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Die Geburt der mediterranen Welt

Ist es statthaft, eine Rezension mit einem Hinweis auf einen eigentlich völlig nebensächlichen Tippfehler zu beginnen? Vermutlich nicht, aber dieser hier ist fast schon genial, zeigt er doch so herrlich auf, worum es in Cyprian Broodbanks monumentalem Werk Die Geburt der mediterranen Welt geht. Denn wenn auf einmal vom „Mittelmehr“ (S. 215) die Rede ist, fasst das unabsichtlich sehr schön zusammen, dass das Mittelmeer für die Menschen in seiner Umgebung nie nur ein Gewässer war, sondern ebenso oft trennendes wie – nach dem Aufkommen der Seefahrt – verbindendes Element, Nahrungsquelle, Handelsweg und nicht zuletzt Mittelpunkt eines Kulturraums, dessen Entwicklung von den Anfängen bis zum Beginn der klassischen Antike nachgezeichnet wird.

In der Tradition Fernand Braudels richtet Broodbank dabei den Blick auf die longue durée, und der Begriff ist in diesem Fall sehr ernst zu nehmen: Bevor überhaupt die ersten Vorfahren der Menschheit die Bühne betreten, hat man schon einiges über Erd- und Naturgeschichte des Mittelmeerraums erfahren. Dann aber folgt ein detailfreudiges Panorama, in dem von Neandertalern über Ägypter, Minoer, Phönizier und Griechen bis hin zu den ersten Römern so gut wie alle ihren Auftritt haben, die in den behandelten Epochen an den Küsten des Mittelmeers lebten. Man liest von Herausbildung und Zerfall unterschiedlichster Gemeinschaften, von schon früh erstaunlich weitgespannten Handelsnetzen, aber auch von naturräumlich bedingter oder selbstgewählter Isolation einzelner Kulturen. Neben der Geschichte der Menschen spielt aber auch die der Tiere eine Rolle, ob nun die im Laufe der Zeit ausgerotteter Inselarten oder aber die einer so erfolgreichen Spezies wie der Hausmaus, die sich als Kulturfolgerin erst nach und nach bis in den Westen des Mittelmeerraums verbreitete. Ohnehin wird eines hier sehr deutlich: Bis rings um das Mittelmeer vergleichbare Bedingungen entstanden, die man unter dem Oberbegriff einer mediterranen Lebenswelt fassen kann, dauerte es tatsächlich bis in die Antike.

Broodbank neigt zu einprägsamen sprachlichen Bildern und Wortspielen, gerade auch in den Kapiteltiteln (besonders hübsch: „Von Mäusen und Melkart“, nicht von Steinbeck, S. 620). Die Leistung der Übersetzer Klaus Binder und Bernd Leineweber kann darum gar nicht hoch genug eingeschätzt werden, auch wenn selbst sie an manchen Stellen nicht um erklärende Fußnoten herumkommen, weil die Art des Autors, sich auszudrücken und sein breitgefächertes Wissen zu vermitteln, in jeder Hinsicht sehr englisch ist und sich nicht ohne Abstriche ins Deutsche übertragen lässt. Für eine anregende Lektüre sorgt dieser Stil allemal.

Zusätzliche Anschaulichkeit gewinnt das Buch durch sein üppige Bebilderung: Auch abgesehen von den beiden prächtigen Tafelteilen finden sich zahllose Fotos, Landkarten und Grundrisse. Hier und da ist bei den Bildlegenden aber etwas schiefgegangen: So sucht man z.B. den auf S. 351 versprochenen Gebäudegrundriss vergebens, und der Kartenmaßstab auf S. 624 scheint falsch zu sein (denn etwas weiter als bloße zehn Meter dürfte Veji schon von Rom entfernt gelegen haben). Vermutlich lassen sich aber solch kleine Ausrutscher bei einem Buch dieses Umfangs schlicht nicht vermeiden.

Als Archäologe orientiert sich Broodbank bei seinen oft lebendigen Schilderungen primär an Funden. Ereignishistorische Schlaglichter werden auch in den Epochen, aus denen Schriftquellen vorliegen, nur sparsam gesetzt, so dass ein gewisses Maß an entsprechendem Vorwissen beim Verständnis teilweise durchaus hilfreich ist. Besonderen Wert legt Broodbank darauf, herauszustellen, dass die zunehmende Differenzierung und Hierarchisierung der sozialen Verhältnisse schon ab der Jungsteinzeit, spätestens aber ab der Bronzezeit, auch zu Ungerechtigkeiten, Ausbeutung und Missständen führte.

Diese Akzentuierung sorgt einerseits für eine durchaus erhellende Erweiterung des gewohnten Blickwinkels, führt andererseits aber an manchen Stellen auch zu fragwürdigen Interpretationen. Besonders deutlich wird das in Broodbanks Deutung des Untergangs der bronzezeitlichen Palastkulturen, zu dem Angriffe der sogenannten Seevölker zumindest erheblich beitrugen, ohne vielleicht die einzige Ursache gewesen zu sein. Broodbank will die Seevölker nicht als fremdländische Invasoren verstanden wissen, sondern zeichnet sie als eine Art Mischung aus Migranten und Piraten mit sozialrevolutionärer Tendenz, die dankenswerterweise (wenn auch leider unter Gewaltanwendung) einem freieren Handel und moderneren Gesellschaftsmodellen den Weg geebnet hätten. Dass erhebliche Kollateralschäden (von menschlichem Leid bis zum Untergang einer ganzen Schriftkultur mit dem Ende der mykenischen Zivilisation) für Broodbank offenbar zu verschmerzen sind, wenn sie einer seinem Empfinden nach guten Sache dienen, während er den Eliten weniger egalitärer Gemeinschaften gern pauschal Gier und Willkür unterstellt, hinterlässt einen schalen Nachgeschmack. Zuallermindest werden hier soziale und politische Werturteile der Moderne in eine ferne Vergangenheit zurückprojiziert, schlimmstenfalls aber sogar Brutalität und Zwang nur dort klar verurteilt, wo sie von denen ausgehen, die in Broodbanks Weltbild die Rolle der Schurken spielen, während sie bei anderen Interessengruppen als Mittel zum Zweck zwar bedauerlich, aber legitim zu sein scheinen.

Ein Lesen mit kritischem Blick empfiehlt sich also bei der Geburt der mediterranen Welt, aber die Tatsache, dass man nicht all seine Einschätzungen unterschreiben mag, schmälert nicht Broodbanks Verdienst, eine schier unglaubliche Materialfülle zusammengetragen und zu einer kohärenten kulturhistorischen Erzählung verwoben zu haben. Daher lässt sich seine (Vor-)Geschichte des Mittelmeerraums auch dann mit Gewinn lesen, wenn man gegenüber seiner Sichtweise an manchen Stellen skeptisch bleibt.

Cyprian Broodbank: Die Geburt der mediterranen Welt. München, C.H. Beck, 2018 (Original: 2013), 952 Seiten.
ISBN: 978-3406713699


Genre: Geschichte