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111 Feld-, Wald- und Stadt-Haiku

Erst Anfang des Jahres ist mit den 17-Silben-Krimis Heike Ballers dritter Haiku-Band erschienen. Schon jetzt meldet sie sich mit einer vierten Gedichtsammlung zurück, den 111 Feld-, Wald- und Stadt-Haiku, die mit 128 Seiten den bisher umfangreichsten Teil ihrer Reihe bilden und auch inhaltlich noch mehr zu bieten haben als die bisherigen Einträge.

Eine aufgeschlagene Seite aus dem Buch "111 Feld-, Wald- und Stadt-Haiku" von Heike Baller mit dem Haiku "Die grauen Wolken / Bleiben heut' leere Versprechen - / Sol invictus".

Ein Blick ins Buch …

Zugegeben: Die beiden ersten Bände mit ihren überwiegend Natur und städtischer Umwelt gewidmeten Haiku und der dritte mit seinen genial komponierten Miniaturkrimis sind eigentlich schon so stark, dass eine Steigerung kaum noch möglich scheint, aber hier weiß Heike Baller noch einmal besonders zu überraschen: durch verstärkte aktuelle Bezüge, die zu den bewährten Momentaufnahmen treten, durch einzelne Haiku in Fremdsprachen und immer wieder auch durch augenzwinkernde literarische und (kultur-)historische Anspielungen.

So wird etwa in dem oben im Bild gezeigten Gedicht der Name der römischen Sonnengottheit Sol invictus in seiner ganz wörtlichen Bedeutung – „unbesiegte Sonne“ – gebraucht, um dem ausbleibenden Regen nicht nur eine mythologische Aura zu verleihen, sondern auch unterschwellig die Frage aufzuwerfen, ob Regen immer „schlechtes“ und Sonne „gutes“ (und nicht etwa durchaus „besiegenswertes“) Wetter bedeutet. Denn der Klimawandel, dessen Auswirkungen heutzutage auch in Mitteleuropa schon in beiläufigen Naturbeobachtungen offen zutage treten, kann einem scharfen Blick wie dem Heike Ballers natürlich nicht entgehen und ist ein wiederkehrendes Motiv in ihren Haiku.

Auch abseits davon darf man aber nicht damit rechnen, sich behaglich in Schönheit einrichten zu dürfen: Eine Dichterin, die mutig genug ist, Schmetterling und Hundekot zu kombinieren bzw. zu kontrastieren und ohnehin oft mit ironischen Brechungen zu arbeiten, scheut sich auch nicht, die ernstesten Themen anzupacken. So schlagen etwa die brutalen Bombardements im Ukrainekrieg in die scheinbar friedliche Atmosphäre eines mit einer Himmelsschilderung einsetzenden Haiku ein und reißen einen gnadenlos aus dem, was zunächst eine angenehme Naturträumerei zu sein scheint.

In die vielen Wald-, Feld- und Stadtimpressionen stehlen sich neben solch dramatischen Bezügen aber auch immer wieder Beobachtungen, die viel über die Unzulänglichkeiten und Grausamkeiten des scheinbar ganz normalen Alltags verraten, ganz gleich, ob es nun um vergessenes Kinderspielzeug, im Tierheim zurückgelassene Hunde oder verrottende Infrastruktur geht. Dass der Schlusssatz doppeldeutig – Tageszeit der geschilderten Beobachtung oder Einschätzung der Gesamtsituation? – Es ist 5 vor 12 lautet, passt daher sehr gut.

Neben Pointiertem und Verstörendem steht aber auch Zartes, Poetisches und ungeheuer sensibel Eingefangenes, wenn etwa der November als Goldschmied den Wald mit Gold-Blatt-Gold schmücken darf, Blütenduft sich unverdrossen gegen das Märzhimmelgrau (eine von vielen einprägsamen Wortschöpfungen) behauptet oder die Natur sich einen Weg zurück ins Menschengemachte sucht (z. B. in einen Blechbriefkasten, der mitsamt dem neuen Leben in ihm ebenso im Foto präsent ist wie die Inhalte einzelner anderer Haiku). Der Humor kommt auch nicht zu kurz, denn was es mit einer unversehens fern der Küste auftauchenden Kegelrobbe letzten Endes auf sich hat, bringt einen genauso zum Schmunzeln wie eine vergnüglich geschilderte Froschbegegnung.

In all seiner Vielschichtigkeit ist der Band also eine Aufforderung, Gedanken spazieren zu lassen, sei es nun durch die äußere Welt samt Tod und Leben oder auch durch die Literatur, die etwa in einem Aufgreifen des berühmten Lindenlieds Walthers von der Vogelweide oder einer Anspielung auf das oft Martin Luther zugeschriebene Zitat über das Pflanzen eines Apfelbäumchens präsent ist.

Wer schon länger bei Heike Baller mitliest, kann zudem neue Bezüge innerhalb ihres lyrischen Werks entdecken (die crisply cold air eines ihrer frühesten englischen Haiku bekommt hier noch einmal einen Auftritt zusammen mit einem aufgeplusterten Rotkehlchen).

Allen, die sich gern von Sprache und ihren Möglichkeiten faszinieren lassen und keine Angst haben, sich dabei auch in unbekannte und bisweilen unbequeme Richtungen führen zu lassen, seien die 111 Feld-, Wald- und Stadt-Haiku, die absolut nicht so gewöhnlich sind, wie der Titel suggerieren könnte, daher wärmstens ans Herz gelegt.

Heike Baller: 111 Feld-, Wald- und Stadt-Haiku. Norderstedt, Books on Demand, 2023, 128 Seiten.
ISBN: 978-3-7583-1027-0


Genre: Anthologie

Märchensagas

Unter dem Begriff der Märchensagas wird ein recht heterogenes Korpus von zumeist spätmittelalterlichen Prosatexten zusammengefasst, die gewisse Überschneidungen mit den Vorzeitsagas, Isländersagas, Rittersagas und Königssagas aufweisen, sich aber durch eine besondere Dominanz übernatürlicher, fabulierfreudiger und in der Tat märchenhafter Elemente auszeichnen. Rudolf Simek und sein Team ergänzen mit ihrem Buch unter diesem Titel die vor einigen Jahren erschienenen drei Bände der Sagas aus der Vorzeit  und beweisen einmal mehr, wie vielfältig, überraschend und auch heute noch lesenswert altnordische Literatur sein kann.

Die Saga von Bard, dem Schutzgeist des Snaefell, die den Band eröffnet, hat viel mit den Isländersagas gemein, handelt es sich bei dem titelgebenden Bard doch um einen frühen Siedler auf Island. Allerdings wird ihm eine Abstammung von Riesen und Trollen nachgesagt, und wie diese ist er eine bestenfalls ambivalente Gestalt: Mag er auch, nachdem er sich nach einem blutigen Racheakt an seinen minderjährigen Neffen, die das Abtreiben seiner Tochter auf einer Eisscholle zu verantworten haben, aus der menschlichen Gesellschaft zurückgezogen hat, zu einer Art oft rettend eingreifendem „Schutzgeist“ für die Bewohner der Gegend werden, neigt er auch weiterhin zu Fehlverhalten, wenn er etwa die blutjunge Tochter von Gastfreunden schwängert. Die Grenze zwischen mystischem Wesen und mit Vorsicht zu genießendem Gesetzlosen ist hier bestenfalls verschwommen, wenn überhaupt vorhanden.

Auch die darauf folgende Saga von Gold-Thorir könnte eigentlich fast eine klassische Isländersaga sein, handelt sie doch über weite Strecken von mehr oder minder realistischen Nachbarschaftskonflikten um Land und Vieh und den daraus resultierenden wilden Kämpfen. Aber der Protagonist Thorir gewinnt als junger Mann auf einer Reise nach Norwegen auf den Rat eines untoten Verwandten hin im Drachenkampf nicht nur einen Schatz, sondern auch magische Handschuhe, die gegen Kampfwunden feien. Das Ende der Geschichte ist leider nur unvollständig überliefert, so dass man nicht erfährt, wie es mit Thorir ausgeht.

Wirklich märchenhaft wird es dann in der Saga vom schönen Samson. Dieser, ein Sohn von König Artus, ist zwar kampfstark, aber sehr unbedarft. Kein Wunder also, dass er und die ähnlich naive irische Prinzessin Valentina, um die er wirbt, immer wieder in allerlei missliche Situationen geraten und es, nachdem es sie auf getrennten Wegen in die Bretagne verschlagen hat, mit üblem Trollzauber und einem finsteren Räuber, der es vor allem auf adlige Jungfrauen abgesehen hat, zu tun bekommen.

