Archive

Das öde Land und andere Geschichten vom Ende der Welt

Apokalyptisches ist der Phantastik nicht fremd, ganz gleich, ob es nun um den allumfassenden Weltuntergang geht oder der Mikrokosmos vielleicht nur einer einzigen Person der Vernichtung anheimfällt. So sind es auch ganz verschiedene Enden, die Oliver Plaschka in seiner Kurzgeschichtensammlung Das öde Land und andere Geschichten vom Ende der Welt vereint, wobei dieses Ende in manchen Fällen auch räumlich statt zeitlich zu verstehen ist, wenn es um entlegene Gebiete oder Berührungspunkte zwischen alltäglicher Realität und Übernatürlichem geht. Melancholie und Tod sind aber auch dann nie sonderlich weit entfernt. Vom Märchen bis zur Science Fiction sind alle möglichen Genres abgedeckt, und enthalten sind sowohl Texte, die schon im Rahmen anderer Anthologien erschienen sind, als auch Erstveröffentlichungen. Teilweise knüpfen sie an frühere Werke des Autors an, aber Vorkenntnisse sind nicht notwendig, da er in einem ausführlichen Vorwort sowohl diese Querverbindungen erläutert als auch seinen literarischen Werdegang und einige der Einflüsse, die sein Schaffen prägen, skizziert.

Den Einstieg bildet mit Der Heimkehrer eine Geschichte, die vordergründig nur von der Anreise eines etwas eigenen älteren Mannes mit Tochter und Schwiegersohn zu einer Hochzeit handelt, diese Ausgangssituation aber nutzt, um schrittweise auf eine traumatisierende Vergangenheit und ihre bis in die erzählte Gegenwart reichenden Folgen hinzuführen, gleichwohl mit für die Maßstäbe dieser Sammlung relativ tröstlichem Ausgang.

Drachenschwingen hat ein besonderer Wasserspeier, ohne sie allerdings, auf seiner Kirche fest verankert, nutzen zu können, so dass er die Welt nur in Gesprächen mit allerlei Besuchern an seinem luftigen Aufstellungsort entdecken und dabei zu mancherlei erstaunlichen Erkenntnissen gelangen kann, während er selbst zunächst eine Konstante in sich wandelnden Zeiten bleibt.

Der Fall des verwunschenen Schädels sollte eigentlich von dem berühmten Detektiv Sherlock Holmes gelöst werden, der inkognito auf Haiti auf der Suche nach dem titelgebenden gestohlenen Museumsstück ist, doch als nur noch Voodoo weiterhelfen kann, haben weder er noch sein alter Freund Dr. Watson mehr die Zügel in der Hand – was also hat eine ungewöhnliche Frau, die der Ermittler um Unterstützung bittet, über die Ereignisse zu erzählen?

Deprimierender kommt Ruthie daher, kreuzen sich hier doch die Wege zweier auf jeweils ganz eigene Art dem Untergang geweihten Personen, eines herumirrenden Kranken und eines Obdachlosen, der vielleicht nicht ganz so abgeklärt ist, wie er sich gibt.

Die Insel erzählt – ohne übernatürlichen Einschlag, aber sehr differenziert und menschlich – von einer ersten Liebe, einem klassischen Aufbruch ins Abenteuer und einer Rückkehr, allerdings, und das macht den Reiz aus, nicht wie üblich aus der Perspektive der in die Ferne ziehenden Gestalt sondern aus dem Blickwinkel einer mehr oder minder am Ende der Welt zurückbleibenden. Schön ist hier, dass die Erzählsituation, in der die Ich-Erzählerin berichtet, greifbar wird, etwas, das bei Geschichten in der Ich-Perspektive beileibe keine Selbstverständlichkeit ist.

Verstörender wird es in Solis’ Stimme, denn hier mischt sich ein guter Schuss Horror in das Science-Fiction-Setting, wenn die Titelgestalt auf einmal eine sonderbare Stimme hört, die vielleicht nicht gar so sehr Einbildung ist, wie es Außenstehenden erscheinen könnte, und das ungeahnte Folgen hat.

Die Frau, der Magier, seine Katze und ihr Geheimnis entführen nach Paris zur Zeit der Weltausstellung, und man erfährt nicht nur, dass es mit dem Eiffelturm mehr auf sich hat, als man ihm zutrauen würde, sondern bekommt auch ein tiefgründiges Ausloten von Fragen der Identität in verschiedenen Lebensphasen und -situationen geboten.

Hat das noch seine tröstlichen Elemente, ist Die kreisende Schwärze, die als Einsatzbericht einer Raumschiffbesatzung abgefasst ist, ungefähr so schaurig, wie der Titel suggeriert, denn wenn ein seelenverschlingendes Schwarzes Loch mit im Spiel ist, kann die Sache ja nicht gut ausgehen.

Solomons Märchen bietet dagegen trotz aller ernsten Themen, die darin mit anklingen, einen hochwillkommenen Schuss Humor, wenn zwei recht unterschiedliche Charaktere sich zusammentun, um den letzten Wunsch eines Verstorbenen zu erfüllen und einen sehr speziellen Einbruch zu begehen, um an ein anders nicht zu erhaltendes Dokument zu gelangen.

Einen krassen Gegensatz dazu bildet atmosphärisch Die Grenze, denn alle Grenzen, auf die es ankommt, hat ein geiselnehmender Guerillatrupp, der sich unter einem recht dämonisch anmutendem Anführer durch die Wildnis kämpft, wohl schon längst überschritten, so dass auch die Erzählergestalt, ein Mitglied der kleinen Schar, nicht unbedingt sympathisch daherkommt. Der Verlauf der Ereignisse ist zwar zwingend und überzeugend geschildert, aber alles andere als ersprießlich.

Jenseits der Mauer des Morgens mutet nur auf den ersten Blick harmloser an, denn die Anzeichen, dass das vermeintlich traute Beisammensein eines Paars in einem Wohnzimmer vor malerischer Bergkulisse nicht das ist, was es zu sein scheint, sind von Anfang an clever in den Text eingestreut und führen auf einen ernüchternden Schluss hin.

In Jimberlyne, Jimberlyne wird es märchenhaft, allerdings nicht auf friedlich-zauberhafte Art, sondern wieder mit deutlichen Abstechern in den Horror, wenn ein Holzfäller und seine Frau Drastisches (und drastisch Geschildertes) in einem Grauen Wald, dessen Name wohl nicht umsonst das „Grauen“ suggeriert, am Ende der Welt erleben und nicht unbedingt unbeschadet daraus hervorgehen.

Der blinde Passagier dagegen ist im Orient-Express unterwegs und greift das schon in der Sherlock-Holmes-Episode genutzte Motiv von Diebstählen einiger Objekte mit nicht ganz astreiner Provenienz aus dem British Museum wieder auf. Die Titelfigur hat angeblich eine kostbare Krone im Gepäck und einem Mitreisenden darüber eine schier unglaubliche Geschichte zu erzählen, die, kaum dass sich die Wege der beiden wieder getrennt haben, auf ein effektvoll genutztes offenes Ende zusteuert.

Von Anfang an düsterer ist die Stimmung, wenn ein Wissenschaftler sich durch Das öde Land, in diesem Fall die Antarktis, zu einer Forschungsstation nach der anderen durchkämpft und nicht nur grausige Entdeckungen macht, sondern auch mit sich selbst und dem, was er in mehr als einer Hinsicht getan hat, fertigwerden muss – ein Schlusspunkt für die Geschichtensammlung, der einem einen Schauer über den Rücken jagt.

So vielfältig und unterschiedlich die hier versammelten Texte auch sind, einige Motive kehren wieder und prägen den Grundton: das des Verlusts des Partners oder der Partnerin in einer Liebesbeziehung, die Frage nach Wandlungen des eigenen Ichs im Laufe eines Lebens (von unterschiedlichen eingenommenen Rollen über Wiedergeburtsvorstellungen bis hin zur drohenden oder tatsächlichen Fremdbestimmung durch andere Individuen oder unabwendbare Umstände wie Krankheiten) und das des Ausgeliefertseins an eine Welt, in der die eigenen Spielräume oft geringer sind, als man es sich vielleicht wünscht oder ausmalt. Trotz aller Abenteuerelemente und mancher Auflockerung ist das emotional keine ganz leichte Kost.

Ein „schönes“ Buch in dem Sinne, dass man auf ein ausgesprochen wohliges Lektüreerlebnis hoffen dürfte, ist die vorliegende Anthologie also nicht, aber doch ein sehr lesenswertes, und das aus zwei Gründen nicht nur für Fans des Düsteren und Beängstigenden. Zum einen ist man unweigerlich angetan von einer Erzählkunst, die sprachliches Geschick (etwa in Form klug genutzter Tempuswechsel) mit einem exakten Gespür für den stimmigen Aufbau einer Geschichte verbindet. Zum anderen verfügt Oliver Plaschka über die seltene Fähigkeit, auch Figuren, die sehr traurige Schicksale erleiden, einfühlsam und ohne Voyeurismus zu schildern (wie es etwa auch sein Rustichello da Pisa in Marco Polo beweist). Dadurch sind auch Grundideen zu ertragen, die in anderen Händen vielleicht schnell zu viel des Guten hätten werden können. So ist der Ausflug ans Ende der Welt (in welcher Bedeutung auch immer) auf alle Fälle zu empfehlen.

