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Caspar David Friedrich und der weite Horizont

Caspar David Friedrich wurde 1774 geboren, und so ist 2024 ein Jubiläumsjahr, in dem zahlreiche Ausstellungen und Publikationen den berühmten Maler würdigen, darunter auch das äußerlich besonders ansprechend gestaltete Büchlein Caspar David Friedrich und der weite Horizont.

Die Kunsthistorikerin Kia Vahland legt damit keine Biographie im klassischen Sinne vor, sondern eher einen bisweilen philosophischen Streifzug durch Bild- und Lebenswelten des Künstlers und die Beschäftigung der Nachgeborenen mit ihm, von der unverdienten Vereinnahmung durch die Nationalsozialisten bis zu den neuesten Perspektiven der modernen Forschung.

Vahland zeichnet Friedrich als durchaus widersprüchlichen Menschen: Einerseits war er frommer Protestant, experimentierfreudiger Kreativer, begeisterter Wanderer und neugieriger Erkunder von Außenwelt und Seelenleben, andererseits aber auch früh durch den Verlust von Mutter und Bruder traumatisiert, unglücklich bis hin zum (glücklicherweise gerade noch vereitelten) Suizidversuch und in späteren Jahren in seiner launischen Art für sein Umfeld, insbesondere auch seine Frau Caroline Bommer, nicht immer leicht zu ertragen.

Dass die in diesem Buch erfreulicherweise in Farbe wiedergegebenen (Landschafts-)Bilder, die solch ein sperriger Charakter malt, alles andere als rein dekorativ und gefällig sind und mancherlei Untiefen aufweisen, versteht sich fast schon von selbst. Vahland nähert sich ihnen einfühlsam und mit viel Scharfblick, ob nun den ganz berühmten wie dem Mönch am Meer und dem Wanderer über dem Nebelmeer oder eher unbekannten Skizzen wie der Flachlandschaft auf Rügen, die viel über Friedrichs Umgang mit dem Horizont verrät, der für Vahland „sein bester Freund“ (S. 35) ist und seine Gemälde wie kaum ein anderes Element prägt.

Doch die Horizonterweiterung, die Friedrich durch besonders weite Blickwinkel vornimmt, ist eben nicht nur eine rein wörtliche, sondern auch eine im übertragenen Sinne zu sehende, die den Menschen zum Nachdenken anregen soll und will. Welche Rolle dabei auch seine oft nur in Rückenansicht auftretenden Figuren spielen, die mehr als bloße Staffage sind und nicht nur auf den Kontrast zwischen (Stadt-)Leben und vermeintlich urwüchsiger Natur, sondern oft genug auch auf spirituelle Inhalte und auf die politischen Diskurse seiner Zeit verweisen, arbeitet Vahland mit einer angesichts des begrenzten Raums von nur 110 Seiten erstaunlichen Tiefe heraus.

Ihr auf ihrem Streifzug durch Friedrichs Welt zu folgen, macht daher nicht nur viel Vergnügen, sondern ist auch lehrreich und regt dazu an, sich vielleicht selbst noch genauer mit dem ein oder anderen Gemälde zu befassen.

Kia Vahland: Caspar David Friedrich und der weite Horizont. Berlin, Insel Verlag, 2024 (Insel-Bücherei Nr. 1535), 110 Seiten.
ISBN: 978-3-458-19535-1

 


Genre: Biographie, Kunst und Kultur

Ich, Helene Kottannerin

Elisabeth von Luxemburg, Tochter Kaiser Sigismunds und mit dessen Nachfolger, dem Habsburger Albrecht II., verheiratet, war schwanger, als ihr Mann 1439 einer Krankheit erlag, und hoffte darauf, einen männlichen Erben zur Welt zu bringen und so bald wie möglich zum König von Ungarn krönen lassen zu können. Dazu war die auf der Plintenburg in Visegrád verwahrte ungarische Königskrone unabdingbar notwendig, die Aussicht allerdings, dass man sie Elisabeth einfach aushändigen würde, gering: Der ungarische Adel pochte auf seinen Einfluss, wollte das dynastische Prinzip bei der Nachfolge nicht gelten lassen und hätte einen Erwachsenen gegenüber einem Kindkönig bevorzugt. In dieser Situation beauftragte Elisabeth die loyal zu ihr stehende Kammerfrau Helene Kottannerin, die Krone heimlich zu stehlen und zu ihr zu bringen – ein Vorgang, über den wir im Detail nur deshalb so gut unterrichtet sind, weil die Diebin wider Willen in späteren Jahren einen ausführlichen autobiographischen Bericht darüber und über die weiteren Geschehnisse noch über die tatsächlich erfolgte Krönung von Elisabeths Sohn Ladislaus Postumus hinaus verfasste.

Es ist dieser ungewöhnliche, leider nur unvollständig überlieferte Text aus einer an Memoiren zumal von Frauen noch sehr armen Zeit, den die Historikerinnen Julia Burkhardt und Christina Lutter in ihrem lesenswerten Buch in neuhochdeutscher Übersetzung präsentieren (und durch hilfreiche Unterüberschriften gliedern), um dann eine umfassende historische Einordnung vorzunehmen, die ein tiefes Eintauchen in die Welt des späten Mittelalters ermöglicht.

Schon geographisch in einer Kontaktzone zwischen verschiedenen Kultur- und Sprachräumen angesiedelt, ist der Bericht der Helene Kottannerin (die sich übrigens selbst darin „Helena“ oder „Elena“ nennt, während die Forschung ihr die Namensform „Helene“ gegeben hat) auch deshalb so interessant, weil er zwar in einem höfischen Umfeld spielt, aber aus der Perspektive einer Person bürgerlichen Standes geschrieben ist, die Kontakt zu Menschen aus unterschiedlichen sozialen Schichten hatte und diesbezüglich auch oft eine Vermittlerinnenrolle einnahm. Neben der politischen Geschichte der Durchsetzung der erwünschten Nachfolge durch die Königin spielt daher auch viel Alltagshistorisches eine Rolle, von beschwerlichen Reisen des Hofs über Schlafarrangements und Kinderpflege bis hin zu Religiosität und Aberglauben (so liest man hier von wundertätigen Erbsenschoten und davon, dass aus Sicht der Kammerfrau entweder ein Gespenst oder der Teufel höchstpersönlich den Kronendiebstahl zu hintertreiben versuchte).

