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Das Römerreich und seine Germanen

Gerade in populärwissenschaftlichen Darstellungen werden Römer und Germanen gern als unversöhnliche Gegner gezeichnet und eine letztendliche Eroberung oder Zerstörung des römischen Reichs durch germanische Gruppen postuliert. Dass die Realität weitaus komplizierter war und beide Kulturen letztlich nur in ihrer gegenseitigen Verflechtung und Beeinflussung zu verstehen sind, zeigt der bekannte Historiker Herwig Wolfram in Das Römerreich und seine Germanen. Laut Untertitel soll das Werk Eine Erzählung von Herkunft und Ankunft bieten, und das gelingt auch durchaus, aber viel stärker noch ist es womöglich eine Erzählung von den Erzählungen, mit denen nicht nur die Zeitgenossen, sondern auch die Menschen späterer Epochen sich auf vermeintliche Kontinuitäten beriefen und sich selbst in Abgrenzung von anderen darzustellen versuchten.

Die ersten Jahrhunderte der römisch-germanischen Beziehungen bis etwa zu den Markomannenkriegen sind dabei fast nur etwas wie ein Vorspiel zu dem Versuch germanischer Gentes in der Spätantike, sich auf dem Boden und im Rahmen des Imperium Romanum zu etablieren. Der Schwerpunkt der Darstellung liegt daher auf der Völkerwanderungszeit und der tiefgreifenden Transformation, die sie sowohl für die römische als auch für die barbarische Welt bedeutete. Dass die Goten dabei besondere Aufmerksamkeit erfahren, kann angesichts von Herwig Wolframs Forschungsinteressen nicht überraschen. Dementsprechend greift er hier und da auch auf den Textbestand älterer eigener Werke zurück, legt dies allerdings immer redlich offen.

Ein bloßes Wiederholen altbekannter Fakten und Theorien ist Das Römerreich und seine Germanen aber ganz und gar nicht, sondern neben einem Panorama einer bewegten Epoche auch eine ebenso differenzierte wie glänzend geschriebene aktuelle Auseinandersetzung mit altbekannten Annahmen. Wolfram verschont dabei auch eigene frühere Thesen nicht (etwa die Vermutung, es habe bei den Germanen ursprünglich ein weitverbreitetes Sakralkönigtum gegeben), räumt aber vor allem mit den scheinbaren Gewissheiten auf, die seit dem Humanismus, aber insbesondere auch im 19. und 20. Jahrhundert ein fruchtbarer Nährboden für eine Berufung auf Germanisches unter sehr unguten Vorzeichen waren. Teilweise geschieht das mit herrlich subtilem Humor (wenn etwa zur durch das Gedicht August von Platens heute noch relativ bekannten Geschichte über die Bestattung des Gotenkönigs Alarich im Busento angemerkt wird, dass die Mühe vergebens gewesen sein dürfte, weil der Fluss regelmäßig so weit austrocknet, dass man eigentlich keine Grabstätte dauerhaft darin verstecken kann).

Doch auch abseits seines Umgangs mit Halbwahrheiten und Anekdoten bietet Wolfram oft eine sehr klare und frische Perspektive. So liegt zum Beispiel die Antwort auf die Frage, warum dem Frankenreich anders als dem Ostgotenreich Theoderichs des Großen ein dauerhafterer Bestand beschieden war, für Wolfram nicht nur in der oft angeführten Entscheidung des Frankenkönigs Chlodwig für den unter der romanischen Bevölkerung verbreiteten Katholizismus (anstelle der von den Goten favorisierten arianischen Kirche), sondern stärker noch in der Geographie. Der Raum, in dem Chlodwig sich seine Machtbasis schuf, war von Konstantinopel schlicht weit genug entfernt, um ihn vor einem ständigen Eingreifen der oströmischen Kaiser zu bewahren.

Ein Buch, das man völlig voraussetzungslos zur Hand nehmen sollte, um einführende Informationen über Rom und die Germanen zu erhalten, ist Das Römerreich und seine Germanen allerdings nicht. Bei aller Detailfreude und Quellennähe wird doch ein gewisses Maß an Grundwissen über die (Spät-)Antike und über den Blick der Moderne darauf vorausgesetzt. Bringt man diese Basis mit, ist die Lektüre ein großer Gewinn und nur zu empfehlen.

Herwig Wolfram: Das Römerreich und seine Germanen. Eine Erzählung von Herkunft und Ankunft. Köln / Weimar / Wien, Böhlau, 2018, 480 Seiten.
ISBN: 978-3-412-50767-1


Genre: Geschichte