Oliver Plaschka: Das öde Land und andere Geschichten vom Ende der Welt. Meitingen/Erlingen, Verlag Torsten Low, 2016 (E-Book; auch als Taschenbuch erhältlich).
ISBN: 978-3-940036-58-2


Genre: Anthologie

wildwechsel ins nichts

Das Ländliche als Kontrast zum Städtischen und als Hort des Ursprünglichen und Naturnahen, aber auch immer wieder Erschreckenden ist seit langem ein bewährtes Thema in der Literatur, doch es gibt dazu durchaus noch Neues zu sagen, wie Charline Winter in ihrem gelungenen Gedichtband wildwechsel ins nichts beweist. Laut Nachwort unter anderem von eigenen Erfahrungen der Autorin mit der besonderen Atmosphäre einer brandenburgischen Kleinstadt während des ersten Corona-Lockdowns inspiriert, soll die hier präsentierte Lyrik, so das Versprechen des Klappentexts, „das unterschwellige Grauen, das im Ländlichen wohnt“, einfangen – und dieser Plan geht auf.

Die Gedichtsammlung, durch die Wölfe streifen und in der Menschen mit sich selbst ebenso sehr zu ringen haben wie mit den Eigenheiten einer fabelwesendurchdrungenen, heimatbietenden und doch stets unterschwellig krisenhaften ländlichen Welt, vereint sensible Naturschilderungen, Nachdenkliches und unendlich viel Abgründiges (das im mehrfach wiederkehrenden, Grenzerfahrungen und „liminal spaces“ evozierenden Begriff der kante schon anklingt).

wildwechsel ins nichts ist dabei ein Buch, das man nicht nur deshalb konzentriert lesen muss, weil es darin keine Halt und Anhalt bietende Großschreibung gibt. Dafür wird der Blick oft auf andere Art durch Spielereien mit der Textanordnung gelenkt, etwa im Gedicht spätjanuar., in dem die Verse der ersten Strophe Zeile für Zeile immer weiter zusammenschrumpfen, so dass der letzte nur noch aus einem einzigen Buchstaben besteht. Jähe Worttrennungen nutzt Charline Winter gleichermaßen zielgerichtet, um die jeweilige Aussage zu verstärken (wenn beispielsweise gesprächspau sen genau so auf zwei Verse aufgeteilt sind) oder schlicht das Publikum beim Lesen zu irritieren und zum aufmerksamen Hinschauen zu zwingen.

Auch abseits der so virtuos genutzten Form stößt man inmitten subtiler Anspielungen (ob auf Münchhausen oder auf die Sagenwelt in Form eines Gegenbilds zur Mittagsfrau) immer wieder auf viel Überraschendes und Unerwartetes, sowohl inhaltlich (wenn etwa unversehens auf dem Acker eine Kosmonautin auftaucht) als auch in den oft herrlich bildhaften und einprägsamen Formulierungen (ob nun ein ausgefranster Geist oder gar ein hinterhältiger sommer lauert, ein braches gleis ins Nirgendwo läuft oder noch ein nachhall von regen zu spüren ist). Gerade das Trostlose und Finstere wird so in Sprache gegossen, und der beteuernd mehrfach wiederholten Versicherung es wohnt nichts böses hier sollte man auf keinen Fall trauen.

Manchmal ist das Unheimliche ganz klassischer Spuk, wenn etwa die ratschläge einer maklerin. zu einer ganz besonderen Behandlung eines Hauses mahnen, in dem man sonst Unschönes erleben könnte. Dann wieder sind wie in ich fühl’s nicht., der Schilderung eines Suizids und der Reaktionen der Überlebenden darauf, die Untiefen und ihre tödlichen Folgen alltäglicher und gerade darum umso verstörender. Das alles kann in der Schilderung recht drastisch geraten (so die wohl im übertragenen Sinne zu begreifende, aber intensiv in körperlichen Bildern ausgemalte Selbstverstümmelung bis -zerlegung in nackt.).

Vor diesem Hintergrund ist es ganz gut, dass es bisweilen doch einen unerwarteten Anflug von Trost inmitten all der Düsternis gibt, damit die welt nicht zu scharfkantig ist, und so stiehlt sich bei der Lektüre dann manchmal doch noch ein kleines Lächeln zwischen Schaudern und Nicken. Auf alle Fälle ist diese Poesie voller Horror, aber nicht ohne einen Hauch von Hoffnung eine Entdeckung für alle, die sich einmal abseits der Hauptstraßen auch auf die Wildwechsel der Literatur wagen möchten.

Charline Winter: wildwechsel ins nichts. Gedichte. Norderstedt, Books on Demand, 2024, E-Book (auch als Taschenbuch erhältlich).
ISBN: 978-3-7693-7979-2


Genre: Anthologie

Haiku experimentell

Ein Haiku ist ein Gedicht mit 17 Silben, die sich im Schema 5 – 7 – 5 auf drei Verse verteilen? Nicht immer und nicht ganz, denn auch, wenn das die Form ist, die sich im Westen als gängigste Haiku-Variante etabliert hat, wird sie dem japanischen Vorbild nicht unbedingt gerecht, wie Heike Baller im ausführlichen Vorwort zu ihrem neuen Gedichtband Haiku experimentell angeregt durch einen Artikel des Literaturwissenschaftlers Arata Takeda erläutert. Denn aufgrund der ganz unterschiedlichen Struktur der Sprachen rechnet man bei japanischen Gedichten nicht nur eher in Moren als in Silben, sondern muss auch den jeweiligen Informationsgehalt einer Silbe oder Mora in Betracht ziehen, der in indogermanischen Sprachen wesentlich höher sein kann. Westliche Übersetzungen japanischer Haiku erscheinen Takeda daher überladen, so dass er für eine sparsamere Form zu nur 10 Silben plädiert. Auch weitere Spielregeln des japanischen Vorbilds, so die klare Verortung in einer Jahreszeit durch einen entsprechend konnotierten Begriff oder das Einfügen einer überraschenden Wendung auf knappstem Raum, werden in westlichen Nachdichtungen oder Neukreationen nicht immer beherzigt.

Sind also alle vermeintlich typischen Haiku, mithin auch die aus Heike Ballers früheren Gedichtbänden,1 eigentlich falsch? Mitnichten, denn eine literarische Form lässt sich eben nicht exakt in einer ganz anders strukturierten Sprache nachbauen, sondern muss adaptiert werden, und das auch gern, wie der Titel verspricht, experimentell.

So finden sich in diesem neuen Band, der wieder kürzer als der sehr umfangreiche vierte ist, durchaus noch Haiku im gewohnten Schema:

Auch sonst ist vieles geblieben, was man an Heike Ballers Texten kennt und schätzt, seien es nun kleine Anspielungen (so hat Mein Freund, der Baum einen Auftritt) oder die Freude daran, einen aufs Glatteis zu führen (programmatisch über der ganzen Sammlung könnte auch der Vers Ich seh es gleiten … ! stehen) und mit ungeahnten Wendungen zum Lachen oder zum Nachdenken zu bringen.  Deutet ein Windiger Gefährder erst einmal auf terroristische Umtriebe hin, hat es mit ihm etwas ganz anderes auf sich, während umgekehrt manches, was erst einmal als lyrisches Schwelgen in der Natur anmutet, sehr unromantische Ursachen in menschlichem Wirken hat. So kann man sich im Voraus nie ganz sicher sein, ob es poetisch, melancholisch und zu Herzen gehend wird, wie im kleinen Gedicht vom Nachtigallruf, das eine ganze Welt aufschließt, oder ob man mit viel Humor (von trocken bis schwarz) gezwungen wird, den Blickwinkel schlagartig zu ändern.

Aber stärker als jemals vorher spielt die Dichterin mit der Form, bricht Erwartungen und verlangt einem ein wenig mehr ab, als sich in den vertrauen Rhythmus fallen zu lassen und den Inhalt bis zu einem gewissen Grade losgelöst von der sprachlichen Gestaltung zu betrachten. Hier kann auch schon einmal ein Punkt allein den dritten Gedichtvers bilden, während er anderswo als schließendes Satzzeichen gezielt weggelassen ist und den eingefangenen Eindruck ohne klares Ende offen schweben lässt. Apropos schweben: Neben den Natureindrücken aus Flora und Fauna spielen diesmal Wolken eine große Rolle, ob ihnen nun ein (somit im Ursprung nicht allzu phantastisch-märchenhaftes) Drachenbaby entschlüpft oder ein ganzes Wolkenmaskenspiel den Blick in der Dämmerung bannt.