Noch abenteuerlicher und für die Begriffe der Zeit auch exotischer wird es in der spätmittelalterlichen Saga von Vilhjalm Sjod, auch wenn die Hauptfigur ebenfalls ein englischer Königssohn ist. Da er sich zu mehreren Schachpartien gegen einen Troll verleiten lässt und die entscheidende verliert, muss er, um seine Spielschulden zu begleichen und daneben seinen von Trollen entführten Vater zu finden, bis ins Innere von Afrika vordringen. Da er zudem um eine byzantinische Prinzessin wirbt und am Ende bis nach Babylon gelangt, ist der geographische Rahmen weit gespannt, und selbstredend braucht ein Held wie Vilhjalm auch den passenden Gefährten in Gestalt eines Löwen (ein Motiv, das man aus dem Iwein kennt). All das könnte in seiner Fülle etwas grotesk wirken, aber glücklicherweise nimmt die Saga von Vilhjalm Sjod sich selbst nicht allzu ernst und verrät durch viele augenzwinkernde Wendungen ans Publikum, dem abschließend sogar der Segen der Trolle gewünscht wird, dass es hier vor allem um den Spaß geht.

Spielte Byzanz schon in der letzten Geschichte eine Rolle, ist Die Saga von Damusti ganz dort angesiedelt und hat mit Damusti einen handfesten Antihelden zu bieten, der ohne Zögern eine Verschwörung anzettelt, um einen untadeligen Rivalen um die Gunst seiner Angebeteten umzubringen. Nicht nur die Tatsache, dass er diese sodann vor einem andersweltlichen Schurken rettet, sondern auch und vor allem seine intensive Marienfrömmigkeit bewahrt ihn davor, dauerhaft ein Schurke zu bleiben, und nach einer kurzen Zeit ehelichen Glücks beschließen seine Frau und er ihr Leben als christliche Büßer (eine Wendung, die auch aus realistischeren Sagas bekannt ist, wie etwa bei Thorstein und Spes in der Saga von Grettir dem Starken, hier aber besonders betont wird).

Die Saga von Vilmund Einzelgänger bringt den Titelhelden, einen Bauernsohn, in Kontakt mit zwei von ihrem Vater sehr ungleich behandelten Prinzessinnen, befasst sich daneben mit den Umtrieben eines finsteren Sklaven, der sich als böswilliger Zauberkundiger entpuppt, und weist zudem eine so ordinäre Schlussformel auf, dass diese in der Handschrift schamhaft gelöscht wurde und nur noch mittels moderner Technik lesbar ist.

Die Saga von Ali Fleck lässt ihre Titelfigur, einen als Säugling ausgesetzten Prinzen, oft in Situationen großer Hilflosigkeit geraten, da er bösartigen Verfluchungen zum Opfer fällt. Glücklicherweise findet er in Thornbjörg, der Königin der Tartarei, eine Frau, die entschlossen alles unternimmt, um ihn zu retten.

Einen ganz anderen Helden, der sich vor allem durch Gerissenheit und technisches Geschick auszeichnet, präsentiert Die Saga von Feilen-Jon, die allerdings leider auch einige innere Widersprüche aufweist und recht sonderbare geographische Vorstellungen zugrunde zu legen scheint (begonnen mit dem von einem öden Hochgebirge umgebenen ersten Handlungsort: Rouen in der Normandie). Nach der heimtückischen Tötung seines Vaters durch den finsteren Rodbert in die Obhut von Zwergen gelangt, findet Jon in dem ihm zunächst nicht allzu freundlich gesonnenen Königssohn Eirek einen Verbündeten und kann daran gehen, seine weiblichen Angehörigen aus Rodberts Gewalt zu retten und Rache zu nehmen.

Stärker um Verortung in der historischen Realität bemüht ist Die Geschichte von Thorstein Haushoch, wird doch Thorstein als Gefolgsmann einer historischen Gestalt, des Königs Olaf Tryggvason, eingeführt. Seine Abenteuer sind aber nicht weniger phantastisch als die der Helden der anderen Märchensagas, von einem Tischtuchraub aus der Unterwelt über eine Zwergenkindrettung und einen durch einen Unsichtbarkeitszauber sehr erleichterten Besuch im Riesenreich bis hin zur Konfrontation mit einem als Wiedergänger aus seinem Grabhügel zurückkehrenden Schwiegervater.

In derselben Epoche ist auch Die Geschichte von Helgi, Thorirs Sohn angesiedelt, doch in diesem kurzen Text verläuft der Kontakt mit dem andersweltlichen Reich des auch schon in der vorherigen Saga erwähnten Herrschers Gudmund weitaus unersprießlicher für den menschlichen Protagonisten, der sein Abenteuer mit seinen Augen bezahlt und kein hohes Alter erreicht.

Ebenfalls im Umfeld von Olaf Tryggvason spielt Die Geschichte von Thorstein Ochsenbein, deren Held zunächst als uneheliches Kind auf Island ausgesetzt, nach seiner Rettung aber doch noch mit einigen Jahren Verspätung von der Familie seiner Mutter angenommen wird. Als junger Mann gelangt er nach Norwegen in die Heimat seines Vaters und übersteht dort mit einem Gefährten nur deshalb mit knapper Not einen Kampf gegen eine gefährliche Trollfamilie, weil er im richtigen Augenblick zum christlichen Glauben findet. Unter Androhung roher Gewalt kann er nun endlich doch noch erreichen, dass sein Vater ihn anerkennt, ist aber gegen Missgunst im Gefolge des Königs nicht gefeit.

Am Hofe Olaf Tryggvasons verortet ist auch Die Geschichte von Thorstein Schreck und stellt das christliche Element noch stärker in den Vordergrund als die bisher erwähnten Sagas, aber auf äußerst bizarre Art: Hier wird dem Helden fast ein nächtlicher Gang zum Abort zum Verhängnis, begegnet er doch dort einem Dämon aus der Hölle, mit dem er ein sehr schwarzhumoriges Gespräch über das Schicksal der ewigen Verdammnis anheimgefallener heidnischer Helden führt, bevor er durch einen Trick seine indirekte Rettung durch den König bewirken kann.

Ähnlich kurz ist Die Geschichte von Toki, Tokis Sohn, der als uralter Mann zu Olaf dem Heiligen gelangt und ihn, nachdem er ihm von seinen Erlebnissen mit Helden der Vorzeitsagas berichtet hat, um die Taufe bittet.

Historisch weiter zurück führt, nur fragmentarisch erhalten, Die Saga von Harald Kampfzahn, in der eher legendäre als historisch wirklich fassbare Könige des schwedischen und dänischen Frühmittelalters im Mittelpunkt stehen. Nach dem frühen Verlust seines Vaters durch die Ränke seines Großvaters mütterlicherseits wird Harald Kampfzahn schon mit fünfzehn Jahren König und herrscht bis ins unwahrscheinlich hohe Alter von hundertfünfzig Jahren, in dem er dann die von zahlreichen auch aus anderen Sagas bekannten Helden bestrittene Schlacht von Bravellir gegen seinen Neffen anzettelt, um ehrenvoll zu fallen und der Ermordung durch seine eigenen Gefolgsleute, denen er zu greisenhaft geworden ist, zu entgehen.

Den Abschluss der Sammlung bilden drei sehr kurze Texte (Wie Norwegen besiedelt wurde, Die Entdeckung Norwegens und Über die Könige der Upländer), die in einer Mischung aus ätiologischen Sagen und pseudohistorischen Genealogien eine sagenhafte Vor- und Frühgeschichte Skandinaviens schildern – einschließlich so mancher Merkwürdigkeiten (wie der als Strafe für die Bewohner gedachten Einsetzung eines Hundes zum Unterkönig eines bestimmten Gebiets oder eines ausführlichen Stammbaums, der die Abstammung des historischen Königs Harald Schönhaar über die altnordischen Götter und König Priamos von Troja auf Adam als ersten Menschen zurückführt).

Jeder Saga ist eine kurze Einführung vorangestellt (den letzten dreien eine gemeinsame), die nicht nur Angaben über die Entstehungszeit macht, sondern oft auch bestimmte inhaltliche Motive und Verbindungen zu anderen literarischen Texten knapp erläutert. Zusätzlich runden einzelne Stammtafeln, eine Karte des nordeuropäischen bis -atlantischen Teils des Handlungsraums, ein Glossar und umfangreiche Register den Band ab.

Da die Übersetzungen sich wie gewohnt flüssig und eingängig lesen, ist auch für alle, die eher am Unterhaltungswert als an der literaturhistorischen Bedeutung der Sagas interessiert sind, eine vergnügliche Lektüre möglich. Allerdings muss man darauf gefasst sein, es eben nicht nur mit den im landläufigen Sinne „typischen“ Sagas nach dem Muster der Isländer- und Vorzeitsagas zu tun zu bekommen, sondern auch mit Texten, die in bestimmten Elementen eher der west- und mitteleuropäischen Literatur des Hoch- und Spätmittelalters nahestehen. Das allerdings schmälert den Lesegenuss keineswegs, sondern macht nur deutlich, wie variabel die Gattung „Saga“ ist.

