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Märchensagas

Unter dem Begriff der Märchensagas wird ein recht heterogenes Korpus von zumeist spätmittelalterlichen Prosatexten zusammengefasst, die gewisse Überschneidungen mit den Vorzeitsagas, Isländersagas, Rittersagas und Königssagas aufweisen, sich aber durch eine besondere Dominanz übernatürlicher, fabulierfreudiger und in der Tat märchenhafter Elemente auszeichnen. Rudolf Simek und sein Team ergänzen mit ihrem Buch unter diesem Titel die vor einigen Jahren erschienenen drei Bände der Sagas aus der Vorzeit  und beweisen einmal mehr, wie vielfältig, überraschend und auch heute noch lesenswert altnordische Literatur sein kann.

Die Saga von Bard, dem Schutzgeist des Snaefell, die den Band eröffnet, hat viel mit den Isländersagas gemein, handelt es sich bei dem titelgebenden Bard doch um einen frühen Siedler auf Island. Allerdings wird ihm eine Abstammung von Riesen und Trollen nachgesagt, und wie diese ist er eine bestenfalls ambivalente Gestalt: Mag er auch, nachdem er sich nach einem blutigen Racheakt an seinen minderjährigen Neffen, die das Abtreiben seiner Tochter auf einer Eisscholle zu verantworten haben, aus der menschlichen Gesellschaft zurückgezogen hat, zu einer Art oft rettend eingreifendem „Schutzgeist“ für die Bewohner der Gegend werden, neigt er auch weiterhin zu Fehlverhalten, wenn er etwa die blutjunge Tochter von Gastfreunden schwängert. Die Grenze zwischen mystischem Wesen und mit Vorsicht zu genießendem Gesetzlosen ist hier bestenfalls verschwommen, wenn überhaupt vorhanden.

Auch die darauf folgende Saga von Gold-Thorir könnte eigentlich fast eine klassische Isländersaga sein, handelt sie doch über weite Strecken von mehr oder minder realistischen Nachbarschaftskonflikten um Land und Vieh und den daraus resultierenden wilden Kämpfen. Aber der Protagonist Thorir gewinnt als junger Mann auf einer Reise nach Norwegen auf den Rat eines untoten Verwandten hin im Drachenkampf nicht nur einen Schatz, sondern auch magische Handschuhe, die gegen Kampfwunden feien. Das Ende der Geschichte ist leider nur unvollständig überliefert, so dass man nicht erfährt, wie es mit Thorir ausgeht.

Wirklich märchenhaft wird es dann in der Saga vom schönen Samson. Dieser, ein Sohn von König Artus, ist zwar kampfstark, aber sehr unbedarft. Kein Wunder also, dass er und die ähnlich naive irische Prinzessin Valentina, um die er wirbt, immer wieder in allerlei missliche Situationen geraten und es, nachdem es sie auf getrennten Wegen in die Bretagne verschlagen hat, mit üblem Trollzauber und einem finsteren Räuber, der es vor allem auf adlige Jungfrauen abgesehen hat, zu tun bekommen.

Noch abenteuerlicher und für die Begriffe der Zeit auch exotischer wird es in der spätmittelalterlichen Saga von Vilhjalm Sjod, auch wenn die Hauptfigur ebenfalls ein englischer Königssohn ist. Da er sich zu mehreren Schachpartien gegen einen Troll verleiten lässt und die entscheidende verliert, muss er, um seine Spielschulden zu begleichen und daneben seinen von Trollen entführten Vater zu finden, bis ins Innere von Afrika vordringen. Da er zudem um eine byzantinische Prinzessin wirbt und am Ende bis nach Babylon gelangt, ist der geographische Rahmen weit gespannt, und selbstredend braucht ein Held wie Vilhjalm auch den passenden Gefährten in Gestalt eines Löwen (ein Motiv, das man aus dem Iwein kennt). All das könnte in seiner Fülle etwas grotesk wirken, aber glücklicherweise nimmt die Saga von Vilhjalm Sjod sich selbst nicht allzu ernst und verrät durch viele augenzwinkernde Wendungen ans Publikum, dem abschließend sogar der Segen der Trolle gewünscht wird, dass es hier vor allem um den Spaß geht.

Spielte Byzanz schon in der letzten Geschichte eine Rolle, ist Die Saga von Damusti ganz dort angesiedelt und hat mit Damusti einen handfesten Antihelden zu bieten, der ohne Zögern eine Verschwörung anzettelt, um einen untadeligen Rivalen um die Gunst seiner Angebeteten umzubringen. Nicht nur die Tatsache, dass er diese sodann vor einem andersweltlichen Schurken rettet, sondern auch und vor allem seine intensive Marienfrömmigkeit bewahrt ihn davor, dauerhaft ein Schurke zu bleiben, und nach einer kurzen Zeit ehelichen Glücks beschließen seine Frau und er ihr Leben als christliche Büßer (eine Wendung, die auch aus realistischeren Sagas bekannt ist, wie etwa bei Thorstein und Spes in der Saga von Grettir dem Starken, hier aber besonders betont wird).

Die Saga von Vilmund Einzelgänger bringt den Titelhelden, einen Bauernsohn, in Kontakt mit zwei von ihrem Vater sehr ungleich behandelten Prinzessinnen, befasst sich daneben mit den Umtrieben eines finsteren Sklaven, der sich als böswilliger Zauberkundiger entpuppt, und weist zudem eine so ordinäre Schlussformel auf, dass diese in der Handschrift schamhaft gelöscht wurde und nur noch mittels moderner Technik lesbar ist.

Die Saga von Ali Fleck lässt ihre Titelfigur, einen als Säugling ausgesetzten Prinzen, oft in Situationen großer Hilflosigkeit geraten, da er bösartigen Verfluchungen zum Opfer fällt. Glücklicherweise findet er in Thornbjörg, der Königin der Tartarei, eine Frau, die entschlossen alles unternimmt, um ihn zu retten.

Einen ganz anderen Helden, der sich vor allem durch Gerissenheit und technisches Geschick auszeichnet, präsentiert Die Saga von Feilen-Jon, die allerdings leider auch einige innere Widersprüche aufweist und recht sonderbare geographische Vorstellungen zugrunde zu legen scheint (begonnen mit dem von einem öden Hochgebirge umgebenen ersten Handlungsort: Rouen in der Normandie). Nach der heimtückischen Tötung seines Vaters durch den finsteren Rodbert in die Obhut von Zwergen gelangt, findet Jon in dem ihm zunächst nicht allzu freundlich gesonnenen Königssohn Eirek einen Verbündeten und kann daran gehen, seine weiblichen Angehörigen aus Rodberts Gewalt zu retten und Rache zu nehmen.

Stärker um Verortung in der historischen Realität bemüht ist Die Geschichte von Thorstein Haushoch, wird doch Thorstein als Gefolgsmann einer historischen Gestalt, des Königs Olaf Tryggvason, eingeführt. Seine Abenteuer sind aber nicht weniger phantastisch als die der Helden der anderen Märchensagas, von einem Tischtuchraub aus der Unterwelt über eine Zwergenkindrettung und einen durch einen Unsichtbarkeitszauber sehr erleichterten Besuch im Riesenreich bis hin zur Konfrontation mit einem als Wiedergänger aus seinem Grabhügel zurückkehrenden Schwiegervater.

In derselben Epoche ist auch Die Geschichte von Helgi, Thorirs Sohn angesiedelt, doch in diesem kurzen Text verläuft der Kontakt mit dem andersweltlichen Reich des auch schon in der vorherigen Saga erwähnten Herrschers Gudmund weitaus unersprießlicher für den menschlichen Protagonisten, der sein Abenteuer mit seinen Augen bezahlt und kein hohes Alter erreicht.