Ohnehin sind es die ganz eigenen Wortkreationen, die den Hang des Deutschen zu zusammengesetzten Substantiven voll ausnutzen, die Heike Ballers Sprache ihren besonderen Charme verleihen. Von den Waldgesprächsfetzen über den Angstlustjuchzer bis zum Wolkenwandelbild lässt sich hier einiges entdecken. Aber ganz der Zielsetzung getreu, hier mit Haiku zu experimentieren, gibt es auch Abstecher in Fremdsprachen (neben Englisch diesmal auch Französisch).

Fotos, die Gedichte illustrieren und Stimmungen unterstreichen, fehlen in diesem Band; stattdessen sind als Gliederungselemente drei Liedanfänge mit Noten eingefügt (das Kirchenlied Nun ruhen alle Wälder, ein Alle Vögel sind schon da mit augenzwinkernd angepasstem Text und We shall overcome), die deutlich machen, dass die Themen Naturbeobachtung, Spiritualität und menschliches Zusammenleben, die teils offen, teils subtil immer in Heike Ballers Haiku mitschwingen, auch in diesem Fall mit von der Partie sind.

So bietet Haiku experimentell eine lohnende, unterhaltsame und durchaus auch fordernde Lektüre, die eines zeigt: Ganz gleich, welchen Gestaltungsprinzipien sie folgen mögen und in was für einer Sprache sie verfasst sind, Haiku sind auch und vor allem Gedichte, die zum Mitdenken einladen und gerade in ihrer Knappheit Raum für eigene Assoziationen und Überlegungen lassen.

Heike Baller: Haiku experimentell. Norderstedt, Books on Demand, 2024, 86 Seiten.
ISBN: 978-3-7693-0936-2

 

  1. Meine Besprechungen der 4 älteren Gedichtbände von Heike Baller sind hinter den folgenden Links zu finden:
    Mein Jahr in Haiku
    Stadt – Natur
    17-Silben-Krimis
    111 Feld-, Wald- und Stadt-Haiku

Genre: Anthologie

111 Feld-, Wald- und Stadt-Haiku

Erst Anfang des Jahres ist mit den 17-Silben-Krimis Heike Ballers dritter Haiku-Band erschienen. Schon jetzt meldet sie sich mit einer vierten Gedichtsammlung zurück, den 111 Feld-, Wald- und Stadt-Haiku, die mit 128 Seiten den bisher umfangreichsten Teil ihrer Reihe bilden und auch inhaltlich noch mehr zu bieten haben als die bisherigen Einträge.

Eine aufgeschlagene Seite aus dem Buch "111 Feld-, Wald- und Stadt-Haiku" von Heike Baller mit dem Haiku "Die grauen Wolken / Bleiben heut' leere Versprechen - / Sol invictus".

Ein Blick ins Buch …

Zugegeben: Die beiden ersten Bände mit ihren überwiegend Natur und städtischer Umwelt gewidmeten Haiku und der dritte mit seinen genial komponierten Miniaturkrimis sind eigentlich schon so stark, dass eine Steigerung kaum noch möglich scheint, aber hier weiß Heike Baller noch einmal besonders zu überraschen: durch verstärkte aktuelle Bezüge, die zu den bewährten Momentaufnahmen treten, durch einzelne Haiku in Fremdsprachen und immer wieder auch durch augenzwinkernde literarische und (kultur-)historische Anspielungen.

So wird etwa in dem oben im Bild gezeigten Gedicht der Name der römischen Sonnengottheit Sol invictus in seiner ganz wörtlichen Bedeutung – „unbesiegte Sonne“ – gebraucht, um dem ausbleibenden Regen nicht nur eine mythologische Aura zu verleihen, sondern auch unterschwellig die Frage aufzuwerfen, ob Regen immer „schlechtes“ und Sonne „gutes“ (und nicht etwa durchaus „besiegenswertes“) Wetter bedeutet. Denn der Klimawandel, dessen Auswirkungen heutzutage auch in Mitteleuropa schon in beiläufigen Naturbeobachtungen offen zutage treten, kann einem scharfen Blick wie dem Heike Ballers natürlich nicht entgehen und ist ein wiederkehrendes Motiv in ihren Haiku.

Auch abseits davon darf man aber nicht damit rechnen, sich behaglich in Schönheit einrichten zu dürfen: Eine Dichterin, die mutig genug ist, Schmetterling und Hundekot zu kombinieren bzw. zu kontrastieren und ohnehin oft mit ironischen Brechungen zu arbeiten, scheut sich auch nicht, die ernstesten Themen anzupacken. So schlagen etwa die brutalen Bombardements im Ukrainekrieg in die scheinbar friedliche Atmosphäre eines mit einer Himmelsschilderung einsetzenden Haiku ein und reißen einen gnadenlos aus dem, was zunächst eine angenehme Naturträumerei zu sein scheint.

In die vielen Wald-, Feld- und Stadtimpressionen stehlen sich neben solch dramatischen Bezügen aber auch immer wieder Beobachtungen, die viel über die Unzulänglichkeiten und Grausamkeiten des scheinbar ganz normalen Alltags verraten, ganz gleich, ob es nun um vergessenes Kinderspielzeug, im Tierheim zurückgelassene Hunde oder verrottende Infrastruktur geht. Dass der Schlusssatz doppeldeutig – Tageszeit der geschilderten Beobachtung oder Einschätzung der Gesamtsituation? – Es ist 5 vor 12 lautet, passt daher sehr gut.

Neben Pointiertem und Verstörendem steht aber auch Zartes, Poetisches und ungeheuer sensibel Eingefangenes, wenn etwa der November als Goldschmied den Wald mit Gold-Blatt-Gold schmücken darf, Blütenduft sich unverdrossen gegen das Märzhimmelgrau (eine von vielen einprägsamen Wortschöpfungen) behauptet oder die Natur sich einen Weg zurück ins Menschengemachte sucht (z. B. in einen Blechbriefkasten, der mitsamt dem neuen Leben in ihm ebenso im Foto präsent ist wie die Inhalte einzelner anderer Haiku). Der Humor kommt auch nicht zu kurz, denn was es mit einer unversehens fern der Küste auftauchenden Kegelrobbe letzten Endes auf sich hat, bringt einen genauso zum Schmunzeln wie eine vergnüglich geschilderte Froschbegegnung.

In all seiner Vielschichtigkeit ist der Band also eine Aufforderung, Gedanken spazieren zu lassen, sei es nun durch die äußere Welt samt Tod und Leben oder auch durch die Literatur, die etwa in einem Aufgreifen des berühmten Lindenlieds Walthers von der Vogelweide oder einer Anspielung auf das oft Martin Luther zugeschriebene Zitat über das Pflanzen eines Apfelbäumchens präsent ist.

Wer schon länger bei Heike Baller mitliest, kann zudem neue Bezüge innerhalb ihres lyrischen Werks entdecken (die crisply cold air eines ihrer frühesten englischen Haiku bekommt hier noch einmal einen Auftritt zusammen mit einem aufgeplusterten Rotkehlchen).

Allen, die sich gern von Sprache und ihren Möglichkeiten faszinieren lassen und keine Angst haben, sich dabei auch in unbekannte und bisweilen unbequeme Richtungen führen zu lassen, seien die 111 Feld-, Wald- und Stadt-Haiku, die absolut nicht so gewöhnlich sind, wie der Titel suggerieren könnte, daher wärmstens ans Herz gelegt.

Heike Baller: 111 Feld-, Wald- und Stadt-Haiku. Norderstedt, Books on Demand, 2023, 128 Seiten.
ISBN: 978-3-7583-1027-0


Genre: Anthologie

Märchensagas

Unter dem Begriff der Märchensagas wird ein recht heterogenes Korpus von zumeist spätmittelalterlichen Prosatexten zusammengefasst, die gewisse Überschneidungen mit den Vorzeitsagas, Isländersagas, Rittersagas und Königssagas aufweisen, sich aber durch eine besondere Dominanz übernatürlicher, fabulierfreudiger und in der Tat märchenhafter Elemente auszeichnen. Rudolf Simek und sein Team ergänzen mit ihrem Buch unter diesem Titel die vor einigen Jahren erschienenen drei Bände der Sagas aus der Vorzeit  und beweisen einmal mehr, wie vielfältig, überraschend und auch heute noch lesenswert altnordische Literatur sein kann.

