Das Frühmittelalter ist eine an Schriftquellen relativ arme Epoche, und was sich aus dem Vorhandenen rekonstruieren lässt, betrifft oft primär die Ereignisgeschichte, politische und rechtliche Belange. Um einen Blick auf die Lebenswirklichkeit der Menschen am Übergang zwischen Antike und Mittelalter zu erhaschen, sind wir daher stark auf archäologische Funde angewiesen, unter denen Gräbern eine besondere Bedeutung zukommt: Sie erlauben nicht nur eine Untersuchung der menschlichen Überreste selbst, an denen sich viel über Alter, Gesundheitszustand, Herkunft und Ernährung der Bestatteten ablesen lässt, sondern enthalten oft umfangreiche Beigaben (unter anderen Waffen und Trachtbestandteile), die viel über den Alltag, aber auch über die soziale Schichtung sowie religiöse Vorstellungen und deren Wandel verraten.
Der in den 1950er Jahren entdeckte alamannische Reihengräberfriedhof von Weingarten (Landkreis Ravensburg) ist in dieser Hinsicht besonders ergiebig, da hier über 800 Bestattungen aus dem 5. bis 8. Jahrhundert ergraben werden konnten, die zwar nur einen Teil des ursprünglichen Gräberfelds darstellen, aber in ihrer Fülle doch ausreichen, detaillierte Aussagen über Bevölkerungsstruktur und historische Entwicklung zu treffen.
Die Archäologinnen Claudia Theune-Vogt und Constanze Cordes stellen in Das frühmittelalterliche Gräberfeld von Weingarten diesen spannenden Fundplatz vor und geben einen Überblick über die Ergebnisse seiner Erforschung. Nach einer Einführung in die Ausgrabungen selbst und ihre archäologische und anthropologische Auswertung wird ein kurzer Abriss zur Geschichte der allem Anschein nach recht heterogenen Gruppe der Alamannen bis zu ihrer Eingliederung ins Frankenreich gegeben. Im Anschluss daran unterrichten jeweils einem speziellen Thema gewidmete Kapitel über das, was sich aus den Grabfunden über das Leben im frühmittelalterlichen Weingarten schließen lässt.
Während viele Überlegungen (so etwa zu Handelsbeziehungen und Handwerkstechniken, aber auch zum jeweiligen Rollenbild von Mann und Frau oder zur allmählichen Christianisierung) sich aus den Beigabenfunden ergeben und so zum Teil seit Jahrzehnten feststehen, sind andere Erkenntnisse noch recht neu. So deuten etwa die an einem Teil der gefundenen Skelette bis 2002 vorgenommenen DNA-Analysen auf eine patrilokale Gesellschaft hin, in der miteinander verwandte Männer am Ort blieben (also möglicherweise Söhne Land von ihren Vätern erbten), während Frauen einzeln von außen zuzogen (also vermutlich einheirateten). Isotopenanalysen der Knochen geben Aufschluss über die Ernährung, bei der sich der durch Beigaben ausgewiesene Wohlstand einzelner Individuen auch in abwechslungsreicherem Essen mit besserem Zugang zu Fleisch und Milchprodukten widerspiegelt.
In manchen Fällen erfolgt der Forschungsfortschritt jedoch auch einfach durch eine Neubewertung bekannter Fakten. Die Verfasserinnen melden beispielsweise Zweifel am für Weingarten (wo 13% der Toten weniger als 14 Jahre alt geworden waren) und andere frühmittelalterliche Fundstätten in älteren Veröffentlichungen gern pauschal postulierten „Kinderdefizit“ an: Die Annahme, dass die Kindersterblichkeit zur damaligen Zeit höher gewesen sein müsste und deshalb ein gewisser Anteil von Kinderbestattungen auf den Friedhöfen „fehlt“, basiert auf Vergleichen mit Zahlen aus späteren Epochen (insbesondere dem 19. Jahrhundert), in denen aber aufgrund der gestiegenen Bevölkerungsdichte Infektionskrankheiten weitaus schneller um sich greifen konnten, als es im alamannischen Weingarten der Fall gewesen sein dürfte, so dass die Rückprojektion wahrscheinlich verfehlt ist.
Obwohl aufgrund des Überblickscharakters und der Kürze der Darstellung überwiegend allgemeine Informationen im Vordergrund stehen, wird dennoch schlaglichtartig der ein oder andere Fund beleuchtet, der Einzelpersonen im Rahmen des Möglichen etwas stärker hervortreten lässt. So rührt es beispielsweise an, zu erfahren, dass bei einem dreijährigen Mädchen abgenutzte, für eine Erwachsene gefertigte Fibeln gefunden wurden, womöglich also jemand seinen eigenen Schmuck dem Kind mit ins Grab legte. Auch die wenigen Namen, die in Runeninschriften auf Gegenständen erhalten sind, machen Individuen fassbar: So ist auf einer Fibel ein „Dado“ überliefert, während eine andere mit „Alirgunth“ nicht nur die Besitzerin nennt, sondern auch festhält, dass eine „Feha“ die Runen schrieb. Lust darauf, sich noch genauer mit dem Gräberfeld von Weingarten und ähnlichen Funden des Frühmittelalters zu befassen, wird so auf alle Fälle geweckt, und die kleine, thematisch gegliederte Literaturübersicht am Ende des Buchs bietet hier durchaus Ansatzpunkte.
Eines fällt für eine Publikation, die sich offenkundig an ein breites Publikum richtet, jedoch negativ auf: Was archäologische Fachbegriffe angeht, muss man entweder ein bisschen Vorwissen oder viel Geduld mitbringen. Wer einen „Ango“ oder eine „Vierpassfibel“ nicht gleich einordnen kann, erhält zwar in den späteren Kapiteln noch Aufschluss darüber, was er sich konkret darunter vorzustellen hat, wird aber in der ersten Hälfte des Buchs zunächst mit den für viele Leser sicher unvertrauten Ausdrücken alleingelassen. Ein Glossar wäre daher eine sinnvolle Ergänzung gewesen.
Claudia Theune-Vogt, Constanze Cordes: Das frühmittelalterliche Gräberfeld von Weingarten (Führer zu archäologischen Denkmälern in Baden-Württemberg 26). Stuttgart, Theiss (WBG), 2009, 92 Seiten.
ISBN: 978-3806223736