Wer das Vorurteil hat, dass ein mittelalterlicher Text notwendigerweise trocken und schwierig zu lesen sein muss, wird hier eines Besseren belehrt, denn Helene Kottannerin schreibt nicht nur anschaulich, sondern auch sehr lebensnah und in manchen Punkten ehrlicher, als man es vielleicht im Voraus erwartet (so führt die Krönung eines wenige Monate alten Babys trotz aller Feierlichkeit eben auch und vor allem zu einem wie am Spieß brüllenden kleinen König). Diese erfrischende Offenheit macht die Quelle zu einer, die über ihre historische Bedeutung hinaus auch einen hohen Unterhaltungswert hat und nebenbei mit dem Klischee aufräumt, Frauen im Mittelalter seien bestenfalls passive Schachfiguren in männlichen Machtspielen gewesen. Sowohl die Königin als auch ihre Kammerfrau wissen sehr genau, was sie wollen, und finden Mittel und Wege, es auch zu erreichen.

Zahlreiche Abbildungen und nützliche Hilfsmittel (wie Kartenmaterial, eine Konkordanz der deutschen und ungarischen Formen von Ortsnamen und eine Stammtafel, aus der sich die teilweise verwirrenden familiären Verflechtungen zwischen Luxemburgern, Habsburgern, Cilliern und Jagiellonen entnehmen lassen) runden den ebenso kompakten wie gelungenen Band ab, der hiermit allen ans Herz gelegt sei, die sich für das späte Mittelalter interessieren.

Julia Burkhardt, Christina Lutter: Ich, Helene Kottannerin. Die Kammerfrau, die Ungarns Krone stahl. Darmstadt, wbg Theiss, 2023, 192 Seiten.


Genre: Biographie, Geschichte

Michelangelo

Michelangelo Buonarroti zählt auch heute, fünfhundert Jahre nach seiner Zeit, zu den bekanntesten Künstlern überhaupt. Wer eine eingängig lesbare Einführung in Leben und Werk des Mannes sucht, dessen Gemälde und Skulpturen immer noch unmittelbar anzusprechen vermögen, wird bei Claudia Echinger-Maurach fündig, der es in Michelangelo gelingt, auf nur 128 Seiten anschaulich das Wichtigste zusammenzufassen, was man über die vielschichtige Persönlichkeit wissen muss.

In eine geachtete, aber nicht übertrieben reiche Florentiner Familie hineingeboren, setzte Michelangelo seine Ausbildung zum Künstler gegen den Willen seines Vaters durch und war, bis er mit fast 89 Jahren starb, über Jahrzehnte ununterbrochen auf vielen Gebieten aktiv und erfolgreich, ob nun als Bildhauer, Maler, Architekt oder Dichter. Seinem allein schon in seinem Umfang, aber auch und vor allem natürlich in seiner Qualität eindrucksvollen Schaffen widmet Echinger-Maurach sich mit großem Einfühlungsvermögen und mit einer spürbaren Begeisterung für ihr Thema, die umso ansteckender ist, weil sie in den letzten Jahren insbesondere in den Geisteswissenschaften selten geworden und, wenn überhaupt, allenfalls noch im Nature Writing, aber kaum bei kunsthistorischen Gegenständen zu finden ist. Weltbekanntes wie die Fresken in der Sixtinischen Kapelle oder den David, aber auch Kleineres und dem allgemeinen Publikum nicht so Vertrautes, wie etwa Zeichnungen oder einzelne Gedichte Michelangelos, stellt sie liebevoll und, soweit im Rahmen der Buchlänge möglich, durchaus ausführlich vor.

Neben den in zahlreichen Abbildungen (einschließlich zweier farbiger Tafelteile) präsenten Kunstwerken wird aber immer wieder auch der Mensch Michelangelo, der durch Selbst- und Fremdzeugnisse für jemanden seiner Epoche außergewöhnlich gut fassbar ist, in den Mittelpunkt gerückt: Voller Schaffensdrang, aber ebenso voller Bereitschaft, Begonnenes auch einfach abzubrechen, wohlhabend, aber ohne großen Hang zum Materiellen, mit viel gelegentlich beißendem Humor gesegnet, auch schon einmal unglücklich in einen etwa 40 Jahre Jüngeren verliebt und mit seinen immer wieder auf finanzielle Unterstützung hoffenden Brüdern nicht jederzeit auf bestem Fuß, tritt er einem sehr lebendig entgegen. Um ihn als zentrale Gestalt herum entsteht dabei ganz nebenbei das Panorama einer bewegten Epoche voll kriegerischer Päpste, politischer Intrigen und großer Kunst nicht nur von Michelangelos Hand.

So hat man nach der Lektüre das Gefühl, einen unterhaltsamen und zugleich lehrreichen Streifzug durch die italienische Renaissance unternommen zu haben, und fühlt sich ermuntert, sich vielleicht noch tiefer mit einzelnen Werken Michelangelos zu befassen.

Claudia Echinger-Maurach: Michelangelo. München, C.H. Beck, 2023, 128 Seiten.
ISBN: 978-3-406-80703-9


Genre: Biographie, Kunst und Kultur

Mann vom Meer

Das Meer spielt nicht nur in den Werken Thomas Manns eine große Rolle, sondern war für den Schriftsteller auch sein Leben lang ein immer wieder gern aufgesuchter Ort von einer gewissen Ambivalenz: Stand es für ihn einerseits, begonnen mit der schon in seiner Kindheit kennengelernten Ostsee, für Ruhe, Erholung und Entspannung fern aller Zwänge, war es ihm andererseits auch ein Bild für dunkle und zerstörerische Strömungen, ob nun in der eigenen Psyche oder auf politischer und gesellschaftlicher Ebene.