Die Saga von Bard, dem Schutzgeist des Snaefell, die den Band eröffnet, hat viel mit den Isländersagas gemein, handelt es sich bei dem titelgebenden Bard doch um einen frühen Siedler auf Island. Allerdings wird ihm eine Abstammung von Riesen und Trollen nachgesagt, und wie diese ist er eine bestenfalls ambivalente Gestalt: Mag er auch, nachdem er sich nach einem blutigen Racheakt an seinen minderjährigen Neffen, die das Abtreiben seiner Tochter auf einer Eisscholle zu verantworten haben, aus der menschlichen Gesellschaft zurückgezogen hat, zu einer Art oft rettend eingreifendem „Schutzgeist“ für die Bewohner der Gegend werden, neigt er auch weiterhin zu Fehlverhalten, wenn er etwa die blutjunge Tochter von Gastfreunden schwängert. Die Grenze zwischen mystischem Wesen und mit Vorsicht zu genießendem Gesetzlosen ist hier bestenfalls verschwommen, wenn überhaupt vorhanden.

Auch die darauf folgende Saga von Gold-Thorir könnte eigentlich fast eine klassische Isländersaga sein, handelt sie doch über weite Strecken von mehr oder minder realistischen Nachbarschaftskonflikten um Land und Vieh und den daraus resultierenden wilden Kämpfen. Aber der Protagonist Thorir gewinnt als junger Mann auf einer Reise nach Norwegen auf den Rat eines untoten Verwandten hin im Drachenkampf nicht nur einen Schatz, sondern auch magische Handschuhe, die gegen Kampfwunden feien. Das Ende der Geschichte ist leider nur unvollständig überliefert, so dass man nicht erfährt, wie es mit Thorir ausgeht.

Wirklich märchenhaft wird es dann in der Saga vom schönen Samson. Dieser, ein Sohn von König Artus, ist zwar kampfstark, aber sehr unbedarft. Kein Wunder also, dass er und die ähnlich naive irische Prinzessin Valentina, um die er wirbt, immer wieder in allerlei missliche Situationen geraten und es, nachdem es sie auf getrennten Wegen in die Bretagne verschlagen hat, mit üblem Trollzauber und einem finsteren Räuber, der es vor allem auf adlige Jungfrauen abgesehen hat, zu tun bekommen.

Noch abenteuerlicher und für die Begriffe der Zeit auch exotischer wird es in der spätmittelalterlichen Saga von Vilhjalm Sjod, auch wenn die Hauptfigur ebenfalls ein englischer Königssohn ist. Da er sich zu mehreren Schachpartien gegen einen Troll verleiten lässt und die entscheidende verliert, muss er, um seine Spielschulden zu begleichen und daneben seinen von Trollen entführten Vater zu finden, bis ins Innere von Afrika vordringen. Da er zudem um eine byzantinische Prinzessin wirbt und am Ende bis nach Babylon gelangt, ist der geographische Rahmen weit gespannt, und selbstredend braucht ein Held wie Vilhjalm auch den passenden Gefährten in Gestalt eines Löwen (ein Motiv, das man aus dem Iwein kennt). All das könnte in seiner Fülle etwas grotesk wirken, aber glücklicherweise nimmt die Saga von Vilhjalm Sjod sich selbst nicht allzu ernst und verrät durch viele augenzwinkernde Wendungen ans Publikum, dem abschließend sogar der Segen der Trolle gewünscht wird, dass es hier vor allem um den Spaß geht.

Spielte Byzanz schon in der letzten Geschichte eine Rolle, ist Die Saga von Damusti ganz dort angesiedelt und hat mit Damusti einen handfesten Antihelden zu bieten, der ohne Zögern eine Verschwörung anzettelt, um einen untadeligen Rivalen um die Gunst seiner Angebeteten umzubringen. Nicht nur die Tatsache, dass er diese sodann vor einem andersweltlichen Schurken rettet, sondern auch und vor allem seine intensive Marienfrömmigkeit bewahrt ihn davor, dauerhaft ein Schurke zu bleiben, und nach einer kurzen Zeit ehelichen Glücks beschließen seine Frau und er ihr Leben als christliche Büßer (eine Wendung, die auch aus realistischeren Sagas bekannt ist, wie etwa bei Thorstein und Spes in der Saga von Grettir dem Starken, hier aber besonders betont wird).

Die Saga von Vilmund Einzelgänger bringt den Titelhelden, einen Bauernsohn, in Kontakt mit zwei von ihrem Vater sehr ungleich behandelten Prinzessinnen, befasst sich daneben mit den Umtrieben eines finsteren Sklaven, der sich als böswilliger Zauberkundiger entpuppt, und weist zudem eine so ordinäre Schlussformel auf, dass diese in der Handschrift schamhaft gelöscht wurde und nur noch mittels moderner Technik lesbar ist.

Die Saga von Ali Fleck lässt ihre Titelfigur, einen als Säugling ausgesetzten Prinzen, oft in Situationen großer Hilflosigkeit geraten, da er bösartigen Verfluchungen zum Opfer fällt. Glücklicherweise findet er in Thornbjörg, der Königin der Tartarei, eine Frau, die entschlossen alles unternimmt, um ihn zu retten.

Einen ganz anderen Helden, der sich vor allem durch Gerissenheit und technisches Geschick auszeichnet, präsentiert Die Saga von Feilen-Jon, die allerdings leider auch einige innere Widersprüche aufweist und recht sonderbare geographische Vorstellungen zugrunde zu legen scheint (begonnen mit dem von einem öden Hochgebirge umgebenen ersten Handlungsort: Rouen in der Normandie). Nach der heimtückischen Tötung seines Vaters durch den finsteren Rodbert in die Obhut von Zwergen gelangt, findet Jon in dem ihm zunächst nicht allzu freundlich gesonnenen Königssohn Eirek einen Verbündeten und kann daran gehen, seine weiblichen Angehörigen aus Rodberts Gewalt zu retten und Rache zu nehmen.

Stärker um Verortung in der historischen Realität bemüht ist Die Geschichte von Thorstein Haushoch, wird doch Thorstein als Gefolgsmann einer historischen Gestalt, des Königs Olaf Tryggvason, eingeführt. Seine Abenteuer sind aber nicht weniger phantastisch als die der Helden der anderen Märchensagas, von einem Tischtuchraub aus der Unterwelt über eine Zwergenkindrettung und einen durch einen Unsichtbarkeitszauber sehr erleichterten Besuch im Riesenreich bis hin zur Konfrontation mit einem als Wiedergänger aus seinem Grabhügel zurückkehrenden Schwiegervater.

In derselben Epoche ist auch Die Geschichte von Helgi, Thorirs Sohn angesiedelt, doch in diesem kurzen Text verläuft der Kontakt mit dem andersweltlichen Reich des auch schon in der vorherigen Saga erwähnten Herrschers Gudmund weitaus unersprießlicher für den menschlichen Protagonisten, der sein Abenteuer mit seinen Augen bezahlt und kein hohes Alter erreicht.

Ebenfalls im Umfeld von Olaf Tryggvason spielt Die Geschichte von Thorstein Ochsenbein, deren Held zunächst als uneheliches Kind auf Island ausgesetzt, nach seiner Rettung aber doch noch mit einigen Jahren Verspätung von der Familie seiner Mutter angenommen wird. Als junger Mann gelangt er nach Norwegen in die Heimat seines Vaters und übersteht dort mit einem Gefährten nur deshalb mit knapper Not einen Kampf gegen eine gefährliche Trollfamilie, weil er im richtigen Augenblick zum christlichen Glauben findet. Unter Androhung roher Gewalt kann er nun endlich doch noch erreichen, dass sein Vater ihn anerkennt, ist aber gegen Missgunst im Gefolge des Königs nicht gefeit.

Am Hofe Olaf Tryggvasons verortet ist auch Die Geschichte von Thorstein Schreck und stellt das christliche Element noch stärker in den Vordergrund als die bisher erwähnten Sagas, aber auf äußerst bizarre Art: Hier wird dem Helden fast ein nächtlicher Gang zum Abort zum Verhängnis, begegnet er doch dort einem Dämon aus der Hölle, mit dem er ein sehr schwarzhumoriges Gespräch über das Schicksal der ewigen Verdammnis anheimgefallener heidnischer Helden führt, bevor er durch einen Trick seine indirekte Rettung durch den König bewirken kann.

Ähnlich kurz ist Die Geschichte von Toki, Tokis Sohn, der als uralter Mann zu Olaf dem Heiligen gelangt und ihn, nachdem er ihm von seinen Erlebnissen mit Helden der Vorzeitsagas berichtet hat, um die Taufe bittet.

Historisch weiter zurück führt, nur fragmentarisch erhalten, Die Saga von Harald Kampfzahn, in der eher legendäre als historisch wirklich fassbare Könige des schwedischen und dänischen Frühmittelalters im Mittelpunkt stehen. Nach dem frühen Verlust seines Vaters durch die Ränke seines Großvaters mütterlicherseits wird Harald Kampfzahn schon mit fünfzehn Jahren König und herrscht bis ins unwahrscheinlich hohe Alter von hundertfünfzig Jahren, in dem er dann die von zahlreichen auch aus anderen Sagas bekannten Helden bestrittene Schlacht von Bravellir gegen seinen Neffen anzettelt, um ehrenvoll zu fallen und der Ermordung durch seine eigenen Gefolgsleute, denen er zu greisenhaft geworden ist, zu entgehen.

