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Das archaische Griechenland: Die Stadt und das Meer

Die Stadt und das Meer – der Untertitel von Elke Stein-Hölkeskamps im Rahmen der Reihe Geschichte der Antike erschienenen Überblicksdarstellung hat eine poetische Qualität, die Bilder heraufbeschwört und eher an schöne Literatur als an nüchterne Geschichtsschreibung denken lässt; eine Assoziation, die, wie sich im Laufe der Lektüre zeigt, nicht ganz verfehlt ist. Von der Epochenbezeichnung Das archaische Griechenland sollte man sich hingegen nicht täuschen lassen, denn wer glaubt, dass hier nur im strengen Sinne die Archaik (ca. 750-500 v. Chr.) behandelt wird, muss sich bald eines besseren belehren lassen. Stein-Hölkeskamp legt großen Wert auf die longue durée, und so holt sie weit aus und setzt schon mit der bronzezeitlichen mykenischen Kultur an, um dann allerdings tatsächlich um 500 v. Chr. zu enden.
Diesen langen Zeitraum mit seinen zahlreichen Verwerfungen und Wandlungen rekonstruiert sie nicht etwa nur unter Rückgriff auf archäologische Quellen, Aussagen der antiken Geschichtsschreiber und Gebrauchstexte (wie z.B. Gesetze). Es ist über weite Strecken vor allem ein literarisches Griechenland, das einem hier entgegentritt. Ob nun die homerischen Epen als Spiegel einer frühen Aristokratie herangezogen werden, in der ein König allenfalls ein primus inter pares ist, die Werke und Tage des Hesiod einen Blick in die bäuerliche Wirklichkeit gestatten oder Preisgedichte auf Sieger in sportlichen Wettkämpfen (Selbst-)Darstellung und Repräsentationsbedürfnis der Oberschicht gegen Ende des behandelten Zeitalters erfahrbar machen – das, was die Griechen zu Vortrags- und Unterhaltungszwecken über sich und ihresgleichen schrieben, durchzieht fast leitmotivisch das Buch. Besonders im Kapitel über die griechischen Koloniegründungen überall im Mittelmeerraum fühlt man sich durch die enge Verquickung von Historie und Mythen phasenweise etwas an Robin Lane Fox‘ Reisende Helden erinnert, die gleichwohl in den Literaturempfehlungen nicht auftauchen.
Dem Ansatz geschuldet überwiegen die Mentalitäts- und Strukturgeschichte gegenüber der Ereignisgeschichte, die in sogenannten „Fallstudien“ eingeflochten ist (und eher punktuell einzelne Orte herausgreift, als den Versuch zu unternehmen, den gesamten geographischen Raum abzudecken). Somit ist es auch nur konsequent, dass Stein-Hölkeskamp die Gliederung zwar durchaus chronologisch aufbaut, aber noch stärker an verschiedenen „Welten“ ausrichtet (wie etwa der Welt der Polis, der Welt der Bauern oder der Welt der Tyrannen).
Die Reihenfolge ist dabei laut Einleitung bisweilen gezielt gegen den Strich gebürstet (so erscheint z.B. die Kolonisation vor der Entwicklung der Poleis im Mutterland), und es lässt sich wohl nicht vermeiden, dass einige Themen zu kurz kommen, die in der Wahrnehmung der von der Autorin in den Mittelpunkt gerückten Menschen keine zentrale Rolle spielten. Wer (noch) keine eigene literarische Stimme hatte, wie etwa Kinder oder Sklaven, wird bestenfalls am Rande erwähnt (wie etwa, wenn Hesiod Betrachtungen über die wirtschaftliche Nützlichkeit beider Gruppen Betrachtungen anstellt).
Die Schwerpunktsetzung hat also ihre Schwächen, ermöglicht aber, wenn man sich ihrer bewusst bleibt, durchaus ein differenziertes und lebendiges Blid einer Epoche im Spannungsfeld zwischen Traditionsverhaftung und sozialen Umbrüchen zu gewinnen. Stein-Hölkeskamp arbeitet überzeugend das schon bei Homer geschilderte Konkurrenzdenken insbesondere innerhalb der Oberschicht, das sich nicht nur in Kämpfen oder sportlichen Wettbewerben, sondern auch im Streben nach politischer Vorherrschaft Bahn brach, als eine Grundkonstante des Lebens im archaischen Griechenland heraus, die jedoch zugleich zur Triebfeder großer Veränderungen wurde. Während sie einerseits konsequent auf die Spitze getrieben im System der Tyrannis gipfelte, wurde sie andererseits direkt oder indirekt zum Ausgangspunkt von Neuerungen, die das rücksichtslose Machtstreben Einzelner eindämmen sollten.
Zu den bekanntesten Bestrebungen dieser Art zählen sicher die des Atheners Kleisthenes, mit denen Stein-Hölkeskamp ihr Buch ausklingen lässt: Obwohl selbst Enkel eines Tyrannen leitete er mit der Phylenreform eine Maßnahme ein, die letzlich den Weg zu demokratischeren Verhältnissen in der klassischen Zeit ebnete.
Ein ausführliches Fazit aus der Gesamtdarstellung bleibt die Autorin einem jedoch schuldig, so dass man sich am Ende wieder auf ihr Vorwort zurückgeworfen sieht, in dem sie selbst das Hinterfragen und Umdeuten vermeintlicher Gewissheiten anmahnt – eine Haltung, zu der vielleicht nicht nur die Forscherin, sondern auch der Leser aufgefordert ist. Lust auf eine tiefergehende Beschäftigung mit der bewegten Epoche hat man nach diesem anregenden Buch auf jeden Fall, aber es bleibt das Gefühl, nur einen Ausschnitt des archaischen Griechenland zu sehen bekommen zu haben, allerdings einen kenntnisreich gewählten und elegant umrissenen.

Elke Stein-Hölkeskamp: Das Archaische Griechenland: Die Stadt und das Meer. München, C.H. Beck, 2015, 302 Seiten.
ISBN: 978-3406673788


Genre: Geschichte