Rudolf Simek, Jonas Zeit-Altpeter, Valerie Broustin (Hrsg.): Märchensagas. Von Trollen, Rittern, Prinzessinnen und Königen. Unter Mitwirkung von Maike Hanneck und Benedikt Hufnagel. Stuttgart, Kröner, 2022, 496 Seiten.
ISBN: 978-3-520-61801-6

 


Genre: Anthologie, Erzählung, Märchen und Mythen

Sehnsucht

Das Wesen der Sehnsucht ist wohl, dass sie keine mehr ist, sobald sie gestillt werden kann – kein Wunder also, dass dies oft um einen selbstzerstörerischen Preis geschieht. In all ihrer Widersprüchlichkeit ist sie das titelgebende Phänomen für einen Reigen von acht Geschichten, die Annette van den Bergh nicht nur durch das übergreifende Thema, sondern auch durch vielfältige Beziehungen der jeweiligen Ich-Erzählerfiguren untereinander und wiederkehrende Motive eng miteinander verknüpft. Neben den Personen ist ein zentrales verbindendes Element der oft erfolgende Blick in den Spiegel, literarisch von jeher ein Bild der Selbsterkenntnis, die sicher auch das Eingeständnis oft durchaus fataler Sehnsüchte mit einschließt.

Den zutiefst verstörenden Einstieg bildet Klaras Gedanke: Die Titelfigur – die mit klarem, analytischem Blick ihre Umgebung und sich selbst zu sezieren weiß und doch eine Getriebene ist – wird zum Opfer eines schockierend intensiv geschilderten sexuellen Übergriffs und meint, ihn selbst durch einen am ungestraften eigenen Glück zweifelnden Gedanken ausgelöst zu haben.

Golo, der Maler kann nicht nur auf ein Verhältnis mit Klara zurückblicken, sondern hat und hatte auch Beziehungen zu mehreren weiteren Erzählerfiguren, von denen eine, Annalena, Mutter seines Sohnes wurde, zu dem er jedoch keinen Kontakt pflegt, weil ihn das nicht von ihm selbst auf der Leinwand kontrollierte Leben in all seiner Dreckigkeit und Prallheit überfordert. Kein Wunder, dass er am besten mit Kunstfiguren, die sich jeweils selbst erschaffen haben, wie seinem Lieblingsmodell, dem Transvestiten Bella, und seiner aktuellen Geliebten, der einäugigen Journalistin Carlotta, zurechtkommt.

Anders als in Golos Geschichte tritt Annalena Bergengruen in ihrer eigenen nicht primär als Mutter, sondern als Tochter auf, die sich selbst als gescheiterte Existenz begreift und deren Abschied von ihrer eigenen todkranken Mutter, der sie attestiert, auch vermeintlich liebevolle Gesten nur als Werkzeug von Dominanz und Kälte zu gebrauchen, seine Tücken hat. Ob Annalena die von Anfang an unbedingt angestrebte Abnabelung und Distanzierung wirklich gelingt, darf jedoch gegen Schluss bezweifelt werden, denn hier ist der wiederkehrende Blick in den Spiegel noch entlarvender als in den meisten anderen Fällen.

Bella dagegen hat in Green Eyes das Gesuchte gefunden (oder will und muss sich das zumindest selbst einreden) – genderfluid und etwas esoterisch angehaucht, weht die schrillbunte Erzählerfigur (begleitet von Mops Odin) einmal wie eine Windböe durchs Buch und scheint einen für sie selbst besser funktionierenden Umgang mit dem allgemeinen Elend erreicht zu haben als manch ein vermeintlich normalerer Zeitgenosse.

Nicht weniger als Bella zur Selbststilisierung neigt One-Eyed Carlotta, aber mit weitaus düstereren Untertönen, hat die erfolgreiche Journalistin ihre Einäugigkeit doch sich selbst zu verdanken und schreibt ihrem Hang, sich in großen Auftritten selbst zu verwirklichen, sogar den Tod ihres Bruders zu. Die Funktion, die der Spiegel hier übernimmt (der dann auch, gewiss nicht ohne Symbolkraft, zerschmettert wird), lässt schaudern.

Auch Lehrer und Literat Felix im Glück, den man bei Golo schon kurz als Anhängsel von Bella kennengelernt hat, ist nicht gar so glücklich, wie der Titel seiner Geschichte suggerieren könnte. Zwar ist ihm die ersehnte Vollendung seines Buches geglückt, aber ausgerechnet in diesem Augenblick des Triumphs kehrt die Erinnerung an den Selbstmord seiner Freundin, der Sängerin Juliana, mit aller Macht zurück. Dass er sich selbst für so viel klüger als sie hält, wirkt dann doch ein wenig wie das Pfeifen im Dunkeln.

Das Haus rückt ebenfalls in einer Nebenrolle in Golos Geschichte aufgetretene Figuren in den Mittelpunkt und bildet über dieses Buch hinweg eine Klammer zu Annette van den Berghs zweitem Sammelband Lost Paradise, in dem auch ein Beitrag den Titel Das Haus trägt und aus anderer Perspektive und mit einigen inhaltlichen Abweichungen ganz ähnlich vom Scheitern einer Ehe und vom beiderseitigen Festhalten am gemeinsamen Haus erzählt, als handele es sich um unterschiedliche Varianten ein- und derselben Geschichte.

Den Abschluss bildet Sehnsucht, die atemlos-poetische Schilderung eines gefährlichen Hinauswagens ins Meer, die nicht allein durch ihre Anklänge an Andersens Kleine Meerjungfrau einen symbolischen Charakter gewinnt und die Risiken von (Todes-)Sehnsucht angesichts eines als grau empfundenen Lebens offenbart.

Die nicht nur diese eine Geschichte durchstreifende Meerjungfrau ist nicht die einzige Entlehnung aus Kunst und Kultur. Der Wegweiser aus Schuberts Winterreise hat ebenso wiederkehrende Auftritte wie die antike Mythologie, und so ist es eine an Anspielungen und Sprachkunst reiche Welt, in der Annette van den Berghs einsame und doch verbundene Protagonisten ihr innerlich oft erschreckend armes Leben führen. Auf leichte Art vergnügliche Lektüre, die es ihrem Publikum und ihren Figuren einfach macht, darf man hier nicht erwarten, aber doch zahlreiche Denkanstöße, ob das vermeintlich Ersehnte – ob im Buch oder im eigenen Leben – wahrhaftig so erstrebenswert ist und ob man nicht mit der letzten Geschichte doch lieber den Rückweg aus dem verführerischen Sehnsuchtsblau ins tragfähige Grau des Alltags mit all seinen Fehlern und Schwächen antreten sollte.

Annette van den Bergh: Sehnsucht. Norderstedt, Books on Demand, 2021, 116 Seiten (E-Book, auch als Taschenbuch erhältlich).
ISBN: 978-3-7322-5982-3


Genre: Anthologie, Erzählung

The Little Cozy Book

Hexen, Halunken, Barbaren, Fabelwesen und höhere Mächte bevölkern die Fantasy seit jeher, aber wie düster die Welten, die sie durchstreifen, und ihre abenteuerlichen Erlebnisse sind, schwankt beträchtlich. The Little Cozy Book bietet eine Sammlung von Kurz- und Kürzestgeschichten, die, abgesehen von vier vorher unveröffentlichten Texten, zuerst im Onlinemagazin Wyngraf erschienen sind und überwiegend die hoffnungsvollen, sympathischen und alltäglichen Aspekte des Genres betonen.

Wie Herausgeber Nathaniel Webb in seinem Vorwort erläutert, geht die Idee, in Wyngraf eine Reihe von Flash Fiction zum Thema Cozy Fantasy zu veröffentlichen, ursprünglich auf eine scherzhaft gemeinte Geschichte von Frederick Sheilira zurück, die augenzwinkernd ausgerechnet das oft mit Pulp, Actionlastigkeit und einer zynischen Weltsicht assoziierte Subgenre Sword & Sorcery in einer doch eher freundlichen und idealistischen Cozy-Variante präsentiert und unerwartet ein großer Erfolg war.

Der so entstandene Text, The Cat and the Conerian, bildet dementsprechend auch den Auftakt der Anthologie und lässt einen Barbarenhelden entdecken, dass die in seiner Stammtaverne ansässige Katze in Nöten ist, wovor er natürlich nicht einfach die Augen (und Ohren) verschließen kann.

Etwas boshafter kommt Billable Hours for the Disputed Rights of the Chosen One von L Chan daher, eine sehr spezielle Anwaltsrechnung, die ihren Humor daraus gewinnt, juristische Terminologie (und überhaupt die Idee eines Vorgehens auf dem Rechtsweg gegen einen Rivalen) mit einem generischen Fantasyplot zu verknüpfen.

Up by the Gryphon von Jonathan Olfert dagegen verdient die Bezeichnung „cozy“ wieder voll und ganz, wenn ein in einem Unwetter im Haus eines Igels gestrandeter Mäusegauner nolens volens eine unerwartete Läuterung durchmacht.