Den Abschluss der Sammlung bilden drei sehr kurze Texte (Wie Norwegen besiedelt wurde, Die Entdeckung Norwegens und Über die Könige der Upländer), die in einer Mischung aus ätiologischen Sagen und pseudohistorischen Genealogien eine sagenhafte Vor- und Frühgeschichte Skandinaviens schildern – einschließlich so mancher Merkwürdigkeiten (wie der als Strafe für die Bewohner gedachten Einsetzung eines Hundes zum Unterkönig eines bestimmten Gebiets oder eines ausführlichen Stammbaums, der die Abstammung des historischen Königs Harald Schönhaar über die altnordischen Götter und König Priamos von Troja auf Adam als ersten Menschen zurückführt).

Jeder Saga ist eine kurze Einführung vorangestellt (den letzten dreien eine gemeinsame), die nicht nur Angaben über die Entstehungszeit macht, sondern oft auch bestimmte inhaltliche Motive und Verbindungen zu anderen literarischen Texten knapp erläutert. Zusätzlich runden einzelne Stammtafeln, eine Karte des nordeuropäischen bis -atlantischen Teils des Handlungsraums, ein Glossar und umfangreiche Register den Band ab.

Da die Übersetzungen sich wie gewohnt flüssig und eingängig lesen, ist auch für alle, die eher am Unterhaltungswert als an der literaturhistorischen Bedeutung der Sagas interessiert sind, eine vergnügliche Lektüre möglich. Allerdings muss man darauf gefasst sein, es eben nicht nur mit den im landläufigen Sinne „typischen“ Sagas nach dem Muster der Isländer- und Vorzeitsagas zu tun zu bekommen, sondern auch mit Texten, die in bestimmten Elementen eher der west- und mitteleuropäischen Literatur des Hoch- und Spätmittelalters nahestehen. Das allerdings schmälert den Lesegenuss keineswegs, sondern macht nur deutlich, wie variabel die Gattung „Saga“ ist.

Rudolf Simek, Jonas Zeit-Altpeter, Valerie Broustin (Hrsg.): Märchensagas. Von Trollen, Rittern, Prinzessinnen und Königen. Unter Mitwirkung von Maike Hanneck und Benedikt Hufnagel. Stuttgart, Kröner, 2022, 496 Seiten.
ISBN: 978-3-520-61801-6

 


Genre: Anthologie, Erzählung, Märchen und Mythen

Sehnsucht

Das Wesen der Sehnsucht ist wohl, dass sie keine mehr ist, sobald sie gestillt werden kann – kein Wunder also, dass dies oft um einen selbstzerstörerischen Preis geschieht. In all ihrer Widersprüchlichkeit ist sie das titelgebende Phänomen für einen Reigen von acht Geschichten, die Annette van den Bergh nicht nur durch das übergreifende Thema, sondern auch durch vielfältige Beziehungen der jeweiligen Ich-Erzählerfiguren untereinander und wiederkehrende Motive eng miteinander verknüpft. Neben den Personen ist ein zentrales verbindendes Element der oft erfolgende Blick in den Spiegel, literarisch von jeher ein Bild der Selbsterkenntnis, die sicher auch das Eingeständnis oft durchaus fataler Sehnsüchte mit einschließt.

Den zutiefst verstörenden Einstieg bildet Klaras Gedanke: Die Titelfigur – die mit klarem, analytischem Blick ihre Umgebung und sich selbst zu sezieren weiß und doch eine Getriebene ist – wird zum Opfer eines schockierend intensiv geschilderten sexuellen Übergriffs und meint, ihn selbst durch einen am ungestraften eigenen Glück zweifelnden Gedanken ausgelöst zu haben.

Golo, der Maler kann nicht nur auf ein Verhältnis mit Klara zurückblicken, sondern hat und hatte auch Beziehungen zu mehreren weiteren Erzählerfiguren, von denen eine, Annalena, Mutter seines Sohnes wurde, zu dem er jedoch keinen Kontakt pflegt, weil ihn das nicht von ihm selbst auf der Leinwand kontrollierte Leben in all seiner Dreckigkeit und Prallheit überfordert. Kein Wunder, dass er am besten mit Kunstfiguren, die sich jeweils selbst erschaffen haben, wie seinem Lieblingsmodell, dem Transvestiten Bella, und seiner aktuellen Geliebten, der einäugigen Journalistin Carlotta, zurechtkommt.

Anders als in Golos Geschichte tritt Annalena Bergengruen in ihrer eigenen nicht primär als Mutter, sondern als Tochter auf, die sich selbst als gescheiterte Existenz begreift und deren Abschied von ihrer eigenen todkranken Mutter, der sie attestiert, auch vermeintlich liebevolle Gesten nur als Werkzeug von Dominanz und Kälte zu gebrauchen, seine Tücken hat. Ob Annalena die von Anfang an unbedingt angestrebte Abnabelung und Distanzierung wirklich gelingt, darf jedoch gegen Schluss bezweifelt werden, denn hier ist der wiederkehrende Blick in den Spiegel noch entlarvender als in den meisten anderen Fällen.

Bella dagegen hat in Green Eyes das Gesuchte gefunden (oder will und muss sich das zumindest selbst einreden) – genderfluid und etwas esoterisch angehaucht, weht die schrillbunte Erzählerfigur (begleitet von Mops Odin) einmal wie eine Windböe durchs Buch und scheint einen für sie selbst besser funktionierenden Umgang mit dem allgemeinen Elend erreicht zu haben als manch ein vermeintlich normalerer Zeitgenosse.

Nicht weniger als Bella zur Selbststilisierung neigt One-Eyed Carlotta, aber mit weitaus düstereren Untertönen, hat die erfolgreiche Journalistin ihre Einäugigkeit doch sich selbst zu verdanken und schreibt ihrem Hang, sich in großen Auftritten selbst zu verwirklichen, sogar den Tod ihres Bruders zu. Die Funktion, die der Spiegel hier übernimmt (der dann auch, gewiss nicht ohne Symbolkraft, zerschmettert wird), lässt schaudern.

Auch Lehrer und Literat Felix im Glück, den man bei Golo schon kurz als Anhängsel von Bella kennengelernt hat, ist nicht gar so glücklich, wie der Titel seiner Geschichte suggerieren könnte. Zwar ist ihm die ersehnte Vollendung seines Buches geglückt, aber ausgerechnet in diesem Augenblick des Triumphs kehrt die Erinnerung an den Selbstmord seiner Freundin, der Sängerin Juliana, mit aller Macht zurück. Dass er sich selbst für so viel klüger als sie hält, wirkt dann doch ein wenig wie das Pfeifen im Dunkeln.

Das Haus rückt ebenfalls in einer Nebenrolle in Golos Geschichte aufgetretene Figuren in den Mittelpunkt und bildet über dieses Buch hinweg eine Klammer zu Annette van den Berghs zweitem Sammelband Lost Paradise, in dem auch ein Beitrag den Titel Das Haus trägt und aus anderer Perspektive und mit einigen inhaltlichen Abweichungen ganz ähnlich vom Scheitern einer Ehe und vom beiderseitigen Festhalten am gemeinsamen Haus erzählt, als handele es sich um unterschiedliche Varianten ein- und derselben Geschichte.

Den Abschluss bildet Sehnsucht, die atemlos-poetische Schilderung eines gefährlichen Hinauswagens ins Meer, die nicht allein durch ihre Anklänge an Andersens Kleine Meerjungfrau einen symbolischen Charakter gewinnt und die Risiken von (Todes-)Sehnsucht angesichts eines als grau empfundenen Lebens offenbart.

Die nicht nur diese eine Geschichte durchstreifende Meerjungfrau ist nicht die einzige Entlehnung aus Kunst und Kultur. Der Wegweiser aus Schuberts Winterreise hat ebenso wiederkehrende Auftritte wie die antike Mythologie, und so ist es eine an Anspielungen und Sprachkunst reiche Welt, in der Annette van den Berghs einsame und doch verbundene Protagonisten ihr innerlich oft erschreckend armes Leben führen. Auf leichte Art vergnügliche Lektüre, die es ihrem Publikum und ihren Figuren einfach macht, darf man hier nicht erwarten, aber doch zahlreiche Denkanstöße, ob das vermeintlich Ersehnte – ob im Buch oder im eigenen Leben – wahrhaftig so erstrebenswert ist und ob man nicht mit der letzten Geschichte doch lieber den Rückweg aus dem verführerischen Sehnsuchtsblau ins tragfähige Grau des Alltags mit all seinen Fehlern und Schwächen antreten sollte.