So ist es ein komplexer Gegenstand, dessen sich Volker Weidermann in seinem herrlich mehrdeutig (oder vielleicht eher „meerdeutig“?) betitelten Mann vom Meer nicht ohne Anspruch, aber doch mit leichter Hand annimmt. Mit der Beziehung zum Meer als rotem Faden bietet er eine schlaglichtartige Biographie und eine zitatreiche Werkschau Thomas Manns, allerdings ergänzt um biographische Grundzüge von Manns in ihren ersten Lebensjahren an der brasilianischen Küste aufgewachsenen Mutter Julia da Silva-Bruhns und seiner als Seerechtsexpertin bekannt gewordenen Tochter Elisabeth Mann Borgese, deren jeweiliger Bezug zum Meer von dem des berühmten Sohnes bzw. Vaters für Weidermann nicht zu trennen ist.

Diese Entscheidung hat ihren tieferen Sinn, denn die Auseinandersetzung mit dem Meer ist bei Mann – literarisch wie real – immer auch mit dem Ringen mit und oft zugleich Scheitern an familiären wie gesellschaftlichen Erwartungen verknüpft. Ironischerweise ist in der Familie Mann die Freiheitssuche am Strand und im Wasser von einem über die Generationen immer wieder erlittenen und doch in unterschiedlicher Weise gnadenlos weitergegebenen Anpassungsdruck nicht zu trennen. Besonders in Thomas Manns Fall nimmt es wunder, dass er es zwar selbst als quälend empfand, Neigungen wie die seinerzeit noch verpönte Homosexualität unterdrücken zu müssen, und sich, etwa in den Buddenbrooks oder in Tonio Kröger, als hellsichtiger Schilderer der geistigen Enge einer individuellen Wünschen gegenüber kaum aufgeschlossenen städtischen Oberschicht zeigt, es aber seinen eigenen Kindern auch nicht unbedingt leicht machte, so dass selbst seine erklärte Lieblingstochter Elisabeth in der Angst leben musste, ihn zu enttäuschen.

Eingedenk dessen kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass hier neben großer literarischer Schönheit oft ebenso große menschliche Hässlichkeit steht, auch wenn Mann auf einigen Gebieten in späteren Jahren noch umschwenkte (so beispielsweise in politischer Hinsicht, als er sich gegen das Naziregime wandte). Manns Weg, der von der Ostsee über Nordsee,  Mittelmeer und Atlantik bis ins Exil am Pazifik führt und mit dem Bodensee, dem „Schwäbischen Meer“, auch noch einen meerartigen Binnensee von einiger Bedeutung zu bieten hat, ist daher auch einer, der immer wieder Untiefen bereithält (und ob man mit Weidermanns Einschätzung mitgehen möchte, dass zumindest in der Literatur das Düstere und Tragische stets das Wahrere und daher dem Idyllischen überlegen sei, ist wohl in hohem Maße eine Frage des eigenen Temperaments und Charakters).

Die selbst phasenweise romanhaft erzählte Synthese aus Biographischem, Literarischem und klug Beobachtetem ist aber insgesamt gelungen, und gerade, wenn man selbst schon einige von Thomas Manns Texten gelesen hat, macht es Vergnügen, sie hier noch einmal ganz neu aus Weidermanns Sicht unter dem Meeresaspekt mitzubetrachten.

Volker Weidermann: Mann vom Meer. Thomas Mann und die Liebe seines Lebens. 2. Aufl. Köln, Kiepenheuer & Witsch, 2023, 240 Seiten.
ISBN: 978-3-4620-0231-7

 

 


Genre: Biographie, Kunst und Kultur

Der fremde Ferdinand

Die Brüder Grimm – das sind, so könnte man meinen, Jacob und Wilhelm, bekannt als Märchen- und Sagensammler und Germanisten. Dass aus der kinderreichen Familie ihrer Eltern neben ihnen noch eine Schwester und drei Brüder das Erwachsenenalter erreichten, wird dabei oft ausgeblendet, und dass ihr jüngerer Bruder Ferdinand ebenfalls Märchen und Sagen sammelte und unter verschiedenen Pseudonymen veröffentlichte, ist so gut wie vergessen.

Aufgrund seines geringen Bekanntheitsgrades und der vergleichsweise spärlichen Informationen über sein Leben und Werk ist er für Heiner Boehncke und Hans Sarkowicz Der fremde Ferdinand. In ihrem von Hagen Verleger auch äußerlich ausgesprochen schön gestalteten Buch geben sie nicht nur unterschiedliche Märchen und Sagen Ferdinand Grimms und seine boshafte Schlüsselerzählung Tante Henriette neu heraus, sondern legen neben Erläuterungen zu den einzelnen Texten auch eine biographische Skizze vor.

Ferdinand Grimm galt zu Lebzeiten als schwarzes Schaf der Familie. Nach dem frühen Tod des Vaters in der Schule nicht so brillant wie seine ältesten Brüder, musste er, unter anderem auch aus finanziellen Gründen, auf ein Studium verzichten und fasste beruflich nie dauerhaft Fuß, so dass er in vielen Phasen seines Lebens auf finanzielle Unterstützung durch seine Geschwister angewiesen war. Ungetrübt war sein Verhältnis zu diesen und insbesondere zu seinen berühmten älteren Brüdern allerdings nicht – möglicherweise auch (wie Boehncke und Sarkowicz aus verhüllenden Andeutungen im Briefwechsel der Familie untereinander und mit Freunden und Bekannten rekonstruieren), weil Ferdinand vermutlich homosexuell war.