Ebenfalls im Umfeld von Olaf Tryggvason spielt Die Geschichte von Thorstein Ochsenbein, deren Held zunächst als uneheliches Kind auf Island ausgesetzt, nach seiner Rettung aber doch noch mit einigen Jahren Verspätung von der Familie seiner Mutter angenommen wird. Als junger Mann gelangt er nach Norwegen in die Heimat seines Vaters und übersteht dort mit einem Gefährten nur deshalb mit knapper Not einen Kampf gegen eine gefährliche Trollfamilie, weil er im richtigen Augenblick zum christlichen Glauben findet. Unter Androhung roher Gewalt kann er nun endlich doch noch erreichen, dass sein Vater ihn anerkennt, ist aber gegen Missgunst im Gefolge des Königs nicht gefeit.

Am Hofe Olaf Tryggvasons verortet ist auch Die Geschichte von Thorstein Schreck und stellt das christliche Element noch stärker in den Vordergrund als die bisher erwähnten Sagas, aber auf äußerst bizarre Art: Hier wird dem Helden fast ein nächtlicher Gang zum Abort zum Verhängnis, begegnet er doch dort einem Dämon aus der Hölle, mit dem er ein sehr schwarzhumoriges Gespräch über das Schicksal der ewigen Verdammnis anheimgefallener heidnischer Helden führt, bevor er durch einen Trick seine indirekte Rettung durch den König bewirken kann.

Ähnlich kurz ist Die Geschichte von Toki, Tokis Sohn, der als uralter Mann zu Olaf dem Heiligen gelangt und ihn, nachdem er ihm von seinen Erlebnissen mit Helden der Vorzeitsagas berichtet hat, um die Taufe bittet.

Historisch weiter zurück führt, nur fragmentarisch erhalten, Die Saga von Harald Kampfzahn, in der eher legendäre als historisch wirklich fassbare Könige des schwedischen und dänischen Frühmittelalters im Mittelpunkt stehen. Nach dem frühen Verlust seines Vaters durch die Ränke seines Großvaters mütterlicherseits wird Harald Kampfzahn schon mit fünfzehn Jahren König und herrscht bis ins unwahrscheinlich hohe Alter von hundertfünfzig Jahren, in dem er dann die von zahlreichen auch aus anderen Sagas bekannten Helden bestrittene Schlacht von Bravellir gegen seinen Neffen anzettelt, um ehrenvoll zu fallen und der Ermordung durch seine eigenen Gefolgsleute, denen er zu greisenhaft geworden ist, zu entgehen.

Den Abschluss der Sammlung bilden drei sehr kurze Texte (Wie Norwegen besiedelt wurde, Die Entdeckung Norwegens und Über die Könige der Upländer), die in einer Mischung aus ätiologischen Sagen und pseudohistorischen Genealogien eine sagenhafte Vor- und Frühgeschichte Skandinaviens schildern – einschließlich so mancher Merkwürdigkeiten (wie der als Strafe für die Bewohner gedachten Einsetzung eines Hundes zum Unterkönig eines bestimmten Gebiets oder eines ausführlichen Stammbaums, der die Abstammung des historischen Königs Harald Schönhaar über die altnordischen Götter und König Priamos von Troja auf Adam als ersten Menschen zurückführt).

Jeder Saga ist eine kurze Einführung vorangestellt (den letzten dreien eine gemeinsame), die nicht nur Angaben über die Entstehungszeit macht, sondern oft auch bestimmte inhaltliche Motive und Verbindungen zu anderen literarischen Texten knapp erläutert. Zusätzlich runden einzelne Stammtafeln, eine Karte des nordeuropäischen bis -atlantischen Teils des Handlungsraums, ein Glossar und umfangreiche Register den Band ab.

Da die Übersetzungen sich wie gewohnt flüssig und eingängig lesen, ist auch für alle, die eher am Unterhaltungswert als an der literaturhistorischen Bedeutung der Sagas interessiert sind, eine vergnügliche Lektüre möglich. Allerdings muss man darauf gefasst sein, es eben nicht nur mit den im landläufigen Sinne „typischen“ Sagas nach dem Muster der Isländer- und Vorzeitsagas zu tun zu bekommen, sondern auch mit Texten, die in bestimmten Elementen eher der west- und mitteleuropäischen Literatur des Hoch- und Spätmittelalters nahestehen. Das allerdings schmälert den Lesegenuss keineswegs, sondern macht nur deutlich, wie variabel die Gattung „Saga“ ist.

Rudolf Simek, Jonas Zeit-Altpeter, Valerie Broustin (Hrsg.): Märchensagas. Von Trollen, Rittern, Prinzessinnen und Königen. Unter Mitwirkung von Maike Hanneck und Benedikt Hufnagel. Stuttgart, Kröner, 2022, 496 Seiten.
ISBN: 978-3-520-61801-6

 


Genre: Anthologie, Erzählung, Märchen und Mythen

Der fremde Ferdinand

Die Brüder Grimm – das sind, so könnte man meinen, Jacob und Wilhelm, bekannt als Märchen- und Sagensammler und Germanisten. Dass aus der kinderreichen Familie ihrer Eltern neben ihnen noch eine Schwester und drei Brüder das Erwachsenenalter erreichten, wird dabei oft ausgeblendet, und dass ihr jüngerer Bruder Ferdinand ebenfalls Märchen und Sagen sammelte und unter verschiedenen Pseudonymen veröffentlichte, ist so gut wie vergessen.

Aufgrund seines geringen Bekanntheitsgrades und der vergleichsweise spärlichen Informationen über sein Leben und Werk ist er für Heiner Boehncke und Hans Sarkowicz Der fremde Ferdinand. In ihrem von Hagen Verleger auch äußerlich ausgesprochen schön gestalteten Buch geben sie nicht nur unterschiedliche Märchen und Sagen Ferdinand Grimms und seine boshafte Schlüsselerzählung Tante Henriette neu heraus, sondern legen neben Erläuterungen zu den einzelnen Texten auch eine biographische Skizze vor.

Ferdinand Grimm galt zu Lebzeiten als schwarzes Schaf der Familie. Nach dem frühen Tod des Vaters in der Schule nicht so brillant wie seine ältesten Brüder, musste er, unter anderem auch aus finanziellen Gründen, auf ein Studium verzichten und fasste beruflich nie dauerhaft Fuß, so dass er in vielen Phasen seines Lebens auf finanzielle Unterstützung durch seine Geschwister angewiesen war. Ungetrübt war sein Verhältnis zu diesen und insbesondere zu seinen berühmten älteren Brüdern allerdings nicht – möglicherweise auch (wie Boehncke und Sarkowicz aus verhüllenden Andeutungen im Briefwechsel der Familie untereinander und mit Freunden und Bekannten rekonstruieren), weil Ferdinand vermutlich homosexuell war.

Wurde er so selbst zum Opfer der Vorurteile seiner Zeit, teilte er sie in anderer Hinsicht, etwa, was seine eher negative Sicht auf Juden betrifft. Als Märchen- und Sagensammler allerdings scheint er offener und kontaktfreudiger als seine Brüder gewesen zu sein. Abgesehen davon, dass er älteren Textsammlungen und auch Chroniken Märchen- und Sagenhaftes entnahm, kam er, unter anderem auch auf langen Reisen zu Fuß, mit einer heterogeneren Schar von Erzählerinnen und Erzählern in Kontakt. So verwundert es nicht, dass neben vollständigen Geschichten in seinen Sammlungen teilweise auch nur kleine Sagenversatzstücke oder aber ganz andere Textgattungen wie Abzählreime mit auftauchen. So stößt man auf viel Unerwartetes und Unbekanntes. Wer ahnt z. B., dass in den Schweizer Bergen angeblich eine alte Frau umgeht, die ihre Nase zu einem Greifrüssel verlängern kann, mit dem sie ahnungslose Menschen erbeutet, oder dass nicht nur Karl der Große, sondern auch sein sächsischer Gegner Widukind in einem Berg seiner Wiederkunft harrt?

Die enthaltenen Texte Ferdinand Grimms sind geordnet nach den Büchern, in denen sie ursprünglich erschienen sind, veröffentlicht. Den ersten Abschnitt bilden Geschichten aus den Volkssagen und Mährchen der Deutschen und Ausländer (1820), in denen neben einem erwartbaren Schema folgenden Märchen auch amüsant-unerwartete Sagen (wie etwa von einem Bettler, der sich aus dem übernatürlich bewachten Keller der Ruine einer Deutschordensburg mit Wein versorgen kann) enthalten sind. Die im nächsten Kapitel enthaltenen Volkssagen der Deutschen (1838) zeichnen sich dadurch aus, dass oft im selben Text unterschiedliche Varianten einer Sage nebeneinandergestellt werden (so etwa zur Herkunft von Rübezahl).

