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1949

Einem Frauenarzt wird beinahe ein Klinikleiterposten verwehrt, weil er dem zuständigen Stadtrat als Jude und ehemaliger KZ-Insasse suspekt ist. Ein Gymnasiast muss sich als Holocaustüberlebender von seinem rechtsgerichteten Lehrer sagen lassen, die Verbrechen der Nazis seien moralisch nicht verwerflicher als die Bombardements deutscher Städte durch die Alliierten. Ein inhaftierter Nazi schwelgt in Erinnerungen an vermeintlich bessere Zeiten, während viele seiner Gesinnungsgenossen entweder gar nicht verurteilt werden oder mit einem blauen Auge davonkommen, auf alle Fälle aber fast ungestört ihr Leben und ihre Karriere fortsetzen können. Unterdessen interessiert sich ein entlassener Bankangestellter weit mehr dafür, ob seine Brennholzvorräte noch eine Weile reichen werden, als für die große Politik.
Es ist ein Kaleidoskop solcher Momentaufnahmen, aus dem Christian Bommarius in seinem lesenswerten Sachbuch 1949 ein präzises Psychogramm der westdeutschen Nachkriegsseele entwickelt, während er zugleich die Gründung der Bundesrepublik und das zähe Ringen um aus heutiger Sicht selbstverständliche Inhalte des Grundgesetzes wie die Gleichberechtigung der Geschlechter oder die Abschaffung der Todesstrafe schildert. Der gewichtige Stoff liest sich erstaunlich flüssig, bisweilen geradezu unterhaltsam: Bommarius ist ein geschickter Erzähler, der mit wohldosierter Ironie seine klugen und unbestechlichen Beobachtungen aufzulockern weiß.
Trotz der Leichtigkeit des Stils besteht jedoch am Ernst in der Sache zu keinem Zeitpunkt auch nur der geringste Zweifel. Denn das Panorama, das Bommarius entfaltet, ist vor allem die Geschichte eines Scheiterns an der so zentralen Aufgabe, aus dem Unfassbaren zu lernen. Durch den Beginn des Kalten Krieges wurde den Westalliierten die Umwandlung ihrer Besatzungszonen in ein stabiles Staatsgebilde bald wichtiger als die allenfalls noch halbherzig betriebene Entnazifizierung. Auch in der deutschen Gesellschaft selbst wurden keine Rufe laut, das alte System gründlich aufzuarbeiten, im Gegenteil: Oft wurde ein rascher Schlussstrich gefordert, und die Täter konnten mit weitaus mehr Verständnis und Unterstützung rechnen als ihre überlebenden Opfer oder als Emigranten, denen – selbst wenn es sich um Berühmtheiten wie den Schriftsteller Thomas Mann handelte – nicht selten Misstrauen und Ablehnung entgegenschlugen. Für die Verfolgten des Naziregimes blieb es nach Kriegsende schwer, wieder Fuß zu fassen, während viele Menschen, die zuvor mehr als nur Mitläufer gewesen waren, beruflich und sozial ihren alten Einfluss zurückgewannen. Letzteres ist zwar im Prinzip keine neue Erkenntnis, aber das Ausmaß, in dem es auf Wirtschaft, Kultur, Medien, Medizin, Bildungswesen und Justiz zutrifft, macht einen angesichts der Fülle von Einzelbeispielen, die der Verfasser aufführt, betroffen.
Neben dem Wunsch nach einem raschen Vergessen betont er als Charakteristikum der Epoche auch die Neigung vieler Deutscher, das eigene Leid (das fraglos vorhanden war, wie etwa das Schicksal von Bommarius‘ russlanddeutscher Mutter belegt) für weit größer und ungerechtfertigter zu halten als das anderer Gruppen wie eben der Opfer der NS-Zeit. Der Eindruck, vor allem selbst zu kurz gekommen zu sein, nahm manch einem die nötige Empathie und verhinderte nicht zuletzt die Auseinandersetzung mit eigenen Fehlern.
Es wäre schön, wenn all dies nicht mehr als ein Blick zurück in eine bewegte historische Epoche wäre. Doch spätestens in dem Moment, in dem ein damaliger Leserbrief an die Süddeutsche Zeitung zitiert wird, der in seinem dumpfen Antisemitismus erschreckend viele Parallelen zu heutigen Internet-Hasskommentaren fremdenfeindlicher Natur aufweist, wird einem klar, dass das hier Geschilderte keineswegs nur der Vergangenheit angehört. Bommarius weist in seinem Nachwort zwar darauf hin, dass es seit der Gründung der Bundesrepublik große Fortschritte gegeben hat und die allermeisten Bürgerinnen und Bürger sich inzwischen der Kostbarkeit ihres Rechtsstaats und seiner grundlegenden Werte bewusst sind. Wie wenig selbstverständlich das ist, macht 1949 jedoch in verstörender Intensität deutlich und ist damit nicht nur ein Muss für Geschichtsinteressierte, sondern auch Pflichtlektüre für alle, die Wurzeln und Mechanismen aktueller politischer Debatten besser verstehen wollen.

Christian Bommarius: 1949. Das lange deutsche Jahr. München, Droemer, 2018, 320 Seiten.
ISBN: 9783426277614


Genre: Geschichte