Annette van den Bergh: Sehnsucht. Norderstedt, Books on Demand, 2021, 116 Seiten (E-Book, auch als Taschenbuch erhältlich).
ISBN: 978-3-7322-5982-3


Genre: Anthologie, Erzählung

The Little Cozy Book

Hexen, Halunken, Barbaren, Fabelwesen und höhere Mächte bevölkern die Fantasy seit jeher, aber wie düster die Welten, die sie durchstreifen, und ihre abenteuerlichen Erlebnisse sind, schwankt beträchtlich. The Little Cozy Book bietet eine Sammlung von Kurz- und Kürzestgeschichten, die, abgesehen von vier vorher unveröffentlichten Texten, zuerst im Onlinemagazin Wyngraf erschienen sind und überwiegend die hoffnungsvollen, sympathischen und alltäglichen Aspekte des Genres betonen.

Wie Herausgeber Nathaniel Webb in seinem Vorwort erläutert, geht die Idee, in Wyngraf eine Reihe von Flash Fiction zum Thema Cozy Fantasy zu veröffentlichen, ursprünglich auf eine scherzhaft gemeinte Geschichte von Frederick Sheilira zurück, die augenzwinkernd ausgerechnet das oft mit Pulp, Actionlastigkeit und einer zynischen Weltsicht assoziierte Subgenre Sword & Sorcery in einer doch eher freundlichen und idealistischen Cozy-Variante präsentiert und unerwartet ein großer Erfolg war.

Der so entstandene Text, The Cat and the Conerian, bildet dementsprechend auch den Auftakt der Anthologie und lässt einen Barbarenhelden entdecken, dass die in seiner Stammtaverne ansässige Katze in Nöten ist, wovor er natürlich nicht einfach die Augen (und Ohren) verschließen kann.

Etwas boshafter kommt Billable Hours for the Disputed Rights of the Chosen One von L Chan daher, eine sehr spezielle Anwaltsrechnung, die ihren Humor daraus gewinnt, juristische Terminologie (und überhaupt die Idee eines Vorgehens auf dem Rechtsweg gegen einen Rivalen) mit einem generischen Fantasyplot zu verknüpfen.

Up by the Gryphon von Jonathan Olfert dagegen verdient die Bezeichnung „cozy“ wieder voll und ganz, wenn ein in einem Unwetter im Haus eines Igels gestrandeter Mäusegauner nolens volens eine unerwartete Läuterung durchmacht.

Im Gegensatz dazu lebt The 57th Daughter von Neil Wilcox primär von der auch für alle Beteiligten unerwarteten Lösung, die die Titelfigur für die Bedrohung eines Dorfs durch einen Wassergeist findet.

George Jacobs schildert in A Stubborn Friend das Abenteuer eines Imkers, dessen Weg zu einer Hochzeit im Nachbardorf nicht ganz so verläuft wie geplant, aber natürlich – da der grummelnde Held Hamsten trotz alles Fluchens ein gutes Herz hat – nicht völlig ins Verderben führt.

Jo Miles spielt in The Skycalled Will Save the World mit der Genrekonvention der Prophezeiung, die eine spezifische Person zur Weltrettung auserwählt, hier aber innerhalb der Geschichte sehr gezielt eingesetzt wird, wie die Erzählerfigur zu ihrem Entsetzen erfahren muss.

Sam Lesek lässt in On a Snowy Evening ein schauriges Totenheer aufziehen – aber zum Glück nicht nur für den kleinen Jungen, der es erspäht, weiß seine alte Großtante ganz genau, wie in einer solchen Situation zu verfahren ist, und so nimmt das, was auch zu blankem Horror getaugt hätte, eine sehr liebenswerte Wendung.

Up the River, Over the Mountains, Across the Sea von Jenna Hanchey erörtert melancholisch, wenn auch nicht ohne Hoffnung die Frage nach der nicht immer eindeutig männlichen oder weiblichen Geschlechtsidentität. Kann eine Fee hier für eine vom Leiden unter gesellschaftlichen Vorurteilen und Unverständnis gebeutelte Person Abhilfe schaffen?

Leichtfüßiger und heiterer kommt Miranda Rays Knight of the Wandering Spring daher. Ein Drache und ein Ritter sind hier Verbündete und nutzen die Eigenschaften des Drachen für ein spezielles Dienstleistungsangebot, erleben dabei aber eine handfeste Überraschung.

Amüsant geht es auch in Toby Anthony Rossers The Witch Box zu, allein schon durch die ebenso witzige wie sozialkritische Erzählstimme der kriminellen Hilfe, die ein windiger Geschäftsmann anzuheuern versucht, um den titelgebenden Gegenstand zu stehlen.

J. Thomas Howards The Flower Knight handelt von einem kleinen Jungen aus einfachsten Verhältnissen, der in seinem kindlichen Spiel die Ritterrolle etwas zu ernst nimmt und gegen einen übermächtigen Gegner als wackerer Beschützer einer Frau auftritt – mit weitreichenden Folgen.

Sheila Massie lotet in Iai, Iai, Mele (Listen, Listen, Child) den Umgang unterschiedlicher Generationen und ein- und derselben Figur in verschiedenen Lebensaltern mit der Überlieferung einer scheinbar untergehenden Kultur und verheerenden Wetterphänomenen aus. Parallelen zu Problemen unserer heutigen Welt lassen sich hier sehr deutlich ziehen.

In See No Evil hat die junge Cecilia es in ihrer magischen Ausbildung nicht leicht, weil sie nicht so wie alle anderen sieht und darauf von ihrer Umwelt wenig Rücksicht genommen wird. Doch in einer besonderen Situation erweist sich die Behinderung dann sogar als ungeahnter Vorteil.

Etwas unheimlicher wird es in Ian Martínez Cassmeyers folktalehaft anmutender Geschichte Tata Duende’s Soothing Song, denn hier lauern im Wald Gefahren, denen die junge Herrera nur mithilfe eines übernatürlichen Wesens entgehen kann.

Jess Hyslop dagegen ist in The Wood-Folk Do Not Want to Marry You alles andere als bemüht, einen authentischen Märchen- oder Sagenton zu treffen, sondern zieht allerlei Motive, die für die insbesondere der Romantasy populären Liebesgeschichten zwischen einer Menschenfrau und einem Elfenwesen typisch sind, gnadenlos durch den Kakao.

Bei Stew Shearer ist The Sword of Our Fathers das Objekt der Begierde, um das zwischen einem alten Haudegen und einem idealistischen Jüngling ein Duell ausgefochten wird, das keinen so üblen Ausgang nimmt, wie man zunächst befürchten könnte.

Ziggy Schutz führt mit der Überschrift A Wolf in Sheep’s Clothing gezielt ein wenig in die Irre, denn was sich sonst als „Wolf im Schafspelz“ übersetzen ließe, ist hier wörtlicher zu nehmen und Teil einer sanften Liebesgeschichte zwischen zwei Frauen, die eben jeweils genau das sind, was die Überschrift verrät.

In Simon Kewins The Great Spell steht der alte Magier Feyrlin kurz vor der seit langem angestrebten Weltrettung. Doch ein entscheidendes Element zu seinem Zauberspruch fehlt ihm noch und ist nur durch eine ganz besondere Erkenntnis zu erlangen.

Nathaniel Webbs Beitrag Iron Harvest führt ins arkadische Idyll einer ländlichen Gemeinschaft, in der Krieg allenfalls noch ein fernes Gerücht ist und Bauer Boric etwas, das er auf seinem Acker findet, entsprechend erst nicht einordnen kann.

Eine ganz andere Welt schildert Jennifer Hudak in Fragile: Zwei sehr gegensätzliche Frauen, die für einen sonderbaren Zirkus arbeiten, finden hier zueinander, und eine von ihnen lernt nicht nur mit ihrer äußerlichen Zerbrechlichkeit umzugehen, sondern auch zu erkennen, dass ihr eigener Wert sich nicht auf ihre Nützlichkeit beschränkt.

Dawn Vogels Erzählerfigur in The Truth of Their Tunes nimmt ganz spezielle Melodien wahr und wird so in einer an ein Rollenspielsetting gemahnenden Fantasytaverne zur helfenden Instanz für einen buntgemischten Abenteurertrupp.

The Knowing von Jamey Toner ist einer der düstersten Beiträge der Anthologie, und inwieweit der harte Kampf eines Barden gegen eine Dämonin noch so recht unter „Cozy Fantasy“ fällt, ist sicher Geschmackssache, werden hier die Elemente, die typische coziness ausmachen, doch eher als Waffe eingesetzt denn um ihrer selbst willen geschildert.

In The Last Night von Gregory Kilcoyne wiederum sind diese Elemente quasi schon die Handlung, die sich auf die Schilderung eines speziellen Rituals, das die Wesen eines ganzen Waldes zusammenströmen lässt, beschränkt.

Cora Buhlert zeigt in A Cry on the Battlefield wieder einmal, dass ihr Barbarenfiguren liegen. Hier ist es der Krieger Jalkar, der auf einem Schlachtfeld eine überraschende Entdeckung macht, eine – zumindest im einen Auge seines Söldnerkameraden Skuffcor – ungewöhnliche Entscheidung trifft, wie er weiter damit verfahren soll, und so unerwartet viel Wärme in eine ansonsten ziemlich finstere Lage bringt.