Im Gegensatz dazu lebt The 57th Daughter von Neil Wilcox primär von der auch für alle Beteiligten unerwarteten Lösung, die die Titelfigur für die Bedrohung eines Dorfs durch einen Wassergeist findet.

George Jacobs schildert in A Stubborn Friend das Abenteuer eines Imkers, dessen Weg zu einer Hochzeit im Nachbardorf nicht ganz so verläuft wie geplant, aber natürlich – da der grummelnde Held Hamsten trotz alles Fluchens ein gutes Herz hat – nicht völlig ins Verderben führt.

Jo Miles spielt in The Skycalled Will Save the World mit der Genrekonvention der Prophezeiung, die eine spezifische Person zur Weltrettung auserwählt, hier aber innerhalb der Geschichte sehr gezielt eingesetzt wird, wie die Erzählerfigur zu ihrem Entsetzen erfahren muss.

Sam Lesek lässt in On a Snowy Evening ein schauriges Totenheer aufziehen – aber zum Glück nicht nur für den kleinen Jungen, der es erspäht, weiß seine alte Großtante ganz genau, wie in einer solchen Situation zu verfahren ist, und so nimmt das, was auch zu blankem Horror getaugt hätte, eine sehr liebenswerte Wendung.

Up the River, Over the Mountains, Across the Sea von Jenna Hanchey erörtert melancholisch, wenn auch nicht ohne Hoffnung die Frage nach der nicht immer eindeutig männlichen oder weiblichen Geschlechtsidentität. Kann eine Fee hier für eine vom Leiden unter gesellschaftlichen Vorurteilen und Unverständnis gebeutelte Person Abhilfe schaffen?

Leichtfüßiger und heiterer kommt Miranda Rays Knight of the Wandering Spring daher. Ein Drache und ein Ritter sind hier Verbündete und nutzen die Eigenschaften des Drachen für ein spezielles Dienstleistungsangebot, erleben dabei aber eine handfeste Überraschung.

Amüsant geht es auch in Toby Anthony Rossers The Witch Box zu, allein schon durch die ebenso witzige wie sozialkritische Erzählstimme der kriminellen Hilfe, die ein windiger Geschäftsmann anzuheuern versucht, um den titelgebenden Gegenstand zu stehlen.

J. Thomas Howards The Flower Knight handelt von einem kleinen Jungen aus einfachsten Verhältnissen, der in seinem kindlichen Spiel die Ritterrolle etwas zu ernst nimmt und gegen einen übermächtigen Gegner als wackerer Beschützer einer Frau auftritt – mit weitreichenden Folgen.

Sheila Massie lotet in Iai, Iai, Mele (Listen, Listen, Child) den Umgang unterschiedlicher Generationen und ein- und derselben Figur in verschiedenen Lebensaltern mit der Überlieferung einer scheinbar untergehenden Kultur und verheerenden Wetterphänomenen aus. Parallelen zu Problemen unserer heutigen Welt lassen sich hier sehr deutlich ziehen.

In See No Evil hat die junge Cecilia es in ihrer magischen Ausbildung nicht leicht, weil sie nicht so wie alle anderen sieht und darauf von ihrer Umwelt wenig Rücksicht genommen wird. Doch in einer besonderen Situation erweist sich die Behinderung dann sogar als ungeahnter Vorteil.

Etwas unheimlicher wird es in Ian Martínez Cassmeyers folktalehaft anmutender Geschichte Tata Duende’s Soothing Song, denn hier lauern im Wald Gefahren, denen die junge Herrera nur mithilfe eines übernatürlichen Wesens entgehen kann.

Jess Hyslop dagegen ist in The Wood-Folk Do Not Want to Marry You alles andere als bemüht, einen authentischen Märchen- oder Sagenton zu treffen, sondern zieht allerlei Motive, die für die insbesondere der Romantasy populären Liebesgeschichten zwischen einer Menschenfrau und einem Elfenwesen typisch sind, gnadenlos durch den Kakao.

Bei Stew Shearer ist The Sword of Our Fathers das Objekt der Begierde, um das zwischen einem alten Haudegen und einem idealistischen Jüngling ein Duell ausgefochten wird, das keinen so üblen Ausgang nimmt, wie man zunächst befürchten könnte.

Ziggy Schutz führt mit der Überschrift A Wolf in Sheep’s Clothing gezielt ein wenig in die Irre, denn was sich sonst als „Wolf im Schafspelz“ übersetzen ließe, ist hier wörtlicher zu nehmen und Teil einer sanften Liebesgeschichte zwischen zwei Frauen, die eben jeweils genau das sind, was die Überschrift verrät.

In Simon Kewins The Great Spell steht der alte Magier Feyrlin kurz vor der seit langem angestrebten Weltrettung. Doch ein entscheidendes Element zu seinem Zauberspruch fehlt ihm noch und ist nur durch eine ganz besondere Erkenntnis zu erlangen.

Nathaniel Webbs Beitrag Iron Harvest führt ins arkadische Idyll einer ländlichen Gemeinschaft, in der Krieg allenfalls noch ein fernes Gerücht ist und Bauer Boric etwas, das er auf seinem Acker findet, entsprechend erst nicht einordnen kann.

Eine ganz andere Welt schildert Jennifer Hudak in Fragile: Zwei sehr gegensätzliche Frauen, die für einen sonderbaren Zirkus arbeiten, finden hier zueinander, und eine von ihnen lernt nicht nur mit ihrer äußerlichen Zerbrechlichkeit umzugehen, sondern auch zu erkennen, dass ihr eigener Wert sich nicht auf ihre Nützlichkeit beschränkt.

Dawn Vogels Erzählerfigur in The Truth of Their Tunes nimmt ganz spezielle Melodien wahr und wird so in einer an ein Rollenspielsetting gemahnenden Fantasytaverne zur helfenden Instanz für einen buntgemischten Abenteurertrupp.

The Knowing von Jamey Toner ist einer der düstersten Beiträge der Anthologie, und inwieweit der harte Kampf eines Barden gegen eine Dämonin noch so recht unter „Cozy Fantasy“ fällt, ist sicher Geschmackssache, werden hier die Elemente, die typische coziness ausmachen, doch eher als Waffe eingesetzt denn um ihrer selbst willen geschildert.

In The Last Night von Gregory Kilcoyne wiederum sind diese Elemente quasi schon die Handlung, die sich auf die Schilderung eines speziellen Rituals, das die Wesen eines ganzen Waldes zusammenströmen lässt, beschränkt.

Cora Buhlert zeigt in A Cry on the Battlefield wieder einmal, dass ihr Barbarenfiguren liegen. Hier ist es der Krieger Jalkar, der auf einem Schlachtfeld eine überraschende Entdeckung macht, eine – zumindest im einen Auge seines Söldnerkameraden Skuffcor – ungewöhnliche Entscheidung trifft, wie er weiter damit verfahren soll, und so unerwartet viel Wärme in eine ansonsten ziemlich finstere Lage bringt.

Der Protagonist von Patricia Millers Dreaming of Violets hingegen hat seine Kämpfertage schon längst hinter sich, sieht den Krieg mittlerweile sehr kritisch und hadert damit, dass eines seiner Kinder sich eine militärische Laufbahn nicht hat ausreden lassen – kann das ein gutes Ende nehmen?

Auch in She Waits, Having Breathed Love on the Salt Air von Amanda Cook geht es um die Sorge um einen geliebten Menschen, der sich fern der Heimat Gefahren stellen muss, aber hier wird mit vielen Odyssee-Anklängen ganz bewusst Magie gewirkt, um eine glückliche Rückkehr zu garantieren.

Banaleren Problemen sieht sich in L. D. Whitneys Moving Day der starke Barbar Hrok gegenüber: Ein Umzug steht an, aber obwohl er selbst stets hilfsbereit ist, fällt es ihm alles andere als leicht, die nötige Unterstützung zu organisieren …

In Tonfall und Thematik decken die verschiedenen Beiträge also eine große Bandbreite ab, aber fast allen ist tatsächlich gemeinsam, dass sie Welten schildern, in denen man sich durchaus wohlfühlen könnte. Viele von ihnen kombinieren daneben Klassisches bis Nostalgisches mit einem Schuss Moderne (wie etwa einer merklichen Diversität hinsichtlich der sexuellen Orientierung oder dem Hinterfragen von Rollenzuschreibungen an ganze Fantasyvölker). Welche Geschichten zu den eigenen Favoriten zählen, hängt sicher in hohem Maße vom subjektiven Geschmack ab, aber eine gute Möglichkeit, viele verschiedene Federn der englischsprachigen Fantasy auf einmal kennenzulernen, ohne sich dabei durch ein dystopisches Szenario nach dem nächsten quälen zu müssen, bietet The Little Cozy Book auf alle Fälle.