Die Burg- und Bergmärchen (1846 postum erschienen) führen dagegen in ein ganz anderes Genre, handelt es sich doch um von Märchen und Sagen inspirierte, literarisch ausgeformte Texte zwischen Kunstmärchen und früher Fantasy avant la lettre. Die Sprache ist hier für den modernen Geschmack oft etwas zu blumig und überbordend, der Inhalt aber durchaus nicht uninteressant (so dass man bedauert, dass die erste enthaltene Geschichte, Der Weibchenstein, nur in einer gekürzten Fassung aufgenommen ist). In diesen Texten stößt man nicht nur auf historisch höchst Erstaunliches (so verdankt die Familie der Fugger ihren unternehmerischen Erfolg hier nicht zuletzt dem Segen einer Waldfee), sondern auch auf die Erzählung Der Burgherr, in der das enge Verhältnis zweier Ritter, die sich über den Tod hinaus treu ergeben sind, sich nicht nur vor dem Hintergrund von Ferdinand Grimms möglicher eigener Homosexualität so liest, als ob hier zwischen den Zeilen mehr als nur Freundschaft gemeint ist.

Klassischer sagenhaft wird es wieder in den Texten aus Der unbekannte Bruder Grimm (1979), die Gerd Hoffmann und Heinz Rölleke aus Ferdinand Grimms Nachlass herausgaben. Neben den oben schon erwähnten Sagen um Karl den Großen sind hier vor allem viele Zwergengeschichten aller Art versammelt. Das Kapitel Aus dem Nachlass bietet schließlich noch eine kleine Auswahl bisher unpublizierter Geschichten. Darunter ist mit Een armer Buur auch ein niederdeutscher (allerdings mit einer hochdeutschen Übersetzung versehener) Text, in der der Tod zum Taufpaten eines Bauernsohns wird.

Im Anschluss daran folgt die reich bebilderte biographische Skizze, in der es Boehncke und Sarkowicz glückt, den Menschen Ferdinand Grimm mit seinen Talenten, Ecken, Kanten und Widersprüchen fassbar zu machen. Die Entscheidung, die Erzählung Tante Henriette, deren Veröffentlichung Grund genug für Wilhelm Grimm war, den Kontakt zu Ferdinand dauerhaft abzubrechen, erst im Anschluss daran zu präsentieren, ist verständlich, macht Ferdinand sich darin doch gnadenlos über Jacob und Wilhelm, aber auch und vor allem über dessen Frau Dorothea lustig, so dass ein wenig Vorwissen über Ferdinands zeitweiliges Zusammenleben mit den dreien und ihre Konflikte mit ihm zum Verständnis beiträgt. Bedauerlich ist allerdings, dass bei diesem Text, anders als bei den Märchen und Sagen, auf Anmerkungen und Worterläuterungen komplett verzichtet wurde, denn inwieweit einem heutigem Lesepublikum alle Wendungen, die Ferdinand hier gebraucht (so etwa ein ziemlich gemeines, aber auch witziges Wortspiel über reales und attisches Salz), oder erwähnte Zeitgenossen wie Skrzinecki noch unbedingt geläufig sind, darf wohl bezweifelt werden.

Insgesamt jedoch bietet Der fremde Ferdinand einen faszinierenden Einblick in Leben und Werk eines zu Unrecht vergessenen Textsammlers und Schriftstellers, und so sei die Lektüre nicht nur Märchen- und Sagenbegeisterten ans Herz gelegt, sondern auch allen, die sich dafür interessieren, was die Literatur der Romantik abseits der bis in die Gegenwart berühmten Namen zu bieten hat.

Heiner Boehncke, Hans Sarkowicz (Hrsg.): Der fremde Ferdinand. Märchen und Sagen des unbekannten Grimm-Bruders. Mit einem Vorwort und einer biographischen Erkundung von Heiner Boehncke und Hans Sarkowicz. Bereichert mit zahlreichen Abbildungen. Berlin, Die Andere Bibliothek, 2020 (Extradrucke der Anderen Bibliothek Nr. 428), 448 Seiten.
ISBN: 978-3-8477-2032-4

 


Genre: Biographie, Märchen und Mythen

Der Atem des Drachen

Zauberkräftige Feen, hilfreiche Hexen, sanfte Männer, findige Frauen, bestrafte Bösewichte und nicht zu fassende Wolkenschafe: Nike Leonhard erzählt in Der Atem des Drachen sieben Märchen, die auf den ersten Blick wie traditionelle Vertreter ihres Genres anmuten könnten, es auf den zweiten aber dann doch nicht sind. Machtverhältnisse und Geschlechterrollen werden ebenso hinterfragt wie klassische Erzählmuster, und so kann sich hier auch schon einmal eine lesbische Liebesgeschichte ergeben oder die Erkenntnis warten, dass eine Heirat nicht das Ziel aller Träume sein muss.

Der Segen der Fee wird zum Einstieg auf sehr spezielle Weise einem Unsympathen zuteil, der die Erfüllung dreier nicht unbedingt gut durchdachter Wünsche erzwingt, die nicht ohne Konsequenzen bleibt.

Auch im folgenden Märchen Der Fischer und die Nixe findet eine Begegnung zwischen einem Menschenmann und einem übernatürlichen Wesen statt, aber da der Protagonist charakterlich nicht so geartet ist wie der der ersten Geschichte, nimmt alles einen anderen Ausgang.

Dagegen erweist sich Die Flut nach vermeintlich klassischem Beginn als eine ins Märchengewand gehüllte Kritik an den aktuellen Problemen um die Bewältigung der Klimakrise: Verkürzt ausgedrückt weigert sich hier die Politik, Maßnahmen gegen eine sich ankündigende Naturkatastrophe zu ergreifen, mit erwartbaren Folgen.

Der Atem des Drachen, der auch den Titel für die ganze Sammlung liefert, bietet nicht nur den in ein scheinbar ganz typisches Questenabenteuer ausziehenden jüngsten Sohn aus bescheidenen Verhältnissen, sondern mit der Verwandlung einer Person in eine Statue und dem in der mittelalterlichen Literatur gar nicht einmal so seltenen Motiv, dass sich in einem Drachen in Wahrheit ein Mensch verbirgt, noch weitere vertraute Elemente, die aber, originell kombiniert, auf ein Ende hinführen, das man so vielleicht nicht erwartet hätte.

Auch bei Prinzessin Furiosa bildet ein klassischer Baustein – das Turnier, bei dem ein passender Ehepartner für eine Prinzessin bestimmt werden soll – den Ausgangspunkt, allerdings mit der Besonderheit, dass es hier die Prinzessin selbst ist, die auf diesem Weg jemanden mit ganz speziellen Eigenschaften finden möchte. Jemand, der als der Bunte Hund bekannt ist, aber stets nur maskiert auftritt, erfüllt ihre Anforderungen mühelos, doch es gibt ein Geheimnis, das dem glücklichen Ende im Weg stehen könnte.

Bei Dunkelschön oder: Die verschwundene Kiste hat man den Eindruck, dass hier die Geschichte von den drei Äpfeln aus Tausendundeine Nacht Pate gestanden haben mag: Ist es dort der Wesir, dem der Kalif mit der Hinrichtung droht, wenn er ein Verbrechen nicht aufklärt, sieht sich hier der Schatzkanzler einer Königin mit dem gleichen brutalen Ultimatum konfrontiert. In beiden Fällen ist es eine Tochter des unglücklichen Hofbeamten, die schließlich hilft, die Wahrheit ans Tageslicht zu bringen, allerdings im Fall der hier titelgebenden Dunkelschön wesentlich aktiver und um eine märchentypische Prüfung nach dem Muster der Sechs Schwäne ergänzt. Zugleich wird der Bogen zur ersten Geschichte zurückgeschlagen, denn wie genau deren Ende sich ergeben hat, erfährt man hier ebenfalls.

