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Erat olim …

Märchen zu lesen, macht in jedem Alter Spaß, und die der Brüder Grimm zählen nicht nur im deutschen Sprachraum zu den bekanntesten und beliebtesten. Wer aber nun glaubt, sie nicht mehr neu entdecken zu können, irrt sich, denn manchmal kann einem eine Übersetzung ganz neue Einsichten in einen Text eröffnen, zumal eine in eine Sprache, die man nicht im Alltag gebraucht. Franz Schlosser hat zwölf grimmsche Märchen ausgewählt und liebevoll ins Lateinische übersetzt.

Enthalten in der kleinen Sammlung sind Aschenputtel, Schneewittchen, Hänsel und Gretel, Rotkäppchen, Dornröschen, Der Froschkönig, Hans im Glück, Der Wolf und die sieben Geißlein, Frau Holle, Das tapfere Schneiderlein, Rumpelstilzchen und Die Bremer Stadtmusikanten. Als Anhang sind auch die deutschen Textfassungen nach der Ausgabe letzter Hand beigegeben, so dass auch Gelegenheitslateinbegeisterte nicht verzweifeln müssen, wenn sie einmal eine Vokabel nicht gleich parat haben sollten.

Eine stur wörtliche Übersetzung liegt – wie Franz Schlosser selbst in seiner knappen Bemerkung Zu dieser Ausgabe betont – allerdings nicht vor, sondern eine schier geniale Nachdichtung, die ihre Schönheit besonders dort entfalten kann, wo auch schon im Original Reime ins Märchen eingefügt sind. Wer selbst schon einmal übersetzt hat, weiß, dass Gedichte zu den größten Hürden zählen können, und so ist es doppelt eindrucksvoll, mit welcher Leichtigkeit Franz Schlosser mit Sprache spielt. Wenn Hänsel und Gretel im Deutschen auf die Frage der Hexe mit „der Wind, der Wind, / das himmlische Kind“ antworten, sagen sie hier: „Est zephyrus, est zephyrus, / divinus est infantulus.“ In anderen Fällen sind die Verse nicht allein eine gelungene Übertragung, sondern sogar noch griffiger und einprägsamer als auf Deutsch. So wird Aschenputtels „Bäumchen, rüttel dich und schüttel dich, / wirf Gold und Silber über mich“ auf Latein zu einem rhythmisch viel gelungeneren „Arbuscula, amabo te, / aurea veste orna me“.

Auch für andere Wendungen finden sich herrlich idiomatische Lösungen: Reagieren die sieben Zwerge im Deutschen mit einem erstaunten „Ei, du mein Gott“ auf Schneewittchens berückende Schönheit, lautet der Ausruf hier „Mehercule“ und transportiert einen so wunderbar auf einen Schlag in eine ganz andere (Gedanken-)Welt. Dazu passt, dass auch die Namen der Protagonisten mal stärker, mal sanfter, aber immer passend latinisiert sind: Während man Hannulus und Gretula wohl noch auf den ersten Blick wiedererkennt, muss man vielleicht schon zweimal nachdenken, um hinter Mamma Nivalis Frau Holle zu vermuten.

Nicht zuletzt durch diese klanglichen Veränderungen sind die lateinischen Märchen noch einmal etwas ganz anderes als ihre deutschen Pendants und regen einen dazu an, das Vertraute aus ungewohnter Perspektive neu zu betrachten und sich selbst zu fragen, welche Assoziationen bestimmte Sprachen für einen transportieren. Ganz gleich, ob man nun als sprachbegeisterter Märchenfan zu dem Büchlein greift oder vor allem seine Lateinkenntnisse auf originelle Art auffrischen bzw. wachhalten möchte, Erat olim … ist einfach schön und rundum zu empfehlen.

Franz Schlosser (Hrsg.): Brüder Grimm: Erat olim … Die 12 schönsten Märchen auf Lateinisch. Ausgewählt und übersetzt von Franz Schlosser. Stuttgart, Reclam, 2020, 132 Seiten.
ISBN: 978-3-15-019271-9


Genre: Märchen und Mythen