Wurde er so selbst zum Opfer der Vorurteile seiner Zeit, teilte er sie in anderer Hinsicht, etwa, was seine eher negative Sicht auf Juden betrifft. Als Märchen- und Sagensammler allerdings scheint er offener und kontaktfreudiger als seine Brüder gewesen zu sein. Abgesehen davon, dass er älteren Textsammlungen und auch Chroniken Märchen- und Sagenhaftes entnahm, kam er, unter anderem auch auf langen Reisen zu Fuß, mit einer heterogeneren Schar von Erzählerinnen und Erzählern in Kontakt. So verwundert es nicht, dass neben vollständigen Geschichten in seinen Sammlungen teilweise auch nur kleine Sagenversatzstücke oder aber ganz andere Textgattungen wie Abzählreime mit auftauchen. So stößt man auf viel Unerwartetes und Unbekanntes. Wer ahnt z. B., dass in den Schweizer Bergen angeblich eine alte Frau umgeht, die ihre Nase zu einem Greifrüssel verlängern kann, mit dem sie ahnungslose Menschen erbeutet, oder dass nicht nur Karl der Große, sondern auch sein sächsischer Gegner Widukind in einem Berg seiner Wiederkunft harrt?

Die enthaltenen Texte Ferdinand Grimms sind geordnet nach den Büchern, in denen sie ursprünglich erschienen sind, veröffentlicht. Den ersten Abschnitt bilden Geschichten aus den Volkssagen und Mährchen der Deutschen und Ausländer (1820), in denen neben einem erwartbaren Schema folgenden Märchen auch amüsant-unerwartete Sagen (wie etwa von einem Bettler, der sich aus dem übernatürlich bewachten Keller der Ruine einer Deutschordensburg mit Wein versorgen kann) enthalten sind. Die im nächsten Kapitel enthaltenen Volkssagen der Deutschen (1838) zeichnen sich dadurch aus, dass oft im selben Text unterschiedliche Varianten einer Sage nebeneinandergestellt werden (so etwa zur Herkunft von Rübezahl).

Die Burg- und Bergmärchen (1846 postum erschienen) führen dagegen in ein ganz anderes Genre, handelt es sich doch um von Märchen und Sagen inspirierte, literarisch ausgeformte Texte zwischen Kunstmärchen und früher Fantasy avant la lettre. Die Sprache ist hier für den modernen Geschmack oft etwas zu blumig und überbordend, der Inhalt aber durchaus nicht uninteressant (so dass man bedauert, dass die erste enthaltene Geschichte, Der Weibchenstein, nur in einer gekürzten Fassung aufgenommen ist). In diesen Texten stößt man nicht nur auf historisch höchst Erstaunliches (so verdankt die Familie der Fugger ihren unternehmerischen Erfolg hier nicht zuletzt dem Segen einer Waldfee), sondern auch auf die Erzählung Der Burgherr, in der das enge Verhältnis zweier Ritter, die sich über den Tod hinaus treu ergeben sind, sich nicht nur vor dem Hintergrund von Ferdinand Grimms möglicher eigener Homosexualität so liest, als ob hier zwischen den Zeilen mehr als nur Freundschaft gemeint ist.

Klassischer sagenhaft wird es wieder in den Texten aus Der unbekannte Bruder Grimm (1979), die Gerd Hoffmann und Heinz Rölleke aus Ferdinand Grimms Nachlass herausgaben. Neben den oben schon erwähnten Sagen um Karl den Großen sind hier vor allem viele Zwergengeschichten aller Art versammelt. Das Kapitel Aus dem Nachlass bietet schließlich noch eine kleine Auswahl bisher unpublizierter Geschichten. Darunter ist mit Een armer Buur auch ein niederdeutscher (allerdings mit einer hochdeutschen Übersetzung versehener) Text, in der der Tod zum Taufpaten eines Bauernsohns wird.

Im Anschluss daran folgt die reich bebilderte biographische Skizze, in der es Boehncke und Sarkowicz glückt, den Menschen Ferdinand Grimm mit seinen Talenten, Ecken, Kanten und Widersprüchen fassbar zu machen. Die Entscheidung, die Erzählung Tante Henriette, deren Veröffentlichung Grund genug für Wilhelm Grimm war, den Kontakt zu Ferdinand dauerhaft abzubrechen, erst im Anschluss daran zu präsentieren, ist verständlich, macht Ferdinand sich darin doch gnadenlos über Jacob und Wilhelm, aber auch und vor allem über dessen Frau Dorothea lustig, so dass ein wenig Vorwissen über Ferdinands zeitweiliges Zusammenleben mit den dreien und ihre Konflikte mit ihm zum Verständnis beiträgt. Bedauerlich ist allerdings, dass bei diesem Text, anders als bei den Märchen und Sagen, auf Anmerkungen und Worterläuterungen komplett verzichtet wurde, denn inwieweit einem heutigem Lesepublikum alle Wendungen, die Ferdinand hier gebraucht (so etwa ein ziemlich gemeines, aber auch witziges Wortspiel über reales und attisches Salz), oder erwähnte Zeitgenossen wie Skrzinecki noch unbedingt geläufig sind, darf wohl bezweifelt werden.

Insgesamt jedoch bietet Der fremde Ferdinand einen faszinierenden Einblick in Leben und Werk eines zu Unrecht vergessenen Textsammlers und Schriftstellers, und so sei die Lektüre nicht nur Märchen- und Sagenbegeisterten ans Herz gelegt, sondern auch allen, die sich dafür interessieren, was die Literatur der Romantik abseits der bis in die Gegenwart berühmten Namen zu bieten hat.