Den Abschluss bilden die Wolkenschafe, in denen das geläufige Motiv, dass einem Bewerber um die Hand einer Frau eine schier unmögliche Aufgabe zur Bedingung für die Heirat gemacht wird, in kreativer Weise zum Einsatz kommt.

Nike Leonhard schreibt sprachlich gewandt und trifft den überkommenen Märchentonfall gut, nur um ihn hier und da gezielt etwa mit einem „Sag’ mal, spinnst du?“ zu torpedieren, das überdeutlich macht, dass der Blickwinkel ein moderner ist und immer wieder auch dezidierte Sozialkritik geübt wird. Spaß machen die eingestreuten literarischen Anspielungen, denn neben kleinen Hinweisen etwa auf Rotkäppchen oder Moby Dick begegnet einem auch d’Artagnans sehr spezielles Pferd aus den Drei Musketieren wieder, das diesmal aber das Glück hat, bei einem rücksichtsvolleren und netteren Menschen gelandet zu sein.

Ohnehin wird immer wieder Sympathie für diejenigen deutlich, die Mensch und Tier freundlich und respektvoll behandeln und in materieller Hinsicht bescheiden bleiben, statt auf zu Lasten anderer gehenden Reichtum und Luxus aus zu sein. Eine äußerliche Besonderheit des Buchs sind die jeder Geschichte vorangestellten Bilder, die nicht den jeweiligen Text illustrieren, sondern als symbolische Content Notes dienen (der Schlüssel dazu ist hinten im Buch abgedruckt). Wer Wert auf Inhaltswarnungen legt, wird also fündig, während alle anderen zumindest Spaß an den niedlichen Kaninchen, Mäusen & Co. haben dürften.

Nike Leonhard: Der Atem des Drachen. Neue Märchen. Norderstedt, BoD, 2023, 204 Seiten.
ISBN: 978-3-7481-3331-5


Genre: Anthologie, Erzählung, Märchen und Mythen

The Secret of the Haunted Forest

Jenny Dolfen ist eine ungemein vielseitige Künstlerin und Autorin. Vor allem für ihre Fantasy-Illustrationen (insbesondere zu Tolkiens Werken) bekannt, ist sie auch schon mit einem historischen Roman und mit Artbooks hervorgetreten, die ebenso sehens- wie lesenswert sind. Mit The Secret of the Haunted Forest legt sie nun ein poetisches Bilderbuch vor, das nicht nur von seinen gelungenen, oft ganzseitigen Illustrationen voller Geister, Spukbäume, Lichtwesen und finsterer Feen lebt, sondern auch einen spannenden und unterhaltsamen Text bietet.

Agnes ist eine Jackalope (eine Art Wolpertingerverwandte der amerikanischen Folklore) und führt mit ihrem Freund, dem Wintergoldhähnchen Peef, ein friedliches Leben. Nur der nahe Wald, in dem es spuken soll, obwohl niemand darüber Genaueres weiß, ist ihr unheimlich. Als Peef eines Tages im Wald verschwindet, hilft aber alles nichts, und Agnes muss aufbrechen, um den kleinen Vogel wiederzufinden. Auf ihrem Weg begegnet sie hilfreichen ebenso wie feindlichen Wesen und muss bald feststellen, dass viel mehr auf dem Spiel steht, als sie zu Beginn ihres Abenteuers geahnt hat.

Die Geschichte, die sich daraus ergibt, lässt sich als Zaubermärchen mit leichten Gruselelementen ebenso lesen wie als mythisch-symbolisch aufgeladene Erzählung über Mut und die Bereitschaft, sich auf Unbekanntes und auf neue Interpretationen von Vertrautem einzulassen. Für ganz kleine Kinder sind manche Aspekte vielleicht noch ein wenig zu unheimlich, aber abgesehen davon ist The Secret of the Haunted Forest ein Buch, an dem man in jedem Alter seinen Spaß haben kann.

Jenny Dolfens Tolkienbegeisterung schwingt dabei zumindest unterschwellig mit, denn der gespenstische Wald lässt mit seinen schaurigen Seiten, seinem geheimnisvollen weißen Hirsch und seiner lebensvollen Vergangenheit leise Anklänge an Tolkiens Mirkwood (Düsterwald) erahnen, und Agnes – mit ihrem niedlichen kleinen Umhang halb Fantasyheldin, halb knuffiges gehörntes Kaninchen – hat durchaus etwas Hobbithaftes.

All das wirkt so durchdacht und gut konzipiert, dass einen der im Nachwort der Autorin enthaltene Hinweis, dass die Bilder und die Handlung dazu ursprünglich aus einer Promptliste für ein Kunstprojekt entstanden sind, überraschen kann, wenn man die Genese von The Secret of the Haunted Forest nicht zufällig in den sozialen Medien verfolgt hat. Besser gelingen können hätte das Buch aber auch dann nicht, wenn es von Anfang an so und nicht anders geplant gewesen wäre, und so kann man nur allen Fantasyfans die Lektüre und das Betrachten ans Herz legen.

Jenny Dolfen: The Secret of the Haunted Forest, o. O. 2022, 32 Seiten.
Ohne ISBN, erhältlich bei Etsy.


Genre: Kinderbuch, Märchen und Mythen
Illustrated by Jenny Dolfen

Erat olim …

Märchen zu lesen, macht in jedem Alter Spaß, und die der Brüder Grimm zählen nicht nur im deutschen Sprachraum zu den bekanntesten und beliebtesten. Wer aber nun glaubt, sie nicht mehr neu entdecken zu können, irrt sich, denn manchmal kann einem eine Übersetzung ganz neue Einsichten in einen Text eröffnen, zumal eine in eine Sprache, die man nicht im Alltag gebraucht. Franz Schlosser hat zwölf grimmsche Märchen ausgewählt und liebevoll ins Lateinische übersetzt.

Enthalten in der kleinen Sammlung sind Aschenputtel, Schneewittchen, Hänsel und Gretel, Rotkäppchen, Dornröschen, Der Froschkönig, Hans im Glück, Der Wolf und die sieben Geißlein, Frau Holle, Das tapfere Schneiderlein, Rumpelstilzchen und Die Bremer Stadtmusikanten. Als Anhang sind auch die deutschen Textfassungen nach der Ausgabe letzter Hand beigegeben, so dass auch Gelegenheitslateinbegeisterte nicht verzweifeln müssen, wenn sie einmal eine Vokabel nicht gleich parat haben sollten.

Eine stur wörtliche Übersetzung liegt – wie Franz Schlosser selbst in seiner knappen Bemerkung Zu dieser Ausgabe betont – allerdings nicht vor, sondern eine schier geniale Nachdichtung, die ihre Schönheit besonders dort entfalten kann, wo auch schon im Original Reime ins Märchen eingefügt sind. Wer selbst schon einmal übersetzt hat, weiß, dass Gedichte zu den größten Hürden zählen können, und so ist es doppelt eindrucksvoll, mit welcher Leichtigkeit Franz Schlosser mit Sprache spielt. Wenn Hänsel und Gretel im Deutschen auf die Frage der Hexe mit „der Wind, der Wind, / das himmlische Kind“ antworten, sagen sie hier: „Est zephyrus, est zephyrus, / divinus est infantulus.“ In anderen Fällen sind die Verse nicht allein eine gelungene Übertragung, sondern sogar noch griffiger und einprägsamer als auf Deutsch. So wird Aschenputtels „Bäumchen, rüttel dich und schüttel dich, / wirf Gold und Silber über mich“ auf Latein zu einem rhythmisch viel gelungeneren „Arbuscula, amabo te, / aurea veste orna me“.

