unter denen die Meere mittlerweile leiden, oder auch Rettungsringe, die von Schiffskatastrophen zeugen. Lebewesen wie Algen und Wattwürmer haben natürlich auch ihren Auftritt, und man erfährt Erstaunliches über die Bedeutung von Quallen und Seepocken für die Forschung. Aber vor allem sind es die Menschen, die immer wieder im Mittelpunkt stehen, vom Verlegerpaar, das Regionalkrimis unter die Touristen bringt, über die Halligbewohnerin, die mit Queller kocht, bis hin zu den Versendern und Findern von Flaschenpost.

Das ist schon an und für sich nett zu lesen, aber besonders ansprechend wird das kleine Buch durch seine liebevolle Gestaltung: Die Illustrationen von Lena Steffinger sind charmant und von skizzenhafter Leichtigkeit, aber darüber hinaus gibt es auch noch in den Text eingestreute Zusatzseiten, die den Leser mit einbeziehen. Denn neben einem Muschelrezept oder Erste-Hilfe-Tipps für unerfreuliche Begegnungen mit Quallen findet man hier auch die Anregung, eigene Notizen und Skizzen in den Strandsammler einzufügen, eine Flaschenpost auf die Reise zu schicken oder ein Mülltagebuch über vom Meer Angeschwemmtes zu führen. Trotz aller ernsten Themen, die angeschnitten werden, kommt damit auch ein spielerisches Element ins Buch und sorgt dafür, dass einem die Lektüre fast so etwas wie Urlaubsgefühl beschert, auch wenn man gerade fern vom Meer sein mag.

Oliver Lück: Der Strandsammler. Hamburg, Rowohlt, 2021, 144 Seiten.
ISBN: 978-3-498-00235-0

 


Genre: Sachbuch allgemein

Europa. Die ersten 100 Millionen Jahre

Europa als eigener Kontinent entstand vor etwa 100 Millionen Jahren, zunächst als reine Ansammlung von Inseln. Welchen Verlauf die Naturgeschichte hier seitdem genommen hat und wie sie erforscht worden ist, zeichnet der Biologe Tim Flannery in Europa. Die ersten 100 Millionen Jahre bildgewaltig, anspielungsreich und in munterem Ton für ein allgemeines Publikum nach. Das könnte unterhaltsam und auch inhaltlich packend sein. Allerdings ist mir selten ein Sachbuch begegnet, das gleichzeitig so gut geschrieben ist und doch ein derart profundes Unbehagen angesichts des Umgangs des Autors mit seinem Gegenstand weckt.

Das Positive vorab: In recht kurzen und leicht verständlichen Kapiteln erfährt man hier vieles über die europäische Natur und insbesondere Fauna, von den Dinosauriern über ausgestorbene Säugetiere wie Mammuts oder Auerochsen bis hin zu invasiven Arten in der Neuzeit. Deutlich wird auch, wie sehr der menschliche Einfluss von der Steinzeit an die Umwelt prägte und welche Gefahren in heutiger Zeit von Klimawandel und industrieller Landwirtschaft ausgehen. Ähnlich wie Madelaine Böhme in ihrem empfehlenswerteren Buch Wie wir Menschen wurden greift Flannery mehrfach zum Stilmittel der imaginierten Zeitreise, um urzeitliche Landschaften heraufzubeschwören. Wissenschaftliche Nüchternheit dagegen ist nicht seine Stärke. Oft wertet er sehr subjektiv (z.B., wenn er sich ausführlich darüber verbreitet, wie wenig er Schweine mag und wie schlecht ihm daher auch bestimmte urzeitliche Exemplare gefallen).

Spätestens ab der Stelle, an der der moderne Mensch auf den Plan tritt, wird es insgesamt noch sonderbarer, und das nicht nur, weil sich hier und da sachliche Fehler einschleichen (als Mediävistin liest man etwa mit Befremden, dass die Langobarden sich schon „im Jahr 600 vor Beginn unserer Zeitrechnung“ in Italien aufhielten [S. 210] oder dass die Europäer angeblich nach einem finsteren Mittelalter erst im 15. Jahrhundert dank antiker Texte wieder erkannten, „dass die Welt rund“ ist [S. 275] – ein alter Forschungsirrtum, den man eigentlich längst überwunden glaubt).

Vielmehr ist von den Menschen, die sich Europa ausbreiten, offensichtlich insgesamt nicht viel zu halten: Die durch Genuntersuchungen belegte Vermischung von modernen Menschen und Neandertalern wird nicht als friedlicher Kontakt geschildert, sondern in der Form, dass Menschenmänner Neandertalermänner ermorden und die Neandertalerfrauen zum Austragen ihrer Kinder zwingen. Auch die steinzeitliche Kunst ist für Flannery von männlichen Künstlern dominiert, die allerdings in Wahrheit gar keine Künstler, sondern gelangweilte Teenager sind, die bis auf blutige Jagden und nackte Frauen nicht viel im Kopf haben und daher unbeholfene Graffiti mit diesen Sujets schaffen. Den alten Römern dagegen wird weniger der Raubbau an der Natur vorgeworfen, den sie teilweise zweifelsohne betrieben, als die Tatsache, dass sie keine neuen Tierarten domestiziert hätten – für Flannery offenbar ein Versäumnis, das mehrfach betont werden muss.

Vollends seltsam mutet schließlich Flannerys Schwerpunktsetzung in der Schilderung der Forschungsgeschichte an. Denn wenn an den Wissenschaftlerschicksalen, die er vorstellt, eines auffällt, dann, dass viele von ihnen mit einem Selbstmord enden, bei dem oft auch noch die Methode beschrieben und zum Teil mit eher zynisch anmutenden Überlegungen kommentiert wird. Der Eindruck einer unguten Begeisterung des Autors für das Thema drängt sich daher auf.

Verglichen damit wirken Flannerys Überlegungen, man solle doch in Europa Elefanten und Löwen ansiedeln, da es sie dort vor langer Zeit einmal gegeben habe und man den Erhalt dieser Tierarten nicht allein den Afrikanern zumuten dürfe, geradezu harmlos, wenn auch etwas bizarr. Ob man seine am Ende entwickelte Zukunftsvision eines Europa, in dem die Bevölkerung und die in Gewächshäuser verlagerte Landwirtschaft sich auf Städte konzentrieren, während die umliegende Wildnis mit ihren Kreuzungen aus Mammut und Elefant zur Touristenattraktion geworden ist, für eine Utopie oder doch eher für ein Schreckensszenario hält, ist wohl Geschmackssache. Nicht nur deshalb ist Europa ein Buch, das einen am Ende mehr oder minder ratlos zurücklässt, obwohl es durchaus einige interessante Informationen zu bieten hat.

Tim Flannery: Europa. Die ersten 100 Millionen Jahre. Berlin, Insel (Suhrkamp), 2019, 384 Seiten.
ISBN: 978-3-458-17822-4


Genre: Geschichte, Sachbuch allgemein