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Reise zum Ursprung der Welt

Heliopolis, am Südostrand des Nildeltas gelegen, war jahrtausendelang ein bedeutendes Heiligtum. Anders als bei den bekannten oberägyptischen Tempeln ist von aller Pracht und Herrlichkeit jedoch bis auf einen einzigen noch aufrecht stehenden Obelisken wenig offen Sichtbares erhalten geblieben. Heute liegt Heliopolis in der Millionenmetropole Kairo und ist nicht nur von modernen Baumaßnahmen, sondern auch von einem steigenden Grundwasserspiegel bedroht. Das klingt zunächst einmal eher unspektakulär, doch mit dem Urteil läge man falsch, wie Dietrich Raue in Reise zum Ursprung der Welt beweist. Mit der Darstellung der Geschichte von Heliopolis und der neueren Ausgrabungen dort, die vor allem durch die Auffindung einer Kolossalstatue Psammetichs I. 2017 mediale Aufmerksamkeit fanden, ist ihm ein beeindruckendes Buch gelungen, das den Reiz der Ägyptologie über Fachgrenzen hinaus nachempfindbar macht.

Heliopolis (altägyptisch: Junu) galt den alten Ägyptern nicht nur als Ort der Schöpfung oder vielmehr Emanation der Welt durch den Gott Atum, sondern war auch eng mit dem Mythos um Isis, Osiris, Seth und Horus verbunden, einer Geschichte also, die unter anderem von der Durchsetzung rechtmäßiger Erbansprüche gegen eine gewaltsame Usurpation handelt. Dadurch gewann Heliopolis eine zentrale Bedeutung für die Herrschaftslegitimation. Nur ein König, der sich hier überzeugend als Garant der rechten Weltordnung inszenieren konnte, hatte Aussichten, dauerhaft an der Macht zu bleiben. Das ganz irdische Heliopolis war darum von Anfang an auch mit dem Heliopolis der religiösen, politischen und nicht zuletzt auch literarischen Vorstellungswelt verknüpft.

Es ist diese Koppelung der Imagination an einen realen Ort, die Raue im ersten Teil des Buchs – Auf der Suche nach dem Ursprung der Welt – eindringlich heraufbeschwört. Dicht an den Quellen arbeitend, macht er das aus heutiger Sicht oft fremdartig anmutende Weltbild des alten Ägypten mit seiner Fülle von Gottheiten (die auch durchaus schon einmal in Hundertfüßergestalt auftreten konnten) fass- und nachvollziehbar.

Der zweite, unter Mitarbeit von Aiman Ashmawy verfasste Teil – Kleine Geschichte eines großen Tempels – schildert chronologisch die Entwicklung des Tempels von Heliopolis, die schon im 4. Jahrtausend v. Chr. mit der Entstehung einer Siedlung an einem topographisch markanten Punkt begann, an dem es ab dem 3. Jahrtausend ein Heiligtum mit enger Anbindung an das Königshaus gab. Jahrhundertelang verewigten sich hier Pharaonen durch Stiftungen, Statuen und Inschriften oder ließen bauliche Erneuerungen größeren und kleineren Umfangs vornehmen. Wichtig war dabei oft auch der Rückgriff auf ältere Kunststile oder Sprachstufen, um die eigene Verbundenheit zur Tradition zu betonen und das jeweilige Jetzt als eine Art Renaissance einer vermeintlich guten alten Zeit zu präsentieren.

Erst im Hellenismus setzte – vermutlich nach Zerstörungen durch die Perser – der Niedergang von Heliopolis ein. Von der römischen Antike an wurden Kunstwerke wie z.B. Obelisken an andere Orte verschleppt, und die Tempelgebäude dienten als Steinbruch. Noch im islamischen Mittelalter wurden Steine aus Heliopolis in Kairo verbaut, doch zugleich gab es in dieser Zeit erste Stimmen, die sich gegen eine Zerstörung der altägyptischen Bauwerke wandten und ihren Wert als Zeugnisse vergangener Epochen betonten. Das andere, literarische Heliopolis bestand jedoch bis in die Neuzeit fort und wurde immer wieder aktuellen religiösen und ideellen Gegebenheiten angepasst. Beispielsweise existieren örtliche Überlieferungen, die Heliopolis mit dem aus dem Alten Testament bekannten Joseph in Verbindung bringen und ihn gar auf erhaltenen Reliefs dargestellt sehen wollen.

Gerade der schlechte Erhaltungszustand der Stätte, die nur über ein kleines Freilichtmuseum verfügt und nicht zu den großen Touristenattraktionen Ägyptens zählt, bringt sie aber immer wieder mit der umliegenden modernen Großstadt und ihrem Bedarf an Bauland (oder auch an Platz für Müllkippen) in Konflikt, so dass sich die heutigen Ausgrabungen, zu deren Leitern Dietrich Raue zählt, oft schwierig gestalten. Auch die unsicheren politischen Verhältnisse machen den Archäologen ihre Tätigkeit nicht einfacher. Dennoch berichtet Raue mit viel Begeisterung von seinen Forschungsergebnissen und -erlebnissen, oft auch mit merklichem Sinn für Situationskomik (wenn etwa bei der Arbeit mit ausgebüxten Kühen oder Schafbockattacken gerechnet werden muss).

Dank der üppigen Bebilderung und insgesamt gelungenen Gestaltung des Buchs stimmt auch der äußere Rahmen für diesen Ausflug in ferne und jüngere Zeiten, der neben der titelgebenden Reise zum Ursprung der Welt auch eine schrittweise Rückreise ins Heute umfasst und ein großes Lektürevergnügen nicht nur für Archäologiebegeisterte bietet.

Dietrich Raue: Reise zum Ursprung der Welt. Die Ausgrabungen im Tempel von Heliopolis. Unter Mitarbeit von Aiman Ashmawy. Darmstadt, Philipp von Zabern (WBG), 2020, 384 Seiten.
ISBN: 978-3-8053-5252-9


Genre: Geschichte, Kunst und Kultur