Auch für andere Wendungen finden sich herrlich idiomatische Lösungen: Reagieren die sieben Zwerge im Deutschen mit einem erstaunten „Ei, du mein Gott“ auf Schneewittchens berückende Schönheit, lautet der Ausruf hier „Mehercule“ und transportiert einen so wunderbar auf einen Schlag in eine ganz andere (Gedanken-)Welt. Dazu passt, dass auch die Namen der Protagonisten mal stärker, mal sanfter, aber immer passend latinisiert sind: Während man Hannulus und Gretula wohl noch auf den ersten Blick wiedererkennt, muss man vielleicht schon zweimal nachdenken, um hinter Mamma Nivalis Frau Holle zu vermuten.

Nicht zuletzt durch diese klanglichen Veränderungen sind die lateinischen Märchen noch einmal etwas ganz anderes als ihre deutschen Pendants und regen einen dazu an, das Vertraute aus ungewohnter Perspektive neu zu betrachten und sich selbst zu fragen, welche Assoziationen bestimmte Sprachen für einen transportieren. Ganz gleich, ob man nun als sprachbegeisterter Märchenfan zu dem Büchlein greift oder vor allem seine Lateinkenntnisse auf originelle Art auffrischen bzw. wachhalten möchte, Erat olim … ist einfach schön und rundum zu empfehlen.

Franz Schlosser (Hrsg.): Brüder Grimm: Erat olim … Die 12 schönsten Märchen auf Lateinisch. Ausgewählt und übersetzt von Franz Schlosser. Stuttgart, Reclam, 2020, 132 Seiten.
ISBN: 978-3-15-019271-9


Genre: Märchen und Mythen

Verschollene Märchen

Die Märchen der Brüder Grimm sind bis heute jedem ein Begriff; die dagegen, die Johann Wilhelm Wolf ebenfalls im 19. Jahrhundert gesammelt hat, haben es nicht zu einem vergleichbaren Bekanntheitsgrad gebracht. Dementsprechend trägt die von Christian Döring erstellte Neuausgabe der 51 Geschichten auch den Titel Verschollene Märchen. Dass sie hier der Vergessenheit entrissen werden, lohnt sich durchaus, denn sie sind schon etwas ganz anderes als die gewohnten und geglätteten Märchen, die man allgemein mit der Textgattung assoziiert.

Hier sind Gut und Böse nicht immer ganz klar voneinander getrennt (sei es, dass es ungesühnt bleibt, dass der Held seinen treuen Diener erschlägt, sei es, dass sich eine Hauptfigur am Ende in der Hölle widerfindet, oder sei es, dass der Protagonist von seiner untreuen Ehefrau und deren Galan ungestraft aus dem Haus verdrängt wird, nur um sich selbst anderswo auf unerwartete Art Versorgung zu erschleichen).

Um eine weitere Besonderheit der Sammlung zu verstehen, lohnt ein Blick ins Wolfs Vorwort, denn obgleich der Klappentext betont, Wolf und sein Schwager hätten „in den Spinnstuben den Odenwalds und in den Wirtshäusern an der Bergstraße“ Märchen aufgezeichnet, stammt ein erheblicher Teil der Geschichten von Soldaten. Wolfs Schwager Wilhelm von Ploennies war hessischer Offizier und ließ seine Untergebenen die Märchen erzählen, die sie kannten. Kein Wunder also, dass die Märchenhelden hier nicht selten selbst Soldaten oder viel häufiger noch Deserteure sind. Diese vielleicht von den Erzählern selbst vorgenommene Anpassung verrät viel über die Flexibilität des Märchens als Textart, aber auch über Alltagssorgen, Hoffnungen, Sehnsüchte und Selbstironie der Menschen, die sich bis zu einem gewissen Grade in die  Geschichten hineinprojizierten.

Ausschließlich amüsant zu lesen ist das allerdings nicht immer, denn die Texte spiegeln auch manche Vorurteile ihrer Entstehungs- bzw. Sammlungszeit wider, die heute noch ungut nachwirken, so etwa, wenn die Schurkenrollen mehrfach mit Angehörigen anderer Religionen (wie einem Hofjuden oder einem türkischen Sultan) besetzt werden oder wenn das allmähliche Weißwerden schwarzer Prinzessinnen ihre Erlösung von einem Fluch symbolisiert.

Als reine Unterhaltungslektüre taugt das Buch nicht nur deshalb allenfalls bedingt. Trotz einer im Prinzip recht großen Vielfalt von Märchentypen (vom Zaubermärchen über Schwänke und Tiermärchen bis hin zur grotesken Lügengeschichte) wiederholen sich nämlich auch bestimmte Handlungsgrundmuster und Motive über das allgemein Märchentypische hinaus. So sind etwa mehrere Geschichten vertreten, die vom Schema her in etwa dem Teufel mit den drei goldenen Haaren entsprechen (auch wenn hier am Ende nicht immer ein König der Genarrte und Bestrafte ist). In manchen Fällen ahnt man dagegen das literarische Vorbild. So folgt z. B. Der Pfiffigste, in dem ein Mann einem anderen die Untreue von dessen Frau vorgaukelt, um eine Wette zu gewinnen, aber später selbst von der Frau überlistet wird, im Ablauf ziemlich genau der Geschichte des Bernabò von Genua aus Boccaccios Decamerone und macht damit deutlich, dass vermeintliche „Volksmärchen“ vom Kunstmärchen gar nicht klar zu trennen sind, sondern immer wechselseitige Einflüsse bestehen.

Knappe biographische Informationen zu Johann Wilhelm Wolf und ein Auszug aus dessen Kindheitserinnerungen runden den äußerlich sehr hübsch gestalteten Band ab, der nicht nur als Blick auf Märchen abseits der quasi kanonischen Grimm’schen dienen kann, sondern auch als Schmuckstück für alle, die Freude an der schönen Aufmachung von Büchern haben.

Christian Döring (Hrsg.): Verschollene Märchen. Gesammelt von Johann Wilhelm Wolf in Manier der Brüder Grimm. 2. Aufl. Berlin, Die Andere Bibliothek, 2017, 348 Seiten.
ISBN: 978-3-8477-4032-2


Genre: Märchen und Mythen

Sagas aus der Vorzeit III

Das hier besprochene Buch ist der dritte Band einer Reihe.
Auf Ardeija.de gibt es auch Rezensionen zu Band I und Band II.

Mit den Trollsagas schließen Rudolf Simek und sein Team ihre Neuübersetzung der im Hoch- und Spätmittelalter entstandenen, aber zumeist vor der Besiedlung Islands im 9. Jahrhundert spielenden Sagas aus der Vorzeit ab. Inhaltlich ist die Abgrenzung dieses dritten Teils zu den Wikingersagas des zweiten Bandes nicht ganz einfach, stehen doch in beiden Sagatypen Abenteuerfahrten, Brautwerbungen und oft auch Begegnungen und Konflikte der Helden mit Zauberkundigen und Trollen im Mittelpunkt. Wenn die Trollsagas etwas ganz besonders auszeichnet, dann wohl, dass in ihnen Fiktionalität und Fabulierfreude – oft etwas augenzwinkernd – noch bewusster herausgestrichen werden als in den Wikingersagas, so dass die Texte erkennbar gar nicht darauf angelegt sind, allzu ernst genommen zu werden.

Von der Brutalität der Kämpfe bis hin zur Monstrosität der Trolle ist vieles bis ins Groteske gesteigert, und die Hauptfiguren handeln oft moralisch fragwürdig. Trotz aller eingeflochtenen literarischen Bezüge ist die Zielsetzung erkennbar nicht, altehrwürdige Stoffe respektvoll aufzubereiten. Vielmehr soll gute Unterhaltung geboten werden, und das gelingt häufig durchaus. Atmosphärisch noch am ehesten vergleichbar ist die in einem ähnlichen zeitlichen Kontext entstandene aventiurehafte Dietrichepik, die ebenfalls mit märchenhaften Elementen und gelegentlich etwas boshaftem Humor arbeitet.

Gleich die erste in diesem Band enthaltene Geschichte, die Saga von Sturlaug dem Vielgeplagten, präsentiert einen sich seiner Rolle als Sagaheld sehr bewussten Protagonisten, der eine mit Hintergedanken ausgesprochene Einladung explizit auch deshalb annimmt, weil „unsere Saga kurz“ bliebe (S. 22), wenn er es nicht täte, und sich erfolgreich durch allerlei Abenteuer schlägt.