Der Protagonist von Patricia Millers Dreaming of Violets hingegen hat seine Kämpfertage schon längst hinter sich, sieht den Krieg mittlerweile sehr kritisch und hadert damit, dass eines seiner Kinder sich eine militärische Laufbahn nicht hat ausreden lassen – kann das ein gutes Ende nehmen?

Auch in She Waits, Having Breathed Love on the Salt Air von Amanda Cook geht es um die Sorge um einen geliebten Menschen, der sich fern der Heimat Gefahren stellen muss, aber hier wird mit vielen Odyssee-Anklängen ganz bewusst Magie gewirkt, um eine glückliche Rückkehr zu garantieren.

Banaleren Problemen sieht sich in L. D. Whitneys Moving Day der starke Barbar Hrok gegenüber: Ein Umzug steht an, aber obwohl er selbst stets hilfsbereit ist, fällt es ihm alles andere als leicht, die nötige Unterstützung zu organisieren …

In Tonfall und Thematik decken die verschiedenen Beiträge also eine große Bandbreite ab, aber fast allen ist tatsächlich gemeinsam, dass sie Welten schildern, in denen man sich durchaus wohlfühlen könnte. Viele von ihnen kombinieren daneben Klassisches bis Nostalgisches mit einem Schuss Moderne (wie etwa einer merklichen Diversität hinsichtlich der sexuellen Orientierung oder dem Hinterfragen von Rollenzuschreibungen an ganze Fantasyvölker). Welche Geschichten zu den eigenen Favoriten zählen, hängt sicher in hohem Maße vom subjektiven Geschmack ab, aber eine gute Möglichkeit, viele verschiedene Federn der englischsprachigen Fantasy auf einmal kennenzulernen, ohne sich dabei durch ein dystopisches Szenario nach dem nächsten quälen zu müssen, bietet The Little Cozy Book auf alle Fälle.

Nathaniel Webb (Hrsg.): The Little Cozy Book. The Best of Flash Fiction from Wyngraf. Ohne Ort, Young Needles Press, 2023 (E-Book; auch als Taschenbuch erhältlich, ISBN der Printausgabe: 979-8-3900-1734-0).


Genre: Anthologie, Erzählung

Der Atem des Drachen

Zauberkräftige Feen, hilfreiche Hexen, sanfte Männer, findige Frauen, bestrafte Bösewichte und nicht zu fassende Wolkenschafe: Nike Leonhard erzählt in Der Atem des Drachen sieben Märchen, die auf den ersten Blick wie traditionelle Vertreter ihres Genres anmuten könnten, es auf den zweiten aber dann doch nicht sind. Machtverhältnisse und Geschlechterrollen werden ebenso hinterfragt wie klassische Erzählmuster, und so kann sich hier auch schon einmal eine lesbische Liebesgeschichte ergeben oder die Erkenntnis warten, dass eine Heirat nicht das Ziel aller Träume sein muss.

Der Segen der Fee wird zum Einstieg auf sehr spezielle Weise einem Unsympathen zuteil, der die Erfüllung dreier nicht unbedingt gut durchdachter Wünsche erzwingt, die nicht ohne Konsequenzen bleibt.

Auch im folgenden Märchen Der Fischer und die Nixe findet eine Begegnung zwischen einem Menschenmann und einem übernatürlichen Wesen statt, aber da der Protagonist charakterlich nicht so geartet ist wie der der ersten Geschichte, nimmt alles einen anderen Ausgang.

Dagegen erweist sich Die Flut nach vermeintlich klassischem Beginn als eine ins Märchengewand gehüllte Kritik an den aktuellen Problemen um die Bewältigung der Klimakrise: Verkürzt ausgedrückt weigert sich hier die Politik, Maßnahmen gegen eine sich ankündigende Naturkatastrophe zu ergreifen, mit erwartbaren Folgen.

Der Atem des Drachen, der auch den Titel für die ganze Sammlung liefert, bietet nicht nur den in ein scheinbar ganz typisches Questenabenteuer ausziehenden jüngsten Sohn aus bescheidenen Verhältnissen, sondern mit der Verwandlung einer Person in eine Statue und dem in der mittelalterlichen Literatur gar nicht einmal so seltenen Motiv, dass sich in einem Drachen in Wahrheit ein Mensch verbirgt, noch weitere vertraute Elemente, die aber, originell kombiniert, auf ein Ende hinführen, das man so vielleicht nicht erwartet hätte.

Auch bei Prinzessin Furiosa bildet ein klassischer Baustein – das Turnier, bei dem ein passender Ehepartner für eine Prinzessin bestimmt werden soll – den Ausgangspunkt, allerdings mit der Besonderheit, dass es hier die Prinzessin selbst ist, die auf diesem Weg jemanden mit ganz speziellen Eigenschaften finden möchte. Jemand, der als der Bunte Hund bekannt ist, aber stets nur maskiert auftritt, erfüllt ihre Anforderungen mühelos, doch es gibt ein Geheimnis, das dem glücklichen Ende im Weg stehen könnte.

Bei Dunkelschön oder: Die verschwundene Kiste hat man den Eindruck, dass hier die Geschichte von den drei Äpfeln aus Tausendundeine Nacht Pate gestanden haben mag: Ist es dort der Wesir, dem der Kalif mit der Hinrichtung droht, wenn er ein Verbrechen nicht aufklärt, sieht sich hier der Schatzkanzler einer Königin mit dem gleichen brutalen Ultimatum konfrontiert. In beiden Fällen ist es eine Tochter des unglücklichen Hofbeamten, die schließlich hilft, die Wahrheit ans Tageslicht zu bringen, allerdings im Fall der hier titelgebenden Dunkelschön wesentlich aktiver und um eine märchentypische Prüfung nach dem Muster der Sechs Schwäne ergänzt. Zugleich wird der Bogen zur ersten Geschichte zurückgeschlagen, denn wie genau deren Ende sich ergeben hat, erfährt man hier ebenfalls.

Den Abschluss bilden die Wolkenschafe, in denen das geläufige Motiv, dass einem Bewerber um die Hand einer Frau eine schier unmögliche Aufgabe zur Bedingung für die Heirat gemacht wird, in kreativer Weise zum Einsatz kommt.

Nike Leonhard schreibt sprachlich gewandt und trifft den überkommenen Märchentonfall gut, nur um ihn hier und da gezielt etwa mit einem „Sag’ mal, spinnst du?“ zu torpedieren, das überdeutlich macht, dass der Blickwinkel ein moderner ist und immer wieder auch dezidierte Sozialkritik geübt wird. Spaß machen die eingestreuten literarischen Anspielungen, denn neben kleinen Hinweisen etwa auf Rotkäppchen oder Moby Dick begegnet einem auch d’Artagnans sehr spezielles Pferd aus den Drei Musketieren wieder, das diesmal aber das Glück hat, bei einem rücksichtsvolleren und netteren Menschen gelandet zu sein.

Ohnehin wird immer wieder Sympathie für diejenigen deutlich, die Mensch und Tier freundlich und respektvoll behandeln und in materieller Hinsicht bescheiden bleiben, statt auf zu Lasten anderer gehenden Reichtum und Luxus aus zu sein. Eine äußerliche Besonderheit des Buchs sind die jeder Geschichte vorangestellten Bilder, die nicht den jeweiligen Text illustrieren, sondern als symbolische Content Notes dienen (der Schlüssel dazu ist hinten im Buch abgedruckt). Wer Wert auf Inhaltswarnungen legt, wird also fündig, während alle anderen zumindest Spaß an den niedlichen Kaninchen, Mäusen & Co. haben dürften.

Nike Leonhard: Der Atem des Drachen. Neue Märchen. Norderstedt, BoD, 2023, 204 Seiten.
ISBN: 978-3-7481-3331-5


Genre: Anthologie, Erzählung, Märchen und Mythen

Lost Paradise

In ein Lost Paradise – ein verlorenes Paradies – verspricht die Kurzgeschichtensammlung von Annette van den Bergh einen zu führen, und vielleicht ist es angesichts dieses Glaubensinhalte evozierenden Titels kein Zufall, dass darin gerade 8 Texte versammelt sind, will man mit der christlich-mittelalterlichen Zahlensymbolik davon ausgehen, dass die 8  – als Zahl jenseits der 7 Tage der (Schöpfungs-)Woche – auf das Hinausgehen über das Gewohnte und Alltägliche, die Auferstehung und mithin den Neubeginn anspielt.

Freilich bekommt „Lost Paradise“ gleich in der ersten Geschichte Punkt am Horizont eine andere Bedeutung, denn dort ist es der Name eines Lokals, in dem – imaginiert oder real? – ein rauschhaftes Verhältnis mit durchaus surrealen Zügen seinen Anfang nimmt.