Heiner Boehncke, Hans Sarkowicz (Hrsg.): Der fremde Ferdinand. Märchen und Sagen des unbekannten Grimm-Bruders. Mit einem Vorwort und einer biographischen Erkundung von Heiner Boehncke und Hans Sarkowicz. Bereichert mit zahlreichen Abbildungen. Berlin, Die Andere Bibliothek, 2020 (Extradrucke der Anderen Bibliothek Nr. 428), 448 Seiten.
ISBN: 978-3-8477-2032-4

 


Genre: Biographie, Märchen und Mythen

Diokletian

Eine historische Gestalt als Menschen voller Widersprüche zu beschreiben, wirkt immer etwas wohlfeil, aber auf den römischen Kaiser Diokletian trifft diese Charakterisierung so gut zu wie auf nur wenige andere: Aus niedersten Verhältnissen über den Militärdienst ins höchste Amt aufgestiegen, stellte er sein Durchsetzungsvermögen brutal unter Beweis, indem er einen Konkurrenten um die Macht eigenhändig tötete, war aber andererseits auch bereit, ebendiese Macht durch die Einrichtung der Tetrarchie in gewissem Maße zu teilen und nach zwanzig Jahren schließlich durch seine auf eigenen Wunsch erfolgte Abdankung wieder aus der Hand zu geben. Als Christenverfolger in der religiös geprägten späteren Historiographie als Gewaltherrscher verschrien, versuchte er doch zugleich, die einfache Bevölkerung – etwa durch sein Höchstpreisedikt – zu schützen und in Rechtssachen für die Verhältnisse seiner Zeit humane Entscheidungen zu fällen; als Bauherr prunkvollster Paläste und Thermen war er doch besonders stolz auf sein selbst angebautes Gemüse.

Ein solcher Mann ist, zumal, wenn die Quellenlage besser sein könnte, nicht leicht zu fassen, aber Alexander Demandt wagt in seiner Biographie Diokletian mit Erfolg den Versuch, dennoch so gut wie möglich ein Bild des Kaisers und seiner Zeit zu zeichnen – oder vielmehr seiner beiden Zeiten, denn für Demandt markiert Diokletians Wirken den Übergang von der durch häufige und nicht selten gewaltsame Herrscherwechsel geprägten Epoche der Soldatenkaiser zur Spätantike mit dem Erstarken des Christentums.

Der Fokus liegt dabei weniger auf der ereignishistorischen Nachzeichnung eines Lebenswegs als auf der Betrachtung unterschiedlichster Themengebiete (wie etwa Recht, Wirtschaft oder Militär) und der Art, wie sie sich unter und oft auch durch Diokletian veränderten. Wichtig ist Demandt dabei stets das Aufzeigen von Vergleichsfällen und kulturellen Kontinuitäten bis in die Neuzeit, ja bisweilen bis in die Gegenwart. Auch wenn man ihm diesbezüglich vielleicht nicht bei jeder Wertung ganz folgen möchte, zeigt die vorliegende Biographie doch beispielhaft, dass kein Leben isoliert betrachtet werden darf und auch die Beschäftigung mit einer scheinbar so fernen Epoche wie der Antike stark dazu beitragen kann, die heutige Welt zu verstehen – manchmal in ganz offensichtlicher Weise wie bei der Jahreszählung des koptischen Kalenders, oft aber auch in subtilerer Hinsicht.

Über Diokletian selbst fällt Demandt ein insgesamt recht positives Urteil und sieht ihn als pflichtbewussten und ernsthaft um Reformen bemühten Herrscher, der für zwei Jahrzehnte tatsächlich Stabilität in schwierigen Zeiten herzustellen vermochte, sich allerdings mit seinem Versuch verkalkulierte, durch die Tetrarchie dauerhaft ein Fundament dafür zu legen, weil diese Aufteilung der Macht widersinnigerweise nur durch die Machtfülle, über die Diokletian verfügte, und den hohen persönlichen Respekt, den er genoss, funktionierte. Nach seiner Abdankung war das System aus sich selbst heraus nicht tragfähig genug, um dem unbedingten Machtwillen Einzelner, vor allem Konstantins, etwas entgegenzusetzen.

Ein umfangreicher Anhang, der neben Anmerkungen, Register und Auswahlbibliographie auch noch kurze Erörterungen zu einigen Spezialfragen (u. a. zum in der Forschung strittigen Sterbejahr Diokletians) enthält, und Abbildungen einschließlich eines umfangreichen Tafelteils in Farbe runden den gelungenen Band ab. Nicht nur für an der Spätantike Interessierte ist die Lektüre also empfehlenswert und durch Demandts anspielungsreichen, oft auch nicht um bissige Bonmots verlegenen Stil durchaus unterhaltsam.

Alexander Demandt: Diokletian. Kaiser zweier Zeiten. Eine Biographie. München, C. H. Beck, 2022, 432 Seiten.
ISBN: 978-3-4067-8713-7


Genre: Biographie, Geschichte

Jesus. Leben und Wirkung

Für die religiösen Überzeugungen unzähliger Menschen spielt Jesus seit zwei Jahrtausenden eine zentrale Rolle, aber ob und in welchem Maße man Aussagen über die historische Persönlichkeit treffen kann, die zum Ausgangspunkt so vieler Glaubenssätze und Legenden wurde, ist in der Forschung eine ewige Streitfrage. Der evangelische Theologe Jens Schröter beantwortet sie eher optimistisch, und so spürt er in Jesus. Leben und Wirkung dem historischen Jesus nach und versucht zu ermitteln, wie viel von einem realen Kern hinter allen späteren Deutungen und Zuschreibungen heute noch fassbar ist.

Nach einem einleitenden Überblick über die Forschungssituation befasst sich das Kapitel Biblische und außerbiblische Quellen mit den Texten, die uns über Jesus zur Verfügung stehen. Neben den Evangelien (von denen laut Schröter interessanterweise oft das spät entstandene Johannesevangelium historisch wahrscheinlichere Informationen liefert als die drei synoptischen Evangelien) und weiteren Büchern des Neuen Testaments sind das zum einen die Apokryphen, zum anderen aber jüdische und pagane Schriften der Antike. Unter dem Stichwort Indirekte Zeugnisse stellt Schröter zudem archäologische Funde vor, die zwar nicht unmittelbar in Bezug zu Jesus stehen, aber – wie etwa ein im See Genezareth gefundenes Boot aus dem 1. Jahrhundert – die Lebenswelt fassbar machen, in der er sich bewegte.