Nathaniel Webb (Hrsg.): The Little Cozy Book. The Best of Flash Fiction from Wyngraf. Ohne Ort, Young Needles Press, 2023 (E-Book; auch als Taschenbuch erhältlich, ISBN der Printausgabe: 979-8-3900-1734-0).


Genre: Anthologie, Erzählung

Der Atem des Drachen

Zauberkräftige Feen, hilfreiche Hexen, sanfte Männer, findige Frauen, bestrafte Bösewichte und nicht zu fassende Wolkenschafe: Nike Leonhard erzählt in Der Atem des Drachen sieben Märchen, die auf den ersten Blick wie traditionelle Vertreter ihres Genres anmuten könnten, es auf den zweiten aber dann doch nicht sind. Machtverhältnisse und Geschlechterrollen werden ebenso hinterfragt wie klassische Erzählmuster, und so kann sich hier auch schon einmal eine lesbische Liebesgeschichte ergeben oder die Erkenntnis warten, dass eine Heirat nicht das Ziel aller Träume sein muss.

Der Segen der Fee wird zum Einstieg auf sehr spezielle Weise einem Unsympathen zuteil, der die Erfüllung dreier nicht unbedingt gut durchdachter Wünsche erzwingt, die nicht ohne Konsequenzen bleibt.

Auch im folgenden Märchen Der Fischer und die Nixe findet eine Begegnung zwischen einem Menschenmann und einem übernatürlichen Wesen statt, aber da der Protagonist charakterlich nicht so geartet ist wie der der ersten Geschichte, nimmt alles einen anderen Ausgang.

Dagegen erweist sich Die Flut nach vermeintlich klassischem Beginn als eine ins Märchengewand gehüllte Kritik an den aktuellen Problemen um die Bewältigung der Klimakrise: Verkürzt ausgedrückt weigert sich hier die Politik, Maßnahmen gegen eine sich ankündigende Naturkatastrophe zu ergreifen, mit erwartbaren Folgen.

Der Atem des Drachen, der auch den Titel für die ganze Sammlung liefert, bietet nicht nur den in ein scheinbar ganz typisches Questenabenteuer ausziehenden jüngsten Sohn aus bescheidenen Verhältnissen, sondern mit der Verwandlung einer Person in eine Statue und dem in der mittelalterlichen Literatur gar nicht einmal so seltenen Motiv, dass sich in einem Drachen in Wahrheit ein Mensch verbirgt, noch weitere vertraute Elemente, die aber, originell kombiniert, auf ein Ende hinführen, das man so vielleicht nicht erwartet hätte.

Auch bei Prinzessin Furiosa bildet ein klassischer Baustein – das Turnier, bei dem ein passender Ehepartner für eine Prinzessin bestimmt werden soll – den Ausgangspunkt, allerdings mit der Besonderheit, dass es hier die Prinzessin selbst ist, die auf diesem Weg jemanden mit ganz speziellen Eigenschaften finden möchte. Jemand, der als der Bunte Hund bekannt ist, aber stets nur maskiert auftritt, erfüllt ihre Anforderungen mühelos, doch es gibt ein Geheimnis, das dem glücklichen Ende im Weg stehen könnte.

Bei Dunkelschön oder: Die verschwundene Kiste hat man den Eindruck, dass hier die Geschichte von den drei Äpfeln aus Tausendundeine Nacht Pate gestanden haben mag: Ist es dort der Wesir, dem der Kalif mit der Hinrichtung droht, wenn er ein Verbrechen nicht aufklärt, sieht sich hier der Schatzkanzler einer Königin mit dem gleichen brutalen Ultimatum konfrontiert. In beiden Fällen ist es eine Tochter des unglücklichen Hofbeamten, die schließlich hilft, die Wahrheit ans Tageslicht zu bringen, allerdings im Fall der hier titelgebenden Dunkelschön wesentlich aktiver und um eine märchentypische Prüfung nach dem Muster der Sechs Schwäne ergänzt. Zugleich wird der Bogen zur ersten Geschichte zurückgeschlagen, denn wie genau deren Ende sich ergeben hat, erfährt man hier ebenfalls.

Den Abschluss bilden die Wolkenschafe, in denen das geläufige Motiv, dass einem Bewerber um die Hand einer Frau eine schier unmögliche Aufgabe zur Bedingung für die Heirat gemacht wird, in kreativer Weise zum Einsatz kommt.

Nike Leonhard schreibt sprachlich gewandt und trifft den überkommenen Märchentonfall gut, nur um ihn hier und da gezielt etwa mit einem „Sag’ mal, spinnst du?“ zu torpedieren, das überdeutlich macht, dass der Blickwinkel ein moderner ist und immer wieder auch dezidierte Sozialkritik geübt wird. Spaß machen die eingestreuten literarischen Anspielungen, denn neben kleinen Hinweisen etwa auf Rotkäppchen oder Moby Dick begegnet einem auch d’Artagnans sehr spezielles Pferd aus den Drei Musketieren wieder, das diesmal aber das Glück hat, bei einem rücksichtsvolleren und netteren Menschen gelandet zu sein.

Ohnehin wird immer wieder Sympathie für diejenigen deutlich, die Mensch und Tier freundlich und respektvoll behandeln und in materieller Hinsicht bescheiden bleiben, statt auf zu Lasten anderer gehenden Reichtum und Luxus aus zu sein. Eine äußerliche Besonderheit des Buchs sind die jeder Geschichte vorangestellten Bilder, die nicht den jeweiligen Text illustrieren, sondern als symbolische Content Notes dienen (der Schlüssel dazu ist hinten im Buch abgedruckt). Wer Wert auf Inhaltswarnungen legt, wird also fündig, während alle anderen zumindest Spaß an den niedlichen Kaninchen, Mäusen & Co. haben dürften.

Nike Leonhard: Der Atem des Drachen. Neue Märchen. Norderstedt, BoD, 2023, 204 Seiten.
ISBN: 978-3-7481-3331-5


Genre: Anthologie, Erzählung, Märchen und Mythen

Lost Paradise

In ein Lost Paradise – ein verlorenes Paradies – verspricht die Kurzgeschichtensammlung von Annette van den Bergh einen zu führen, und vielleicht ist es angesichts dieses Glaubensinhalte evozierenden Titels kein Zufall, dass darin gerade 8 Texte versammelt sind, will man mit der christlich-mittelalterlichen Zahlensymbolik davon ausgehen, dass die 8  – als Zahl jenseits der 7 Tage der (Schöpfungs-)Woche – auf das Hinausgehen über das Gewohnte und Alltägliche, die Auferstehung und mithin den Neubeginn anspielt.

Freilich bekommt „Lost Paradise“ gleich in der ersten Geschichte Punkt am Horizont eine andere Bedeutung, denn dort ist es der Name eines Lokals, in dem – imaginiert oder real? – ein rauschhaftes Verhältnis mit durchaus surrealen Zügen seinen Anfang nimmt.

Eine Zweierbeziehung steht auch im Zentrum von Ein schöner Mund, wenn ein sogar sich selbst Unbekannter nach Gedächtnisverlust und Erkrankung auf der Quarantänestation eines Krankenhauses zu sich selbst zu finden versucht und jemand aus dem Pflegepersonal zu einem Rettungsanker in der verwirrenden Situation wird.

Sonne über Social Media dagegen befasst sich eher mit dem Umgang des Individuums mit der virtuellen Welt allgemein und wirft einen spöttischen Blick, von dem man sich durchaus ertappt fühlen kann, auf die Gewohnheiten und Rituale in den sozialen Medien.

Der Schrei führt allerdings wieder zwei Menschen zusammen, und das vor einem Posterdruck des titelgebenden Gemäldes in einer Berliner Bank. Aber kann eine Zweisamkeit, die vor einem so erschütternden Kunstwerk ihren Anfang nimmt, wirklich so problemlos und glatt verlaufen, wie es zunächst den Anschein hat?

In I tried to tell you wird das überbordende Herausbrechen negativer Emotionen nicht in ein Kunstwerk externalisiert, auch wenn es abermals um ein, wenn auch ganz anders geartetes, Paar geht und nebenbei auch noch Mobbing und der Kontrast zwischen Arbeits- und Privatleben eine Rolle spielen.

Das eingangs schon erwähnte Lokal „Lost Paradise“ kehrt im Nebensatz in Derweil eine Tat wieder, einer vielleicht als Gegenperspektivve zu Punkt am Horizont zu lesenden, düster-suizidalen Meditation über das Scheitern des Menschen an der Rolle als Schöpfer und Geschöpf einer oft unbarmherzigen Kultur.

Eine fehlt noch befasst sich, abermals im Kontext einer Paarbeziehung, mit dem Schreiben selbst und dem Konflikt zwischen Spielerischem und Strukturiertem, aber auch mit aktuellen Themen wie Corona und dem Ukrainekrieg und der Auswirkung dieser apokalyptisch anmutenden Krisen auf die Kreativität.