Eine Zweierbeziehung steht auch im Zentrum von Ein schöner Mund, wenn ein sogar sich selbst Unbekannter nach Gedächtnisverlust und Erkrankung auf der Quarantänestation eines Krankenhauses zu sich selbst zu finden versucht und jemand aus dem Pflegepersonal zu einem Rettungsanker in der verwirrenden Situation wird.

Sonne über Social Media dagegen befasst sich eher mit dem Umgang des Individuums mit der virtuellen Welt allgemein und wirft einen spöttischen Blick, von dem man sich durchaus ertappt fühlen kann, auf die Gewohnheiten und Rituale in den sozialen Medien.

Der Schrei führt allerdings wieder zwei Menschen zusammen, und das vor einem Posterdruck des titelgebenden Gemäldes in einer Berliner Bank. Aber kann eine Zweisamkeit, die vor einem so erschütternden Kunstwerk ihren Anfang nimmt, wirklich so problemlos und glatt verlaufen, wie es zunächst den Anschein hat?

In I tried to tell you wird das überbordende Herausbrechen negativer Emotionen nicht in ein Kunstwerk externalisiert, auch wenn es abermals um ein, wenn auch ganz anders geartetes, Paar geht und nebenbei auch noch Mobbing und der Kontrast zwischen Arbeits- und Privatleben eine Rolle spielen.

Das eingangs schon erwähnte Lokal „Lost Paradise“ kehrt im Nebensatz in Derweil eine Tat wieder, einer vielleicht als Gegenperspektivve zu Punkt am Horizont zu lesenden, düster-suizidalen Meditation über das Scheitern des Menschen an der Rolle als Schöpfer und Geschöpf einer oft unbarmherzigen Kultur.

Eine fehlt noch befasst sich, abermals im Kontext einer Paarbeziehung, mit dem Schreiben selbst und dem Konflikt zwischen Spielerischem und Strukturiertem, aber auch mit aktuellen Themen wie Corona und dem Ukrainekrieg und der Auswirkung dieser apokalyptisch anmutenden Krisen auf die Kreativität.

Mann und Frau – in diesem Fall ein Ehepaar – sind auch die Protagonisten in Das Haus. Während die Ehe gründlich gescheitert ist, halten beide aus unterschiedlichen Gründen an dem Haus fest, als sie die Scheidung will. Was zur Zerrüttung der Ehe geführt hat und welche Sicht die Partner jeweils darauf haben, enthüllt sich rückblicksartig erst nach und nach.

Prägend für das gesamte Buch ist ein ganz eigener Stil, der einen – mal umgangssprachlich, mal poetisch – in einen Strudel aus erlebter Rede und Empfindungen zieht, hinter dem man sich das äußere Geschehen, das diese Reaktionen des jeweiligen Ich-Erzählers (der nur der letzten Geschichte fehlt) auslöst, oft erst allmählich zusammenreimen muss. Gewürzt mit einem Schuss magischen Realismus liest sich das an vielen Stellen beunruhigend bis verstörend, gelegentlich trotz der vielen bedrückenden Elemente auch verblüffend leichtfüßig, lässt einen aber auf alle Fälle nicht kalt. Immer wieder werden dabei Verbindungen zu bildenden Künstlern – ob nun Munch oder van Gogh – gezogen, so dass die Worte nicht allein stehen, sondern zumindest im Hinterkopf immer wieder auch berühmte Gemälde evozieren. Ein weiteres wiederkehrendes Motiv sind Tiervergleiche: Von Kater und Katze über Hai, Lamm und Krähe bis hin zum Schmetterling durchstreift so mancher Vertreter der Fauna diese beängstigende Gedankenwelt und macht menschliches Verhalten greifbarer.

Ein abschließender Hinweis noch: Trotz des englischen Titels handelt es sich um ein deutschsprachiges Buch, auf das sich bei Interesse also auch alle, die nicht gern in Fremdsprachen lesen, unbedenklich einlassen können.

Annette van den Bergh: Lost Paradise. Short Stories. Norderstedt, BoD, 2022 (E-Book).
ISBN-13: 978-3-7568-6838-4


Genre: Anthologie

17-Silben-Krimis

Unter einem Krimi stellt man sich meist einen Roman oder doch zumindest eine komplette Geschichte vor (ob nun in schriftlicher Form oder – wie bei den zahlreichen Krimis in Film und Fernsehen – in einem anderen Medium). Dass es auch kürzer geht, beweist Heike Baller in 17-Silben-Krimis, ihrem frisch erschienenen dritten Haiku-Band.

Die Bücher "Mein Jahr in Haiku", "Stadt-Natur" und "17-Silben-Krimis" von Heike Baller liegen auf einem beigefarbenen Hintergrund.

Nicht nur das Thema ist ein anderes als in Mein Jahr in Haiku und Stadt – Natur mit ihren philosophischen Natur- und Zivilisationsbetrachtungen. Heike Baller hat, wie sie im Nachwort erläutert, auch noch einmal überdacht, was die Gedichtform Haiku für sie eigentlich ausmacht, und löst sich von dem strengen Silbenschema 5 – 7 – 5 in den drei Versen, da es das japanische Vorbild gar nicht widerzuspiegeln vermag. Wichtig sind ihr jetzt nur noch, wie der Titel schon ahnen lässt, die siebzehn Silben pro Gedicht – und diese Kurzlyrik, wieder gewohnt minimalistisch mit nur einem Gedicht pro Seite und gelegentlich mit einer ebenfalls ganzseitigen Foto-Illustration präsentiert, hat es diesmal in sich.

Wie es sich für Krimis gehört, wird hier gemordet, teils mit so absurd kreativen Methoden, dass es schon fast wieder witzig ist (wenn eine Apnoe-Taucherin zuschlägt, es den Priester mitten im Gottesdienst erwischt oder ein Dekorationsstück endlich seiner eigentlichen Bestimmung als Waffe dienen darf), oft aber auch bitterernst und nachdenklich stimmend, wenn es Opfer wie Obdachlose, Kranke oder Pflegebedürftige trifft, die ohnehin schon zu den Hilflosesten der Gesellschaft gehören. Hier werden in wenigen Worten Szenarien heraufbeschworen, die Ängste ansprechen, die wohl jeder Mensch – ob nun eingestanden oder nicht – mit sich herumträgt, und wirken lange nach. Denkanstöße können Miniaturkrimis also ebenso gut liefern wie Naturgedichte.

Ohnehin besteht ein besonderer Kunstgriff dieser Haiku-Sammlung darin, den Krimi oft nur im Kopf stattfinden zu lassen und gar nicht explizit zu sagen, was genau geschehen ist. Perfekt zeigt sich dieses Vorgehen etwa bei dem Gedicht auf S. 49:

Das Handy klingelt.
Ins Leere, am offnen Fenster
im zehnten Stock.

Nüchtern betrachtet erfährt man hier so gut wie nichts über die Situation und ihre Hintergründe, aber beim Lesen fügt man in Gedanken natürlich sofort einen Fenstersturz aus großer Höhe und die traurige Vermutung, dass es hier nicht um einen Unfall geht, hinzu.

Doch keine Sorge: Nicht jeder Dreizeiler suggeriert oder bestätigt einen tödlichen Ausgang des Geschehens. Man bekommt es auch mit einem Schmuckdiebstahl, einer fiesen Katzen-Entführung und einem betrügerischen Galeristen zu tun, daneben auch immer wieder mit Historischem und Humoristischem.

Wie gewohnt erweist sich Heike Baller als Meisterin des Sprachspiels (wenn etwa „Streitende“ auf ein unschönes „Streit-Ende“ zusteuern) und der unerwarteten Pointen und Brüche. Durfte in ihren früheren Haiku schon einmal ein Müllwagen die idyllische Naturstimmung ruinieren, wird auch hier oft der zunächst erweckte Eindruck konterkariert, teils sehr boshaft und schwarzhumorig, so dass man mit etwas schlechtem Gewissen lacht, teils aber auch durch ein jähes Kippen ins Unblutige und Unschuldige, wenn sich nach düster aufgebauter Spannung die Situation im letzten Vers als viel harmloser als gedacht erweist.

Das alles ist ein großes Lesevergnügen, das einen immer wieder über den gekonnten Einsatz der Worte und die überbordende Ideenfülle dahinter staunen lässt, aber keines, das man unbedingt in einem Zug verschlingen muss. Viel mehr Spaß macht es wie schon bei den früheren Bänden, die Haiku häppchenweise zu genießen und ihnen die genauere Betrachtung zu gönnen, die sie verdient haben.

Auf alle Fälle hofft man nach der Lektüre, dass dieses dritte Haiku-Buch nicht das letzte war, sondern irgendwann mit einer genauso furiosen Fortsetzung, zu welchem Thema auch immer, zu rechnen ist.

Heike Baller: 17-Silben-Krimis. 60 nicht nur blutige Haiku. Norderstedt, BoD, 2023, 74 Seiten.
ISBN: 978-3-7347-0650-9

 


Genre: Anthologie