Folgerichtig erhält Der geschichtliche Kontext auch ein eigenes Kapitel, in dem einerseits mit dem damaligen Judentum der geistesgeschichtliche Hintergrund des Auftretens Jesu erläutert wird, während andererseits ein Abschnitt die Lebens- und Herrschaftsverhältnisse in Galiläa schildert, mithin also der Region, in der Jesus nicht nur aufwuchs, sondern auch als Wanderprediger umherzog und Anhänger fand. Die Grundzüge des Wirkens Jesu beleuchtet daher auch das nächste Kapitel, das nicht nur das Verhältnis Jesu zu dem ebenfalls als Prediger aktiven Johannes dem Täufer unter die Lupe nimmt, sondern auch mit dem Begriff der „Gottesherrschaft“ eine zentrale Vorstellung aus den Lehren Jesu einführt und tiefer in die biblischen Texte einsteigt, um zu überprüfen, welche Aussagen tatsächlich auf Jesus selbst zurückgehen könnten, statt ihm nur zugeschrieben worden zu sein.

Wie das nächste Kapitel, Die Erneuerung Israels, vertiefend deutlich macht, sind nämlich spätere christliche Deutungen nicht unbedingt immer identisch mit dem, was Jesus bezweckt haben könnte, und mit seinem Selbstverständnis, in dem die Darstellung als „Sohn des Menschen“ bzw. „Menschensohn“ eine zentrale Rolle spielte. Was seine theologischen Aussagen betraf, bewegte er sich aber durchaus innerhalb der Spielräume, die das Judentum seiner Zeit kannte, so dass der Konflikt, in den er mit den religiösen Autoritäten geraten zu sein scheint, nicht allein mit seinen Lehren erklärbar ist. Die Passionsereignisse und der Tod in Jerusalem – so der Titel des letzten größeren Kapitels – zeigen laut Schröter vielmehr, dass er als politische Bedrohung wahrgenommen wurde: von den Römern als Unruhestifter, von der jüdischen Priesterschaft vermutlich deshalb, weil diese ein blutiges Vorgehen der römischen Besatzungsmacht gegen weitere Kreise für den Fall fürchtete, dass er und seine Anhänger tatsächlich einen Aufstand anzetteln könnten, so dass eine Positionierung gegen ihn Selbstschutz in einer als bedrohlich empfundenen Lage war. Unter dem Stichwort Jesus und die Entstehung des christlichen Glaubens wird abschließend noch knapp ein ansatzweiser Ausblick auf die frühchristliche Sicht auf Jesus gegeben.

Durch seine klare Gliederung und allgemeinverständliche Sprache, aber auch durch das hilfreiche Kartenmaterial und die auflockernden Abbildungen eignet sich das kurze Buch gut als Einstieg in die historische Jesusforschung für alle Interessierten. Aber auch diejenigen, die sich mit dem Thema schon befasst haben, können hier gerade dank der Einbeziehung der archäologischen Funde und der genauen Textarbeit noch neue Aspekte entdecken.

Jens Schröter: Jesus. Leben und Wirkung. München, C. H. Beck, 2020, 128 Seiten.
ISBN: 978-3-406-75601-6

 


Genre: Biographie, Geschichte

Karl V.

Herr über ein Reich, in dem sprichwörtlich die Sonne nicht unterging, dem Katholizismus treu gebliebener Herrscher der Reformationszeit, Gründergestalt der spanischen Linie des Hauses Habsburg und durch seine freiwillige Abdankung im Kreis der Renaissancefürsten Europas eine Ausnahme – es sind viele Assoziationen, die sich mit Karl V. (1500 – 1558) verbinden. Für Heinz Schilling ist er jedoch auch und vor allem Der Kaiser, dem die Welt zerbrach (so der Untertitel der vorliegenden Biographie).

Die Betonung der Amtsbezeichnung hat dabei durchaus Methode. Denn obwohl Karls Leben von seiner Kindheit in Burgund an über zahlreiche Reisen und Kriegszüge, die ihn durch halb Europa und darüber hinaus führten, bis zu seinem Tod in der Abgeschiedenheit des spanischen Klosters Yuste gut dokumentiert ist und durchaus auch Selbstzeugnisse vorliegen, bleibt der Mensch hinter der bisweilen widersprüchlich handelnden Herrscherpersönlichkeit schwer zu fassen. Bis auf einzelne Details wie die Freude an einer großen Uhrensammlung, eine Vorliebe für reichhaltiges Essen und eine offenbar sehr ausgeprägte Spinnenphobie bleibt bei Karl alles noch besser hinter einer vom rigiden Hofzeremoniell gestützten Fassade verborgen als bei seinen Zeit- und Standesgenossen.

Zwei prägende Züge kann Heinz Schilling in seiner Betrachtung des Kaisers aber doch herausarbeiten: eine tiefe Frömmigkeit und ein Bewusstsein der eigenen Auserwähltheit, das Karl dazu trieb, von sich selbst wie von anderen die Unterwerfung unter die von ihm für richtig gehaltenen dynastischen, religiösen und politischen Prinzipien zu verlangen. Was sich im persönlichen Umfeld – etwa bei Heiratsprojekten – unter unmenschlicher Vernachlässigung des psychischen und sonstigen Wohlbefindens der Betroffenen noch mehr oder minder durchsetzen ließ, musste im größeren Rahmen scheitern.

Denn der aus diesen Überzeugungen abgeleitete Universalismusanspruch, der Karl auf eine ungeteilte Christenheit und ein den Vorrang in ganz Europa beanspruchendes, wenn nicht gar weltumspannendes Kaisertum pochen ließ, war in einer Epoche nicht mehr durchzusetzen, in der sich neben dem Beginn der Konfessionalisierung auch erste Vorboten einer Herausbildung von Nationalstaaten regten. Karls durch Zufälle der Erbfolge zusammengekommenes Reich hatte denn auch keinen Bestand über seine Abdankung hinaus. Die von ihm vorgegebene kompromisslose Linie in Religionsfragen und vor allem auch seine von aus heutiger Sicht relevanten ethischen Überlegungen unberührte Förderung der Kolonisierung Amerikas sollten jedoch Bestand haben und damit die Weltgeschichte für die folgenden Jahrhunderte in eine teilweise verheerende Richtung lenken.