Sturlaugs Sohn ist der Held der anschließenden Saga von Göngu-Hrolf. Er erleidet ein ähnliches Schicksal wie die Gänsemagd im Grimm’schen Märchen und ist gezwungen, einem Schurken, der sich an seiner Stelle als mächtiger Krieger ausgeben will, Sklavendienste zu leisten. Nicht zuletzt dank der Unterstützung eines toten Königs wendet sich das Blatt jedoch, wobei auch das Pferd Dulcifal eine wichtige Rolle spielt, das – man höre und staune – zur „Gattung der Dromedare“ (S. 59) gehört.

Dagegen hat die Saga von Bosi und Herraud einige ziemlich deftig geschilderte amouröse Abenteuer zu bieten, die man in der maßgeblichen Textausgabe aus dem 19. Jahrhundert lieber herauskürzte. Der Königssohn Herraud und sein Freund Bosi gehen zusammen durch dick und dünn, selbst nachdem Bosi Herrauds Bruder getötet hat und der Todesstrafe nur entgeht, weil seine Ziehmutter den zürnenden König anderenfalls zu verfluchen droht. So bekommt Bosi die Erlaubnis, Wiedergutmachung zu leisten, indem er ein Greifenei beschafft, doch das wird für Herraud und ihn nicht unbedingt einfach.

Gute Freunde werden nach anfänglichem Konflikt auch die Helden der Saga vom einhändigen Egil und dem Berserkertöter Asmund. Beide haben schon eine recht wilde Jugendzeit hinter sich, als sie aufeinandertreffen und dann gemeinsam ausziehen, um zwei entführte Königstöchter zu befreien. Die Trollfrau, deren Hilfe sie dazu benötigen, möchte aber zunächst ihre jeweilige Lebensgeschichte hören und auch ihre eigene zum Besten geben, so dass mehrere kleine Erzählungen in die Rahmenhandlung eingebettet sind.

Auch die Hauptfigur der Saga von Sörli dem Starken freundet sich nach anfänglichem Konflikt mit einer Trollfrau an und kommt weit in der Welt herum (unter anderem in ein sehr exotisches Afrika mit seltsamen katzenäugigen Bewohnern), muss sich nach allem Abenteuern aber vor allem in einem Rachekrieg gegen den Königssohn Högni bewähren.

In Gefilde fern von Europa führt auch die Saga von Hjalmther und Ölver, in der die beiden Titelhelden jedoch von dem zum Schweinehirten herabgewürdigten arabischen Prinzen Hörd alias Hring übertroffen werden, der viel unternehmen muss, um den Fluch zu brechen, mit dem ihm seine zauberkundige Stiefmutter belegt hat. Was die Schilderung von Schwarzen betrifft, ist die Geschichte aus heutiger Sicht leider nicht ohne rassistische Untertöne.

In der Saga von Halfdan, Eysteins Sohn liegt der Schwerpunkt wieder auf Nord- und Osteuropa. Der eroberungslustige König Eystein löst durch einen Feldzug, bei dem das Reich König Hergeirs an sich bringt, eine verwickelte Kampf- und Rachegeschichte aus, in der bald unterschiedliche Personen unter falschem Namen unterwegs sind und der Titelheld Halfdan es mit einer Reihe waldbewohnender Unholde zu tun bekommt, bevor er mit Hergeirs Tochter Ingigerd zusammenfindet und nach langen Auseinandersetzungen endlich Frieden geschlossen werden kann.

Um einen anderen Halfdan dreht sich die Saga von Halfdan, dem Schützling der Brana. Nach einem Wikingerangriff muss der junge Dänenprinz Halfdan zusammen mit seiner Schwester aus seiner Heimat fliehen und gelangt bis nach Nordamerika, wo er sich auf ein Liebesverhältnis mit der Halbtrollin Brana einlässt, die ihn daraufhin auch nach seiner Rückkehr nach Europa bei weiteren Abenteuern und sogar bei der Werbung um eine standesgemäße Ehefrau unterstützt.

Auch in der kurzen Saga von Illugi, dem Schützling der Grid, verschlägt es einen Mann – hier den mit einem Prinzen befreundeten Bauernsohn Illugi – zu einer Trollfrau, doch diese erweist sich, nachdem sie Illugi im Bett ihrer Tochter einer sonderbaren Mutprobe unterzogen hat, als verfluchter Mensch.

Die letzten beiden Sagas des Bandes sind eher untypische Vertreter der Trollsagas, und das nicht nur, weil ihre Handlungszeit weit später liegt als die der üblichen Vorzeitsagas. Vielmehr spielt hier die Bekehrung zum Christentum jeweils die zentrale Rolle. In der Saga von Yngvar dem Weitgereisten missionieren der wohl von einer historischen Persönlichkeit des 11. Jahrhunderts inspirierte Yngvar und später sein Sohn in Russland, während in der Saga von Eirek dem Weitgereisten der zunächst noch heidnische Titelheld mit seinem gleichnamigen Freund nach Byzanz gelangt, zum Christentum konvertiert und eine intensive Jenseitsvision erlebt. Magische Elemente und Fabelwesen haben aber auch diese beiden Geschichten zu bieten.

Wie schon in den ersten Bänden wirken die Übersetzungen frisch und modern, so dass auch dieser dritte Teil eine für ein allgemeines Publikum gut geeignete Leseausgabe und einen würdigen Abschluss der Sagas aus der Vorzeit bildet. Als nettes Extra liegt diesmal ein loses Blatt bei, das auf einer Seite einen Stammbaum einiger der vielfach untereinander verwandten Sagahelden, auf der anderen eine aus dem Weltbild der Sagas rekonstruierte und auch äußerlich vage historisch anmutende Landkarte von Nordeuropa und dem Nordatlantik bietet.

Rudolf Simek, Jonas Zeit-Altpeter, Valerie Broussin (Hrsg. unter Mitwirkung von Maike Hanneck): Sagas aus der Vorzeit. Band III: Trollsagas. Stuttgart, Alfred Kröner Verlag, 2020, 432 Seiten.
ISBN: 978-3-520-61501-5


Genre: Kunst und Kultur, Märchen und Mythen

Märchen vom Meer

Das Meer ist für die Menschen von jeher ambivalent: Als malerischer Sehnsuchtsort, Reiseweg und Nahrungsquelle positiv besetzt, birgt es zugleich Gefahren für Seeleute und Küstenbewohner. Kein Wunder also, dass sich auch zahlreiche Geschichten ums Meer ranken und dort neben Fischen und Walen noch ganz andere Wesen wie etwa Nixen oder Gestaltwandler vermutet werden.

Michaela Brinkmeier hat für ihre Anthologie Märchen vom Meer Märchen aus den unterschiedlichsten Sammlungen des 16. bis 20. Jahrhunderts überarbeitet und neu zusammengestellt. Präsentiert werden die Geschichten thematisch geordnet in fünf Gruppen, zwischen denen sich allerdings hier und da inhaltliche Überschneidungen ergeben.

Das Kapitel Von Abenteuern auf See umfasst Märchen, deren Protagonisten sich aus den unterschiedlichsten Gründen aufs Meer hinauswagen, etwa um als Fischer ihren Lebensunterhalt zu verdienen oder um vor bösartigen Angehörigen zu fliehen. Ganz gleich, was der Auslöser der Fahrten ist, mit übernatürlichen Geschehnissen ist in ihrem Verlauf zu rechnen.

Dagegen geht es im folgenden Abschnitt Von wundersamen Welten auf dem Meeresgrund unter die Wasseroberfläche. Hier hausen allerlei wundersame Wesen, und wer sie besuchen darf, kann entweder sein Glück finden oder gezwungen sein, das eigene Verhalten einmal gründlich zu überdenken.

Mit eher nicht im Biologiebuch zu findenden Meerwesen befasst sich auch das Kapitel Von allerlei Meerleuten, doch sind es hier oft diese, die menschliche Unterstützung benötigen oder sich für eine Weile – ob nun freiwillig oder nicht – auf dem Festland aufhalten.

