Das Ländliche als Kontrast zum Städtischen und als Hort des Ursprünglichen und Naturnahen, aber auch immer wieder Erschreckenden ist seit langem ein bewährtes Thema in der Literatur, doch es gibt dazu durchaus noch Neues zu sagen, wie Charline Winter in ihrem gelungenen Gedichtband wildwechsel ins nichts beweist. Laut Nachwort unter anderem von eigenen Erfahrungen der Autorin mit der besonderen Atmosphäre einer brandenburgischen Kleinstadt während des ersten Corona-Lockdowns inspiriert, soll die hier präsentierte Lyrik, so das Versprechen des Klappentexts, „das unterschwellige Grauen, das im Ländlichen wohnt“, einfangen – und dieser Plan geht auf.
Die Gedichtsammlung, durch die Wölfe streifen und in der Menschen mit sich selbst ebenso sehr zu ringen haben wie mit den Eigenheiten einer fabelwesendurchdrungenen, heimatbietenden und doch stets unterschwellig krisenhaften ländlichen Welt, vereint sensible Naturschilderungen, Nachdenkliches und unendlich viel Abgründiges (das im mehrfach wiederkehrenden, Grenzerfahrungen und „liminal spaces“ evozierenden Begriff der kante schon anklingt).
wildwechsel ins nichts ist dabei ein Buch, das man nicht nur deshalb konzentriert lesen muss, weil es darin keine Halt und Anhalt bietende Großschreibung gibt. Dafür wird der Blick oft auf andere Art durch Spielereien mit der Textanordnung gelenkt, etwa im Gedicht spätjanuar., in dem die Verse der ersten Strophe Zeile für Zeile immer weiter zusammenschrumpfen, so dass der letzte nur noch aus einem einzigen Buchstaben besteht. Jähe Worttrennungen nutzt Charline Winter gleichermaßen zielgerichtet, um die jeweilige Aussage zu verstärken (wenn beispielsweise gesprächspau sen genau so auf zwei Verse aufgeteilt sind) oder schlicht das Publikum beim Lesen zu irritieren und zum aufmerksamen Hinschauen zu zwingen.
Auch abseits der so virtuos genutzten Form stößt man inmitten subtiler Anspielungen (ob auf Münchhausen oder auf die Sagenwelt in Form eines Gegenbilds zur Mittagsfrau) immer wieder auf viel Überraschendes und Unerwartetes, sowohl inhaltlich (wenn etwa unversehens auf dem Acker eine Kosmonautin auftaucht) als auch in den oft herrlich bildhaften und einprägsamen Formulierungen (ob nun ein ausgefranster Geist oder gar ein hinterhältiger sommer lauert, ein braches gleis ins Nirgendwo läuft oder noch ein nachhall von regen zu spüren ist). Gerade das Trostlose und Finstere wird so in Sprache gegossen, und der beteuernd mehrfach wiederholten Versicherung es wohnt nichts böses hier sollte man auf keinen Fall trauen.
Manchmal ist das Unheimliche ganz klassischer Spuk, wenn etwa die ratschläge einer maklerin. zu einer ganz besonderen Behandlung eines Hauses mahnen, in dem man sonst Unschönes erleben könnte. Dann wieder sind wie in ich fühl’s nicht., der Schilderung eines Suizids und der Reaktionen der Überlebenden darauf, die Untiefen und ihre tödlichen Folgen alltäglicher und gerade darum umso verstörender. Das alles kann in der Schilderung recht drastisch geraten (so die wohl im übertragenen Sinne zu begreifende, aber intensiv in körperlichen Bildern ausgemalte Selbstverstümmelung bis -zerlegung in nackt.).
Vor diesem Hintergrund ist es ganz gut, dass es bisweilen doch einen unerwarteten Anflug von Trost inmitten all der Düsternis gibt, damit die welt nicht zu scharfkantig ist, und so stiehlt sich bei der Lektüre dann manchmal doch noch ein kleines Lächeln zwischen Schaudern und Nicken. Auf alle Fälle ist diese Poesie voller Horror, aber nicht ohne einen Hauch von Hoffnung eine Entdeckung für alle, die sich einmal abseits der Hauptstraßen auch auf die Wildwechsel der Literatur wagen möchten.
Charline Winter: wildwechsel ins nichts. Gedichte. Norderstedt, Books on Demand, 2024, E-Book (auch als Taschenbuch erhältlich).
ISBN: 978-3-7693-7979-2