Heinz Schillings Biographie Karls V. ist damit weniger ein Lebens- und Charakterbild eines einzelnen Mannes als ein Ausloten der Weichenstellungen, die am Beginn der Neuzeit erfolgten und bis heute für uns alle prägend geblieben sind. Dieser Stoßrichtung trägt auch der Aufbau des Buchs Rechnung, der zwar auf den ersten Blick chronologisch zu sein scheint, in Wirklichkeit aber eher thematisch geordnet ist. In jedem der mit einem Ort und einem Datum oder Jahr betitelten Kapitel wird um ein wichtiges Ereignis aus Karls Leben herum – sei es seine Geburt, die Begegnung mit Luther in Worms, der Tunisfeldzug oder die Schlacht bei Mühlberg – mit Vor- und Rückgriffen in andere Phasen ein bestimmter Schwerpunkt erläutert.

Insgesamt liest sich das gut und durchaus anregend. Leider haben sich hier und da  Ungenauigkeiten eingeschlichen, was bei der schieren Fülle des Stoffs verständlich, aber doch bedauerlich ist. So ist in Bezug auf Karl V. z.B. von „seiner Großmutter Margarete von York“ (S. 67) die Rede, während Margarete in Wirklichkeit die Stiefmutter seiner Großmutter Maria von Burgund war. Solche kleinen Fehler stören den Gesamteindruck des Epochenpanoramas zwar nicht sehr, aber man hätte sich doch gewünscht, dass sie im Zuge des Lektorats aufgefallen wären, vor allem, da es sich nicht um die erste Auflage des Buches handelt.

Heinz Schilling: Karl V. Der Kaiser, dem die Welt zerbrach. 2., durchges. Aufl. München, C. H. Beck, 2020, 464 Seiten.
ISBN: 978-3-406-74899-8


Genre: Biographie

Leonardo da Vinci und die Frauen

Der Titel Leonardo da Vinci und die Frauen überrascht auf den ersten Blick, ist von dem bis heute berühmten Renaissancekünstler doch bekannt, dass er homosexuell war und lebenslang unverheiratet blieb. Doch Kia Vahland rückt in ihrer Künstlerbiographie nicht das Privatleben Leonardos in den Vordergrund, sondern vielmehr die Bedeutung, die Frauen für sein Werk und seine Weltsicht hatten.

Während andere Biographen in Leonardo oft primär den Naturforscher, den Erfinder oder aber auch den Zeichner betonen, sind für Vahland seine nur in geringer Zahl erhaltenen Gemälde sein zentrales Vermächtnis, und bei Leonardos gemalten Menschendarstellungen, insbesondere bei seinen Portraits, sind Frauen eindeutig in der Überzahl. Seine Mona Lisa wird als eines der bekanntesten Bilder der Welt an dieser Stelle wohl jedem einfallen, aber sie markiert im Grunde nur den Endpunkt einer langen Entwicklung, die Jahrzehnte zuvor mit Madonnen und ersten Portraits begann.

So sind es neben Leonardo selbst die von ihm gemalten Frauen, denen in diesem Buch Vahlands Hauptaugenmerk gilt: neben der in der Mona Lisa verewigten Kaufmannsgattin Lisa Gherardini die Dichterin Ginevra de’Benci, deren lyrisches Ich sich in einem erhaltenen Gedichtfragment als „Bergtiger“ bezeichnet, die vitale Cecilia Gallerani, die als Geliebte des Herrschers von Mailand, Ludovico Sforza, Karriere machte, und die Unbekannte, die heute unter der irreführenden Bezeichnung La Belle Ferronnière geführt wird und möglicherweise eine weitere Geliebte Ludovicos war.

Die großen und kleinen Geschichten um sie und um Leonardos übrige Gemälde sind eingebettet in ein mit Verve entworfenes Panorama der italienischen Renaissance mit all ihren Licht- und Schattenseiten, vom Florenz der Medici über Mailand und Venedig bis Rom. Vahland schreibt eingängig und frisch, gelegentlich aber zu umgangssprachlich für eine ernsthafte Biographie (Leonardo „macht sein eigenes Ding“, S. 263, Isabella d’Este, die Markgräfin von Mantua, ist sein „größter Fan“, S. 177, Tizian ist ein „Farbrevoluzzer“, S. 193). Darüber mag man den Kopf schütteln, doch man sollte die Lektüre dennoch nicht scheuen, da Vahland – durchaus in dem Bewusstsein, dass jede Leonardo-Deutung zeitbedingt und darum nicht endgültig ist – einige interessante Erweiterungen der gängigen Perspektive vornimmt.

Vahlands zentrale These ist, dass Leonardo den malerischen Blick auf Frauen dauerhaft veränderte, indem er sie als Individuen auf Augenhöhe ernstnahm – vielleicht auch und gerade, weil er in mancherlei Hinsicht zeitlebens ein Außenseiter blieb und darum gängige Zuschreibungen und Rollenbilder stärker zu hinterfragen vermochte als fester in den gesellschaftlichen Traditionen verwurzelte Malerkollegen. Neben dieser Auseinandersetzung mit einzelnen Frauen sieht Vahland in Leonardos Œuvre jedoch auch eine Tendenz, insbesondere die mütterliche, in seinen Madonnenbildern präsente Weiblichkeit mit der Natur und schöpferischen, da lebensspendenden Fähigkeiten zu assoziieren. An dieser Einschätzung müssen sich aus ihrer Sicht daher auch Neuzuschreibungen von Werken an Leonardo messen lassen. Insbesondere die Zuweisung des unter dem Titel La Bella Principessa bekannten, eher konventionell anmutenden Mädchenportraits an Leonardo zweifelt sie daher an.