Vom Warum und Woher – Fragen zum Meer bewegt sich dagegen eher in einer Grauzone zwischen Märchen und ätiologischen Sagen; in welche Kategorie genau man die enthaltenen Texte zur Entstehung von Ebbe und Flut oder zur Herkunft des Salzwassers einordnen möchte, ist Ermessenssache.

Abschließend sind in Von Fluch und Segen des Meeres Märchen zusammengestellt, die deutlich machen, dass das Meer große Reichtümer schenken, aber auch Leib und Leben bedrohen kann. Hier ist mit Von dem Fischer und seiner Frau wohl auch das bekannteste unter allen ausgewählten Märchen enthalten.

Geographisch ist der Rahmen von Grönland bis Polynesien weit gespannt, aber zahlenmäßig besonders stark vertreten sind Geschichten aus dem Nordseeraum und insbesondere aus Skandinavien, vielleicht, weil aufgrund der Bedeutung des Meeres für die angrenzenden Länder hier besonders viele Meeresmärchen überliefert sind, oder aber auch, weil dank reger Sammeltätigkeit schon im 19. Jahrhundert der Märchenbestand dieser Region sehr gut erschlossen ist.

Eine Erklärung zu den Auswahlkriterien hätte sich im Vorwort angeboten, vor allem aber auch eine historische Einordnung mancher Texte, die heute eher fragwürdig wirkende Vorurteile ihrer Entstehungszeit erkennen lassen. So fürchtet sich etwa in dem im 16. Jahrhundert entstandenen oder zumindest verschriftlichen italienischen Märchen Fortunio und die Sirene eine Prinzessin vor einer Heirat mit einem „garstigen Sarazenen“ (S. 153), der aber natürlich, bevor es so weit kommen kann, vom Helden aus dem Weg geräumt wird.

Nicht nur hier wären ein paar Worte zum Weltbild der Entstehungsepoche für ein modernes Publikum sicher nützlich gewesen. Da es in anderen Märchenbüchern aus demselben Verlag (z.B. den Märchen von Füchsen) durchaus ausführlichere Sachtextanteile gibt, ist es schade, dass die Herausgeberin sich hier darauf beschränkt, als Vorwort eine knappe atmosphärische Einstimmung zu liefern, statt etwas mehr in die Tiefe zu gehen. Als bunte und über weite Strecken auch vergnügliche Leseauswahl von Meeresmärchen taugt der Band aber dennoch.

Michaela Brinkmeier (Hrsg.): Märchen vom Meer. Zum Erzählen und Vorlesen. Krummwisch bei Kiel, Königsfurt-Urania, 2021, 192 Seiten.
ISBN: 978-3-86826-093-9


Genre: Märchen und Mythen

Sagas aus der Vorzeit II

Das hier besprochene Buch ist der zweite Band einer Reihe.
Die Rezension des ersten Teils ist hier zu finden.

Der zweite Band der von Rudolf Simek und seinem Team neu übersetzten und herausgegebenen Sagas aus der Vorzeit – derjenigen im Hoch- und Spätmittelalter entstandenen Sagas also, die vor der Besiedlung Islands im 9. Jahrhundert spielen – umfasst die sogenannten Wikingersagas, Geschichten, in denen anders als in den Heldensagas überwiegend keine alten Sagenstoffe im Vordergrund stehen, sondern die oft, wenn auch nicht immer weit weniger tragisch ausgehenden Kämpfe, Plünderungszüge und Brautwerbungen abenteuerlustiger Protagonisten.

Den Anfang macht mit der Saga von Thorstein, Vikings Sohn gleich der vielleicht unterhaltsamste Text dieser Gattung. Der Titelheld Thorstein wird durch die Unbedachtheit seines Bruders in eine lange Rachefehde mit dem Königssohn Jökul verstrickt, der dank der Unterstützung des schurkischen Zauberers Ogautan wohl eindeutig im Vorteil wäre, könnte Thorstein seinerseits nicht auf die Hilfe eines dankbaren Zwergs und einer in Trollgestalt verwandelten Prinzessin zählen …

Thorsteins Sohn Fridthjof wiederum ist der Protagonist der relativ kurzen Saga von Fridthjof dem Kühnen, in der er sich um die Hand der Prinzessin Ingibjörg bemüht, deren Brüder aber einiges gegen diese Verbindung einzuwenden haben.

Durch größere Kontraste in Stimmung und Handlung geprägt ist Die Saga von Gautrek oder Saga von Gaben-Ref, in der sich einerseits Düsteres abspielt (so wird z.B. ein König als Menschenopfer an Odin dargebracht, und in einer Familie hat Selbstmord schon geradezu Tradition), andererseits aber auch eine schräg-humorvolle umgekehrte Hans-im-Glück-Geschichte mit einem listigen Jarl quasi in der Rolle eines gestiefelten Katers abläuft, verhilft er doch durch allerlei Winkelzüge dem titelgebenden Gaben-Ref dazu, sich immer wertvolleren Besitz zu ertauschen und gesellschaftlich aufzusteigen.

Die Saga von Hrolf, Gautreks Sohn dagegen stellt wieder das Brautwerbungsmotiv in den Vordergrund. Hrolf und weitere Männer in seinem Umfeld haben es auf Partnerinnen abgesehen, die es ihnen entweder selbst nicht leicht machen (wie etwa die kriegerische Thornbjörg) oder aber aus anderen Gründen nur unter zahlreichen Abenteuern zu erobern sind. Das sorgt für viele Kämpfe, aber auch für einige Situationskomik.

Schwärzer wird der Humor in der von einem Bauernsohn handelnden Saga von Ketil Lachs, denn dieser tötet auch schon einmal einen Spötter mit einem gut gezielten Fischwurf und ist auch sonst zu allen Handgreiflichkeiten bereit, um zu demonstrieren, dass diejenigen, die ihn unterschätzen, sich im Irrtum befinden.

Ketils Sohn Grim ist die zentrale Figur in der anschließenden kurzen Saga von Grim Zottelwange. Grim hat das Pech, dass seine zukünftige Frau kurz vor der Hochzeit spurlos verschwindet, und muss sich mit Trollen und Berserkern auseinandersetzen, bevor sein Leben doch noch eine glückliche Wendung nimmt.

Weitaus umfangreicher und auch tragischer ist Die Saga von Pfeile-Odd, die das Leben von Grims Sohn Odd schildert, der zwar ein großer Bogenschütze ist und im Laufe seiner Abenteuer mehrere Zauberpfeile erringt, aber zugleich mit einer unheilverkündenden Prophezeiung leben muss und sich in eine Dauerfehde mit dem schurkischen Ögmund verstrickt, die einen ganz anderen Ausgang nimmt, als man vielleicht erwarten könnte.

Zu Ketils Nachfahren zählt auch die Hauptfigur der Saga von An Bogenbieger, die das Motiv des unterschätzten und für dumm gehaltenen Jünglings aufgreift, der sich dann doch mit ungeahnter Schläue und äußerster Brutalität durchzusetzen weiß.

In der anschließenden Saga von Hromund, Greips Sohn ist es dagegen ein Grabraub (komplett mit Konflikt mit dem untoten Grabherrn), der sich als entscheidend für den Erfolg des Helden erweist.

Näher am Bereich der Heldensage als die anderen Texte des Buchs ist die letzte enthaltene Geschichte, Die Saga von Asmund Heldentöter, wird doch der darin auftretende Antagonist namens Hildibrand in der Forschung oft mit dem Hildebrand des Hildebrandslieds in Verbindung gebracht (wobei die fiktiven Biographien der beiden Gestalten allerdings merkliche Unterschiede aufweisen). Bevor er Hildibrand gegenübersteht, erlebt der Protagonist Asmund jedoch schon zahlreiche andere Kampfabenteuer.