Mann und Frau – in diesem Fall ein Ehepaar – sind auch die Protagonisten in Das Haus. Während die Ehe gründlich gescheitert ist, halten beide aus unterschiedlichen Gründen an dem Haus fest, als sie die Scheidung will. Was zur Zerrüttung der Ehe geführt hat und welche Sicht die Partner jeweils darauf haben, enthüllt sich rückblicksartig erst nach und nach.

Prägend für das gesamte Buch ist ein ganz eigener Stil, der einen – mal umgangssprachlich, mal poetisch – in einen Strudel aus erlebter Rede und Empfindungen zieht, hinter dem man sich das äußere Geschehen, das diese Reaktionen des jeweiligen Ich-Erzählers (der nur der letzten Geschichte fehlt) auslöst, oft erst allmählich zusammenreimen muss. Gewürzt mit einem Schuss magischen Realismus liest sich das an vielen Stellen beunruhigend bis verstörend, gelegentlich trotz der vielen bedrückenden Elemente auch verblüffend leichtfüßig, lässt einen aber auf alle Fälle nicht kalt. Immer wieder werden dabei Verbindungen zu bildenden Künstlern – ob nun Munch oder van Gogh – gezogen, so dass die Worte nicht allein stehen, sondern zumindest im Hinterkopf immer wieder auch berühmte Gemälde evozieren. Ein weiteres wiederkehrendes Motiv sind Tiervergleiche: Von Kater und Katze über Hai, Lamm und Krähe bis hin zum Schmetterling durchstreift so mancher Vertreter der Fauna diese beängstigende Gedankenwelt und macht menschliches Verhalten greifbarer.

Ein abschließender Hinweis noch: Trotz des englischen Titels handelt es sich um ein deutschsprachiges Buch, auf das sich bei Interesse also auch alle, die nicht gern in Fremdsprachen lesen, unbedenklich einlassen können.

Annette van den Bergh: Lost Paradise. Short Stories. Norderstedt, BoD, 2022 (E-Book).
ISBN-13: 978-3-7568-6838-4


Genre: Anthologie

17-Silben-Krimis

Unter einem Krimi stellt man sich meist einen Roman oder doch zumindest eine komplette Geschichte vor (ob nun in schriftlicher Form oder – wie bei den zahlreichen Krimis in Film und Fernsehen – in einem anderen Medium). Dass es auch kürzer geht, beweist Heike Baller in 17-Silben-Krimis, ihrem frisch erschienenen dritten Haiku-Band.

Die Bücher "Mein Jahr in Haiku", "Stadt-Natur" und "17-Silben-Krimis" von Heike Baller liegen auf einem beigefarbenen Hintergrund.

Nicht nur das Thema ist ein anderes als in Mein Jahr in Haiku und Stadt – Natur mit ihren philosophischen Natur- und Zivilisationsbetrachtungen. Heike Baller hat, wie sie im Nachwort erläutert, auch noch einmal überdacht, was die Gedichtform Haiku für sie eigentlich ausmacht, und löst sich von dem strengen Silbenschema 5 – 7 – 5 in den drei Versen, da es das japanische Vorbild gar nicht widerzuspiegeln vermag. Wichtig sind ihr jetzt nur noch, wie der Titel schon ahnen lässt, die siebzehn Silben pro Gedicht – und diese Kurzlyrik, wieder gewohnt minimalistisch mit nur einem Gedicht pro Seite und gelegentlich mit einer ebenfalls ganzseitigen Foto-Illustration präsentiert, hat es diesmal in sich.

Wie es sich für Krimis gehört, wird hier gemordet, teils mit so absurd kreativen Methoden, dass es schon fast wieder witzig ist (wenn eine Apnoe-Taucherin zuschlägt, es den Priester mitten im Gottesdienst erwischt oder ein Dekorationsstück endlich seiner eigentlichen Bestimmung als Waffe dienen darf), oft aber auch bitterernst und nachdenklich stimmend, wenn es Opfer wie Obdachlose, Kranke oder Pflegebedürftige trifft, die ohnehin schon zu den Hilflosesten der Gesellschaft gehören. Hier werden in wenigen Worten Szenarien heraufbeschworen, die Ängste ansprechen, die wohl jeder Mensch – ob nun eingestanden oder nicht – mit sich herumträgt, und wirken lange nach. Denkanstöße können Miniaturkrimis also ebenso gut liefern wie Naturgedichte.

Ohnehin besteht ein besonderer Kunstgriff dieser Haiku-Sammlung darin, den Krimi oft nur im Kopf stattfinden zu lassen und gar nicht explizit zu sagen, was genau geschehen ist. Perfekt zeigt sich dieses Vorgehen etwa bei dem Gedicht auf S. 49:

Das Handy klingelt.
Ins Leere, am offnen Fenster
im zehnten Stock.

Nüchtern betrachtet erfährt man hier so gut wie nichts über die Situation und ihre Hintergründe, aber beim Lesen fügt man in Gedanken natürlich sofort einen Fenstersturz aus großer Höhe und die traurige Vermutung, dass es hier nicht um einen Unfall geht, hinzu.

Doch keine Sorge: Nicht jeder Dreizeiler suggeriert oder bestätigt einen tödlichen Ausgang des Geschehens. Man bekommt es auch mit einem Schmuckdiebstahl, einer fiesen Katzen-Entführung und einem betrügerischen Galeristen zu tun, daneben auch immer wieder mit Historischem und Humoristischem.

Wie gewohnt erweist sich Heike Baller als Meisterin des Sprachspiels (wenn etwa „Streitende“ auf ein unschönes „Streit-Ende“ zusteuern) und der unerwarteten Pointen und Brüche. Durfte in ihren früheren Haiku schon einmal ein Müllwagen die idyllische Naturstimmung ruinieren, wird auch hier oft der zunächst erweckte Eindruck konterkariert, teils sehr boshaft und schwarzhumorig, so dass man mit etwas schlechtem Gewissen lacht, teils aber auch durch ein jähes Kippen ins Unblutige und Unschuldige, wenn sich nach düster aufgebauter Spannung die Situation im letzten Vers als viel harmloser als gedacht erweist.

Das alles ist ein großes Lesevergnügen, das einen immer wieder über den gekonnten Einsatz der Worte und die überbordende Ideenfülle dahinter staunen lässt, aber keines, das man unbedingt in einem Zug verschlingen muss. Viel mehr Spaß macht es wie schon bei den früheren Bänden, die Haiku häppchenweise zu genießen und ihnen die genauere Betrachtung zu gönnen, die sie verdient haben.

Auf alle Fälle hofft man nach der Lektüre, dass dieses dritte Haiku-Buch nicht das letzte war, sondern irgendwann mit einer genauso furiosen Fortsetzung, zu welchem Thema auch immer, zu rechnen ist.

Heike Baller: 17-Silben-Krimis. 60 nicht nur blutige Haiku. Norderstedt, BoD, 2023, 74 Seiten.
ISBN: 978-3-7347-0650-9

 


Genre: Anthologie

Die Vergebung der Sünden

Das hier besprochene Buch ist Teil einer Reihe. Die Rezension des ersten Bandes ist hier zu finden.

Pfarrer Sidney Chambers ist eigentlich mehr als ausgelastet damit, seinen Beruf und das Familienleben mit Ehefrau Hildegard und Töchterchen Anna unter einen Hut zu bringen, aber der nächste Kriminalfall, in dem sein Scharfsinn als Ermittler gefragt ist, findet ihn ganz ohne sein Zutun: In Grantchester erscheint völlig aufgelöst ein Musiker und bittet um Kirchenasyl. Angeblich ist er am Morgen in einem Hotelzimmer neben seiner offenkundig erstochenen Ehefrau erwacht, kann sich aber nicht erinnern, ob er sie getötet hat oder nicht. Als Sidney und sein alter Freund, Inspector Geordie Keating, den vermeintlichen Tatort in Augenschein nehmen, erwartet sie eine Überraschung, denn von einer Leiche oder anderen Hinweisen auf eine Bluttat fehlt jede Spur. Nach einigen Verwicklungen wird aber tatsächlich eine Frau aus dem Umfeld des Musikers tot aufgefunden – allerdings nicht die, mit der er verheiratet ist …

Die Vergebung der Sünden ist natürlich ein Thema, das einen Geistlichen immer beschäftigen sollte, aber nicht jeder trägt so engagiert wie Sidney Chambers dazu bei, dass eine weltliche Sühne erfolgt. Wie gewohnt erzählt James Runcie auch in diesem Band um den Kirchenmann als Detektiv eine Reihe mehr oder minder in sich abgeschlossener Fälle, die durch eine gut zwei Jahre umspannende Hintergrundhandlung um Sidneys Privatleben und die beruflichen Veränderungen (samt Umzug), die eine Beförderung für ihn mit sich bringt, zusammengehalten werden. Typische Krimis sind nicht alle der sechs Geschichten: So geht es nur manchmal primär um die Aufklärung eines Mordes oder sonstigen Verbrechens, während in anderen Fällen relativ schnell klar ist, was sich abgespielt hat, und die sich daraus ergebende Situation bewältigt werden muss. Die Themen sind dabei in diesem Band ziemlich düster, so dass einem einige der Episoden sehr an die Nieren gehen. Beispielsweise werden Sidney und Hildegard zu einem Jagdwochende eingeladen, bei dem sich die Gastgeberin als Opfer häuslicher Gewalt erweist, aufgrund ihrer streng katholischen Überzeugungen aber gar nicht aus ihrer fürchterlichen Ehe ausbrechen will. An anderer Stelle geht es um sexuellen Missbrauch an einer Privatschule und die verheerenden Folgen des von allen, die etwas unternehmen könnten, lange totgeschwiegenen Systems. Auch aufgrund trauriger Parallelen in der Realität lesen sich diese Passagen noch weitaus verstörender als der recht spektakuläre Mord, bei dem ein Mann von seinem eben in Anlieferung befindlichen Konzertflügel erschlagen wird.