Gründlicher hätte das Lektorat vorgehen können, da einige Flüchtigkeitsfehler übersehen worden sind. So ist z.B. der im Text beschriebene Bildausschnitt aus Benozzo Gozzolis für die Medici geschaffenen Darstellungen der heiligen drei Könige dieser hier, der Lorenzo de Medici als jugendlichen König auf einem Schimmel zeigt. Aber im Buch abgedruckt (Abb. 7, S. 71) und in der Bildlegende mit der beschriebenen Gestalt identifiziert wird rätselhafterweise der Jäger mit dem Geparden hinter sich im Sattel aus diesem Teil des Bilds.

Kia Vahland: Leonardo da Vinci. Eine Künstlerbiographie. Berlin, Insel Verlag, 2020 (Original: 2019), 348 Seiten.
ISBN: 978-3-458-68113-7

 

 


Genre: Biographie, Kunst und Kultur

Otto von Freising

Ein Intellektueller im Mittelalter – so untertitelt Joachim Ehlers seine Biographie des Bischofs Otto von Freising († 1158), der als Onkel des Kaisers Friedrich Barbarossa der gesellschaftlichen und politischen Elite seiner Zeit angehörte, aber vor allem als bedeutender Geschichtsschreiber in Erinnerung geblieben ist.
Als Sohn des Markgrafen Leopold III. von Österreich und der Agnes, einer Tochter Kaiser Heinrichs IV., geboren, wurde Otto früh zum Studium nach Paris geschickt, das im 12. Jahrhundert das Bildungszentrum Westeuropas schlechthin war. Die von seiner Familie vermutlich für ihn vorgesehene Karriere eines Weltgeistlichen war jedoch nicht nach seinem Geschmack; statt in seine Heimat zurückzukehren, trat er als junger Mann 1132 in das Zisterzienserkloster Morimond ein und wurde 1138 zu dessen Abt gewählt.
Durch die Königserhebung seines Halbbruders aus erster Ehe, Konrads III., war es mit der klösterlichen Ruhe für Otto jedoch bald vorbei: Zum Bischof von Freising ernannt, sah er sich trotz seines Festhaltens an monastischen Idealen in seinem persönlichen Leben in die Politik katapultiert, in der er als diplomatischer Vermittler bald sehr geschätzt war, sich aber nicht heimisch fühlte. Die Teilnahme am Zweiten Kreuzzug (ab 1147), der in einer Katastrophe endete, schädigte vermutlich Ottos Gesundheit erheblich, denn auch für mittelalterliche Verhältnisse war ihm kein langes Leben beschieden. Er war wohl erst knapp 46 Jahre alt, als er 1158 auf der Reise zum Generalkapitel der Zisterzienser in Morimond starb, wo er auch beigesetzt wurde.
Bleibenden Nachruhm erwarb Otto jedoch nicht durch sein Wirken als Geistlicher und Reichsfürst, sondern durch zwei historiographische Werke, die Historia de duabus civitatibus, eine in der Tradition der Zwei-Reiche-Lehre (weltliche Herrschaft und Gottesstaat) des Augustinus stehende Weltgeschichte, und die unvollendeten Gesta Friderici Imperatoris, die sich mit den Taten seines Neffen Friedrich Barbarossa befassen. Für Otto als Geschichtsschreiber ist dabei vor allem der Begriff der mutabilitas zentral, der Wandelbarkeit bzw. Unbeständigkeit alles Irdischen, die individuelle Schicksale ebenso prägt wie die Entwicklung ganzer Staatswesen. Seine eigene Gegenwart erlebte Otto als krisenhaftes Zeitalter des Wandels, das sich auf das Weltende zubewegte und deshalb ganz besonders nach einer Hinwendung zu Gott verlangte.
Joachim Ehlers beschränkt sich in seiner Deutung dieser Schriften nicht darauf, die darin aufscheinende Haltung pauschal mit mönchischer Weltverachtung zu erklären oder allgemein die theologischen und philosophischen Vorbilder aufzuzeigen, von denen Otto seit seinem Studium angeregt wurde. Vielmehr spürt er mit psychologischem Feingefühl und einem hohen Maß an menschlichem Verständnis den biographischen Einflüssen nach, die Ottos Sicht auf die Geschichte, aber auch auf sein Umfeld erklären können. Wahrscheinlich war der junge Otto früh mit den Schattenseiten von Machtstreben und weltlichem Ehrgeiz konfrontiert, da die Ehe seiner Eltern selbst für die Maßstäbe ihrer Zeit und Gesellschaftsschicht ungewöhnlich drastisch rein aus politischem Kalkül zustande kam (der im Krieg mit seinem Vater liegende Heinrich V. bot seine Schwester Agnes, möglicherweise ohne deren Einwilligung, dem Babenberger Leopold quasi als Preis für dessen Abfall von Heinrich IV. an). Der Aufenthalt in Paris erschloss ihm intellektuelle Dimensionen abseits dieses von Gewalt und Nützlichkeitserwägungen geprägten Milieus, so dass er den Ausstieg daraus wagte – wenn auch letztlich nur mit sehr kurzfristigem Erfolg, da die familiären Bindungen ihn doch noch einholten.
Über das eindrucksvolle und in einzelnen Zügen anrührende Porträt eines mittelalterlichen Denkers hinaus gelingt Ehlers jedoch zugleich ein Panorama einer ganzen Epoche und ihrer zentralen geistigen Strömungen. Schon einige Vorkenntnisse zur Ereignisgeschichte der späten Salier- und frühen Stauferzeit zu haben, schadet bei der Lektüre allerdings nicht. Allen, die auf hohem Niveau sehr nahe ans Hochmittelalter herangeführt werden möchten, sei Otto von Freising wärmstens ans Herz gelegt.

Joachim Ehlers: Otto von Freising. Ein Intellektueller im Mittelalter. Eine Biographie. München, C.H. Beck, 2013, 384 Seiten.
ISBN: 9783406654787


Genre: Biographie