Allen hier versammelten Wikingersagas ist gemeinsam, dass sich an ihnen klarer als bei den Heldensagas des ersten Teils die Spielregeln der Gattung, der sie angehören, ablesen lassen, wird doch deutlich, wie stark die Verfasser immer wieder aus einem bestimmten Motiv- und auch Namensrepertoire schöpften, um unterhaltsame literarische Abenteuer zu schaffen. An manchen Stellen kann man sich dabei auch fragen, ob den Autoren die antike Sagenwelt vertraut war, denn es finden sich hier und da Anklänge, so z.B. an Odysseus‘ Aufenthalt in der Höhle des Polyphem oder an den Tod des Orest. Diesen Einzelheiten nachzuspüren, macht Vergnügen, aber auch ansonsten sind die Geschichten mit ihrer Mischung aus Dramatik, immer wieder aufblitzendem Humor und gelegentlicher Derbheit heute durchaus noch lesenswert.

Wie bereits im ersten Band liegt auch mit diesem zweiten Teil der Sagas aus der Vorzeit eine zugängliche, moderne Leseausgabe vor, die dank knapper Einleitungen, Glossar und einer dem Weltbild der Sagas angepassten Landkarte die Geschichten allgemeinverständlich erschließt.

Rudolf Simek, Jonas Zeit-Altpeter, Valerie Broussin (Hrsg. unter Mitwirkung von Maike Hanneck): Sagas aus der Vorzeit. Band II: Wikingersagas. Stuttgart, Alfred Kröner Verlag, 2020, 448 Seiten.
ISBN: 978-3-520-61401-8


Genre: Kunst und Kultur, Märchen und Mythen

Sagas aus der Vorzeit I

Die im Hoch- und Spätmittelalter auf Island entstandenen Sagas sind von der literarischen Genrezuordnung her am ehesten mit historischen Romanen zu vergleichen, allerdings mit teils größerem, teils kleinerem phantastischen und märchenhaften Einschlag. Eine besondere Gruppe unter ihnen bilden die sogenannten Sagas aus der Vorzeit (Fornaldarsögur), die überwiegend in der Völkerwanderungszeit und frühen Wikingerzeit bis zur Besiedlung Islands im 9. Jahrhundert spielen. Bei Kröner ist vor kurzem eine neue dreibändige Ausgabe dieser Sagas erschienen, deren hier besprochener erster Band die Untergruppe der Heldensagas präsentiert. Ein kurzes Vorwort führt in die Gattung und die gewählten Übersetzungsprinzipien ein, und jedem einzelnen Text ist eine knappe Einleitung vorangestellt, die eine zeitliche und inhaltliche Einordnung vornimmt.

Rudolf Simek, der als Mitherausgeber fungiert und auch einige Übersetzungen beigesteuert hat, ist natürlich eine feste Größe, wenn es um Altnordisches aller Art geht. Aber das Besondere an dem Buch ist, dass die übrigen Beteiligten bei Simek in Bonn studieren oder promovieren. Dass hier einmal nicht nur langjährig in der Wissenschaft Etablierte für Übersetzungen und Erläuterungen verantwortlich waren, tut der Qualität keinen Abbruch, im Gegenteil: Herausgekommen ist bei dem Projekt eine frische, moderne Leseausgabe, die keinen unnötig altertümelnden Sprachstil pflegt, sondern die Sagas für ein breites Publikum erschließt. Nur ganz selten hat man den Eindruck, dass eine Formulierung vielleicht etwas zu umgangssprachlich geraten ist.

Welche Texte sind nun hier versammelt?

Den Anfang macht Die Saga von Hrolf Kraki und seinen Kämpen, in der es um den dänischen König Hrolf und seine Gefolgsleute geht, unter denen besonders der zauberkundige Held Bödvar Bjarki hervorsticht. Der einer inzestuösen Beziehung entstammende Hrolf begeht den Fehler, den verkleideten Odin zu kränken, was schlimme Folgen nach sich zieht.

Die Saga von den Völsungen genießt als altnordische Ausgestaltung des Nibelungenstoffs einen hohen Bekanntheitsgrad und fällt insgesamt durch eine selbst für Sagaverhältnisse bemerkenswerte Grausamkeit auf. Hier wird ohne Unterlass selbst innerhalb von Familien munter gemordet, so dass es fast ein Wunder ist, dass am Ende immerhin noch Aslaug überlebt, die Tochter des dem Siegfried der deutschen Versionen der Geschichte entsprechenden Sigurd.

Aslaug bildet das Verbindungsglied zur Saga von Ragnar Lodbrok und seinen Söhnen, die als Inspiration für die populäre TV-Serie Vikings gedient hat und hier ergänzt um zwei Varianten des Stoffs – Die Geschichte von Ragnars Söhnen sowie Das Gedicht der Kraka – veröffentlicht wird. In dieser Saga heiratet Aslaug den abenteuerlustigen Wikinger Ragnar und hat mit ihm eine ganze Anzahl von Söhnen, die sich wie ihre Eltern kriegerisch hervortun und vor allem Rache für den Tod ihres Vaters in England nehmen. Teilweise basieren die handelnden Personen auf historischen Gestalten, auch wenn die ihnen zugeschriebenen Erlebnisse fiktiv (oder zumindest stark durch die Fiktion überformt) sind.

Die Geschichte von Norna-Gest führt in ihrer Rahmenhandlung in eine für den Kontext dieses Bandes relativ späte Epoche, nämlich ins 10. Jahrhundert an den Hof des christlichen Königs Olaf Tryggvason. Bei diesem erscheint eines Tages der geheimnisvolle Titelheld, der erst nach und nach preisgibt, dass er weitaus älter ist, als man ihm ansieht, und daher so manches selbst miterlebt hat, was die Zeitgenossen nur noch aus sagenhafter Überlieferung kennen.

Das inzwischen in Skandinavien angekommene Christentum spielt auch in der kurzen Geschichte von Sörli eine wichtige Rolle, können doch hier zwei verfluchte Könige, die mit ihren Kriegerscharen auf Odins Wunsch hin von Freyja in einen immerwährenden Konflikt getrieben worden sind, nur durch einen Christen endgültig getötet und damit aus ihrem traurigen Dasein erlöst werden.

Eine ferne Vergangenheit schildert dagegen Die Saga von Hervör und König Heidrek, in der mit Goten und Hunnen Gruppierungen aus der Völkerwanderungszeit aktiv werden. Ein König zwingt zwei Zwerge, ihm das magische Schwert Tyrfing zu schmieden, doch die Zwerge rächen sich, indem sie die Waffe verfluchen. Tatsächlich bringt Tyrfing der Familie reichlich Unglück, und erst, als das Schwert mit Angantyr, dem Enkel des ersten Besitzers, in ein Hügelgrab gebettet wird, scheint die Gefahr gebannt. Doch Angantyrs kriegerische Tochter Hervör ruht nicht, bis sie sich das Schwert gesichert hat, und damit beginnt das Verhängnis von neuem.

Mit etwas kompliziert anmutenden genealogischen Reihungen setzt als letzter Text der Sammlung Die Saga von Half und seinen Helden ein. Der titelgebende König findet nach jahrelangem Wikingerdasein durch die Hinterlist eines Vasallen den Tod, aber überlebende Gefolgsleute nehmen Rache, und Halfs Nachfahren wandern später nach Island aus.

Die Sagas bestechen auch dank der auf eine heutige Leserschaft zugeschnittenen Übersetzung durch eine für mittelalterliche Literatur nicht immer selbstverständliche unmittelbare Zugänglichkeit. Zusatzinformationen liefern ein Glossar, ein Register und eine nicht nach modernen geographischen Kriterien, sondern nach dem den Sagas zu entnehmenden Weltbild erstellte Landkarte. Dank der gelungenen Satz- und Covergestaltung durch Denis Krnjaić ist das Buch auch äußerlich ein kleines Schmuckstück. Insgesamt bildet es für alle Interessierten eine gute Möglichkeit, einen ersten Einstieg in die Welt der Sagas zu finden.

Rudolf Simek, Jonas Zeit-Altpeter, Valerie Broustin (Hrsg.): Sagas aus der Vorzeit. Von Wikingern, Berserkern, Untoten und Trollen. Band I: Heldensagas. Stuttgart, Kröner, 2020, 360 Seiten.
ISBN: 978-3-520-61301-1


Genre: Kunst und Kultur, Märchen und Mythen