Sidneys Freundschaft mit Geordie tritt in diesem Band etwas in den Hintergrund. Für Frotzleien, die fließend in echte Kritik übergehen, ist nun eher Hildegard zuständig, die durch ihren Beruf als Pianistin und Klavierlehrerin auch einen der Anknüpfungspunkte für die immer wieder eingeflochtenen Exkurse in Kunst und Kultur bildet. Mit thematisch etwas anderem Schwerpunkt gilt das auch für Sidneys alte Freundin, die Kunsthistorikerin Amanda Kendall. Diese erhält nicht nur Drohbriefe und arrangiert eine Bildungsreise nach Florenz, auf der Sidney unter Diebstahlsverdacht gerät, sondern feiert auch ihre Hochzeit, was Sidney mit der Frage konfrontiert, ob er nicht doch noch mehr für sie empfindet, als es sich für einen verheirateten Mann eigentlich gehört. Die Figuren schon aus früheren Geschichten zu kennen, ist übrigens ganz hilfreich, da James Runcie mit den Charakterisierungen eher sparsam bleibt und nicht unbedingt ausführlich rekapituliert, wie bestimmte Konstellationen zustandegekommen sind.

Gewünscht hätte man dem Band ein gründlicheres inhaltliches Lektorat, weil hier und da kleine Kontinuitätsfehler auftreten (z. B. scheinen Sidney mehrfach Informationen, über die er schon verfügt, zu entfallen, ohne dass dies als absichtliche Schilderung von Vergesslichkeit oder Unaufmerksamkeit kenntlich gemacht wäre, und Amanda wird auch Monate nach ihrer Hochzeit von Bekannten noch als „Miss Kendall“ angesprochen). Stilistisch liest sich die Übersetzung von Renate Orth-Guttmann aber angenehm, und auch insgesamt bildet die Mischung aus Spannung, Sozialkritik, Humor und philosophischen Momenten keine schlechte Lektüre, obwohl es schöner gewesen wäre, wenn Runcie manchen seiner Figuren mehr Raum gelassen hätte, sich zu entfalten.

James Runcie: Die Vergebung der Sünden. Sidney Chambers ermittelt. 2. Aufl. Hamburg, Atlantik (Hoffmann und Campe), 2020, 368 Seiten.
ISBN: 978-3-455-00548-6

 

 


Genre: Anthologie, Erzählung, Roman

The Christmas Collection

Der Titel ist Programm: In The Christmas Collection bietet die vielseitige Autorin und Hugo-Preisträgerin Cora Buhlert ein Potpourri von Weihnachtsgeschichten unterschiedlicher Länge, das quer durch die beliebtesten Genres der Unterhaltungsliteratur führt, von Romance über Fantasy, Horror und Krimi bis hin zu Science Fiction.

Den Anfang machen fünf in der realen Welt angesiedelte Liebesgeschichten. Drei davon greifen ineinander, da sie alle im selben amerikanischen Einkaufszentrum, der Hickory River Mall, spielen. In der warmherzigen kleinen Meet-Cute-Geschichte Christmas Gifts besorgt Protagonist Tim auf die letzte Minute ein Geschenk für seine Mutter. Es zu verpacken erweist sich als wahre Herausforderung, aber zum Glück naht unerwartete Hilfe, aus der sich rasch mehr ergibt.

Etwas zynischer setzt Christmas Shopping with a Broken Heart ein. Nachdem ihr Freund ihr jäh den Laufpass gegeben hat, bricht Hannah, tief enttäuscht, zu Weihnachtseinkäufen auf. Im Gedränge kommt es zu einem spektakulären Zusammenstoß – und der hat Folgen.

Länger und in nach Weihnachtssongs benannte Kapitel gegliedert ist Christmas at Hickory Mall: The Crappiest Christmas Ever. Während die Studentin Jessica nach dem Scheitern der Ehe ihrer Eltern auf die letzte Minute ein eigenes Weihnachtsfest fernab der Familie zu organisieren versucht, trauert Weihnachtsbaumverkäufer Matt besseren Zeiten nach, und natürlich treffen die beiden aufeinander.

Christmas Eve at the Purple Owl Café führt dagegen auf die andere Seite des Atlantiks. Im zur Abwechslung einmal verschneiten Norddeutschland weigert die junge Katie sich zum ersten Mal, den Heiligabend mit der wenig liebenswerten Verwandtschaft zu verbringen. Doch statt trübsinniger Einsamkeit hat das ungewöhnliche Weihnachten unverhofft doch noch nette Gesellschaft für Katie zu bieten.

Nicht weit entfernt spielt auch Driving Home for Christmas. Auf dem Weg von Münster nach Hamburg hat die Studentin Laura am Heiligabend eine Autopanne. Als dann auch noch ihr Handy versagt, scheint die Lage ernst, aber auf dem Parkplatz, auf dem ihr Wagen liegengeblieben ist, ist sie vielleicht doch nicht so allein, wie sie erst geglaubt hat.

Eine winterliche Romanze fehlt auch in The Bakery on Gloomland Street nicht, aber hier geht es deutlich phantastischer zu als in den fünf vorhergehenden Texten: Rachel Hammersmith übernimmt eine kleine Bäckerei im ewig nebligen Hallowwind Cove, ohne beim Namen der Vorbesitzerin Marie Percht schon Böses zu ahnen, bekommt es aber dann in der Adventszeit mit dem Krampus höchstpersönlich zu tun – denn der ist, wie sich herausstellt, nur auf sehr spezielle Art zu besänftigen (die bei einem deutschen Lesepublikum – je nach regionaler Herkunft – durchaus Kindheitserinnerungen wecken dürfte).

Überwiegend fern der Menschenwelt (und hoffentlich in einem anderen Universum als der vorherige Text) ist Revolt at the North Pole angesiedelt, eine Geschichte, um die Weihnachtsmannfans, die sich das Bild eines gütigen alten Mannes erhalten wollen, lieber einen großen Bogen machen sollten: Die Weihnachtselfen wollen sich nicht länger von Santa Claus ausbeuten lassen, aber ohne Verbündete können sie den Aufstand nicht wagen. Während manche überredet werden müssen, schließt sich unversehens auch ein sehr unwahrscheinlicher Helfer der Revolte an, und Dramatisches geschieht, bevor auch nur ans alljährliche Geschenkeausliefern gedacht werden kann.

Eindeutig düstere Aspekte hat Weihnachten auch in Witchfinders: The Solstice Horror, und das nicht nur, weil die Geschichte vor dem Hintergrund der Hexenverfolgung im Neuengland des späten 17. Jahrhunderts spielt. Der junge Puritaner Matthew Goodson, unlängst noch Lehrling gefürchteter Hexenjäger, ist mit der Hexe Grace Pankhurst auf der Flucht vor seinen ehemaligen Meistern. Doch in dem Wald, den sie durchqueren müssen, um ihren Verfolgern zu entgehen, lauert ein nicht minder gefährliches Wesen, das ausgerechnet im tiefsten Winter aktiv zu werden pflegt.

Zurück in ein Setting ohne übernatürliche Elemente führt A Bullet for Father Christmas. Kurz vor Weihnachten liegt ein Mann im Weihnachtsmannkostüm erschossen in einem Juwelierladen – getötet angeblich von seinem Komplizen bei einem Raubversuch. Der Fall stellt Detective Inspector Helen Shepherd zunächst vor ein Rätsel, aber vielleicht noch schwieriger ist die Frage zu klären, wo sie das besondere Spielzeug auftreiben soll, das ihre kleine Nichte sich von ihr wünscht.

Helen Shepherd hat einen zweiten Auftritt in Santa’s Sticky Fingers und muss auf einem nach deutschem Vorbild gestalteten englischen Weihnachtsmarkt auf die Jagd nach Taschendieben gehen. Während von den Marktbeschickern wüste Verdächtigungen über vermeintlich kriminelle Osteuropäer und den örtlichen Obdachlosen geäußert werden, führen Helens Nachforschungen bald auf eine ganz andere Spur. Ein spezielles Geschenk für ihre Nichte aufzutreiben, ist allerdings auch diesmal wieder eine echte Herausforderung.

Durchaus kriminell geht es auch in The Silencer: St. Nicholas of Hell’s Kitchen zu, allerdings nicht in England, sondern in New York der 1930er Jahre. Richard Blakemore führt dort ein Doppelleben als Pulp-Autor und als sein eigener literarischer Held, der geheimnisvolle „Silencer“, der gegen das Verbrechen kämpft. Als er auf der Flucht vor Verfolgern in ein Kinderheim gerät und erfährt, dass es durch die Machenschaften skrupelloser Immobilienhaie von der Schließung bedroht ist, kann er natürlich nicht untätig bleiben.

The Tinsel-Free Christmas Tree  ist nicht nur eine Satire auf erklärungslastige Science Fiction, die unbeholfen alles und jedes übergenau zu erläutern versucht, sondern bedient sich geschickt einer ähnlichen Erzähltechnik wie die bekannte Kurzgeschichte Despoilers of the Golden Empire: Durch exotisch anmutende, wenngleich korrekte Bezeichnungen wird ein eigentlich sehr alltäglicher Ehekrach zu einer höchst grotesken Diskussion, und der Name des Paares, das sich hier über seinen Weihnachtsbaum in die Haare gerät, bleibt nicht die einzige Anspielung auf Loriot.

Völlig schräg wird es in The Robot Turkey Apocalypse, einer humoristischen Horrorstory, in der das Ende der Welt ausgerechnet durch aus dem Nichts auftauchende Robotertruthähne mit mörderischen Absichten eingeläutet wird.

Wesentlich friedlichere Verhältnisse herrschen in A Year on Iago Prime: Christmas on Iago Prime, aber zufrieden ist die kleine Libby trotzdem nicht: Als Tochter eines Wissenschaftlerpaares ist sie gezwungen, Weihnachten fern des heimatlichen Boston in der Weltraumkolonie Iago Prime zu verbringen, wo sie sich als einziges Kind unter Erwachsenen tödlich langweilt. Als sich abzeichnet, dass es hier nicht einmal einen richtigen Weihnachtsbaum geben wird, kann wohl nur noch eines helfen: eine Nachricht an Santa Claus.

Wie der Titel schon ahnen lässt, ist die Ausgangslage in Christmas after the End of the World um einiges unersprießlicher: Hier versucht die dreizehnjährige Natalie, ihrem kleinen Bruder Liam, Findelkind Olivia und Hund Bud ein schönes Weihnachten unter postapokalyptischen Bedingungen zu ermöglichen. Damit, dass sie alle ein Weihnachtswunder erleben werden, rechnet sie allerdings nicht.

Cora Buhlert schreibt humorvoll, routiniert und oft sozialkritisch, mit souveräner Genrekenntnis und gelegentlich einem Schuss Nostalgie, aber auch reichlich (Selbst-)Ironie. So bieten ihre Texte neben den eigentlichen Geschichten einen bunten Anspielungsstreifzug durch die Popkultur, auch in Form vieler Witze in der Namensgebung (so taucht z. B. in einem der Krimis gewiss nicht ohne Grund ein gewisser Jürgen Roland auf), und sind mit einprägsamen sprachlichen Bildern gespickt (aber in welcher Geschichte genau etwas like the aftermath of a Visigoth raid aussieht, wird hier selbstverständlich nicht verraten).

Außerdem gerät nicht aus dem Blick, dass nicht für alle Menschen um diese Jahreszeit ein christliches oder auch nur säkularisiertes Weihnachtsfest wichtig ist; so schiebt in der Hickory River Mall Barista Mohammad auch am Heiligabend Dienst wie üblich, während in anderen Geschichten Chanukka und pagane Winterbräuche Erwähnung finden. Aber ganz egal, welcher Feiertag genau nun begangen wird: für liebevoll beschriebene kulinarische Genüsse ist immer gesorgt, und so ist ein garantierter Nebeneffekt der Lektüre, dass man beim Lesen Appetit auf alles Mögliche von Weckmännchen über Kekse bis hin zu Glühwein bekommt.

Aufgrund der Fülle abgedeckter Genres ist in der Sammlung wirklich für so gut wie jeden Geschmack etwas dabei. Wer in der Advents- und Weihnachtszeit zur Ablenkung von Stress und Hektik entspannende und unterhaltsame Lektüre sucht, die sich häppchenweise zwischendurch oder auch am Stück prima weglesen lässt, kann mit The Christmas Collection also nicht viel falsch machen.

Cora Buhlert: The Christmas Collection. Bremen / Stuhr, Pegasus Pulp Publications, 2021 (E-Book, PDF-Fassung 226 Seiten).
ISBN: 978-1-393-38370-3


Genre: Anthologie, Erzählung

Stadt – Natur

Drei kurze Verse, wie spontan hingeworfen, aber immer durchdacht und voller Esprit – das sind Heike Ballers Haiku, kleine Gedichte nach japanischem Vorbild. Nachdem im letzten Sommer mit Mein Jahr in Haiku die erste Sammlung dieser zarten Poesie mit Tiefgang erschienen ist, folgt nun mit Stadt – Natur der zweite Band.

Der Titel (der den Gegensatz zwischen Stadt und Natur ebenso evoziert wie den Begriff der Stadtnatur) verrät es schon: Heike Baller ist eine begnadete Wortspielerin mit viel Gefühl für sprachliche Zwischentöne. Mehrdeutigkeiten und Assoziationen weiß sie gekonnt einzusetzen, wie etwa dieser Blick ins Buch zeigt:

Blick in das Buch "Stadt - Natur" von Heike Baller (S. 18-19)

Blick ins Buch: Heike Baller: „Stadt – Natur“, S. 18 – 19

Bei der so herrlich verschiedene Interpretationsmöglichkeiten vermengenden „heruntergekommenen Wolke“ (S. 19) allein bleibt es nicht. Zweimal hinlesen muss man auch bei den oft in unerwartetem Kontext pointiert benannten Kontrasten zwischen Tod und Leben, Stehenbleiben und Vorbeilaufen, aber vor allem eben immer wieder auch Stadt (bzw. Zivilisation allgemein) und Natur.

Dieses Neben-, Mit- und manchmal auch Gegeneinander, das ihre auf täglichen Spaziergängen am Stadtrand gemachten Beobachtungen prägt, in ihren Haiku einzufangen, ist laut Vorwort auch Heike Ballers erklärtes Ziel, und es gelingt ihr gut. Gerade ihr Talent, Naturphänomene in sehr menschliche Begriffe zu fassen und umgekehrt Menschengemachtes auf eine Art zu bechreiben, die einen erst einmal an Natürliches denken lässt, lässt einen oft aufmerken und den gewohnten Blick auf die Dinge hinterfragen.

Daneben gibt es aber auch rein poetische Momente zum Schwelgen, oft eingefangen in liebevollen Wortschöpfungen: „Lichttupfenbestreut“ (S. 37) zeigen sich Wolken, während ein Baum „moosummantelt“ (S. 21) ist, und dem, der hinzusehen weiß, bietet sich eine „Fernblicksillusion“ (S. 24), wenn nicht gerade „das Nebel-Nichts“ (S. 45) alles verhüllt. Besonders sind es immer wieder die differenziert in all ihren Schattierungen geschilderten Farben, die auch dann Bilder heraufbeschwören, wenn das jeweilige Gedicht gerade nicht durch eines der schönen Fotos illustriert wird, die auf manchen Seiten die Haiku begleiten und ergänzen. Das „Kopfkino“ (S. 23) läuft auf alle Fälle nicht nur bei der Dichterin, sondern auch bei denen, die ihre Texte auf sich wirken lassen.

Einlullen lassen sollte man sich davon aber nicht, denn die Erwartung, ein stimmungsvolles Naturbild unverfälscht genießen zu können, wird oft genug enttäuscht (clever gemacht etwa in der „Farbharmonie mit Herbstlaub“, S. 12, deren Quell alles andere als romantisch ist). So bietet der Streifzug in 60 Haiku quer durch die Jahreszeiten immer wieder Überraschungen, und man kann sich blendend damit unterhalten, das Buch in einem Abend zu verschlingen. Eigentlich aber haben die schönen Miniaturgedichte es verdient, dass man noch häufiger zu ihnen greift und sich geduldiger auf sie einlässt, denn interessant genug für ein zweites, drittes oder viertes Lesen (und Durchdenken) sind sie allemal.

Heike Baller: Stadt – Natur. Norderstedt, Books on Demand, 2022, 76 Seiten.
ISBN: 978-3-7557-7824-0

Wer gern mehr über die Hintergründe von Heike Ballers Haiku erfahren möchte, findet hier ein Interview, das ich vor einiger Zeit mit ihr geführt habe.

 

 

 


Genre: Anthologie