Ein Intellektueller im Mittelalter – so untertitelt Joachim Ehlers seine Biographie des Bischofs Otto von Freising († 1158), der als Onkel des Kaisers Friedrich Barbarossa der gesellschaftlichen und politischen Elite seiner Zeit angehörte, aber vor allem als bedeutender Geschichtsschreiber in Erinnerung geblieben ist.
Als Sohn des Markgrafen Leopold III. von Österreich und der Agnes, einer Tochter Kaiser Heinrichs IV., geboren, wurde Otto früh zum Studium nach Paris geschickt, das im 12. Jahrhundert das Bildungszentrum Westeuropas schlechthin war. Die von seiner Familie vermutlich für ihn vorgesehene Karriere eines Weltgeistlichen war jedoch nicht nach seinem Geschmack; statt in seine Heimat zurückzukehren, trat er als junger Mann 1132 in das Zisterzienserkloster Morimond ein und wurde 1138 zu dessen Abt gewählt.
Durch die Königserhebung seines Halbbruders aus erster Ehe, Konrads III., war es mit der klösterlichen Ruhe für Otto jedoch bald vorbei: Zum Bischof von Freising ernannt, sah er sich trotz seines Festhaltens an monastischen Idealen in seinem persönlichen Leben in die Politik katapultiert, in der er als diplomatischer Vermittler bald sehr geschätzt war, sich aber nicht heimisch fühlte. Die Teilnahme am Zweiten Kreuzzug (ab 1147), der in einer Katastrophe endete, schädigte vermutlich Ottos Gesundheit erheblich, denn auch für mittelalterliche Verhältnisse war ihm kein langes Leben beschieden. Er war wohl erst knapp 46 Jahre alt, als er 1158 auf der Reise zum Generalkapitel der Zisterzienser in Morimond starb, wo er auch beigesetzt wurde.
Bleibenden Nachruhm erwarb Otto jedoch nicht durch sein Wirken als Geistlicher und Reichsfürst, sondern durch zwei historiographische Werke, die Historia de duabus civitatibus, eine in der Tradition der Zwei-Reiche-Lehre (weltliche Herrschaft und Gottesstaat) des Augustinus stehende Weltgeschichte, und die unvollendeten Gesta Friderici Imperatoris, die sich mit den Taten seines Neffen Friedrich Barbarossa befassen. Für Otto als Geschichtsschreiber ist dabei vor allem der Begriff der mutabilitas zentral, der Wandelbarkeit bzw. Unbeständigkeit alles Irdischen, die individuelle Schicksale ebenso prägt wie die Entwicklung ganzer Staatswesen. Seine eigene Gegenwart erlebte Otto als krisenhaftes Zeitalter des Wandels, das sich auf das Weltende zubewegte und deshalb ganz besonders nach einer Hinwendung zu Gott verlangte.
Joachim Ehlers beschränkt sich in seiner Deutung dieser Schriften nicht darauf, die darin aufscheinende Haltung pauschal mit mönchischer Weltverachtung zu erklären oder allgemein die theologischen und philosophischen Vorbilder aufzuzeigen, von denen Otto seit seinem Studium angeregt wurde. Vielmehr spürt er mit psychologischem Feingefühl und einem hohen Maß an menschlichem Verständnis den biographischen Einflüssen nach, die Ottos Sicht auf die Geschichte, aber auch auf sein Umfeld erklären können. Wahrscheinlich war der junge Otto früh mit den Schattenseiten von Machtstreben und weltlichem Ehrgeiz konfrontiert, da die Ehe seiner Eltern selbst für die Maßstäbe ihrer Zeit und Gesellschaftsschicht ungewöhnlich drastisch rein aus politischem Kalkül zustande kam (der im Krieg mit seinem Vater liegende Heinrich V. bot seine Schwester Agnes, möglicherweise ohne deren Einwilligung, dem Babenberger Leopold quasi als Preis für dessen Abfall von Heinrich IV. an). Der Aufenthalt in Paris erschloss ihm intellektuelle Dimensionen abseits dieses von Gewalt und Nützlichkeitserwägungen geprägten Milieus, so dass er den Ausstieg daraus wagte – wenn auch letztlich nur mit sehr kurzfristigem Erfolg, da die familiären Bindungen ihn doch noch einholten.
Über das eindrucksvolle und in einzelnen Zügen anrührende Porträt eines mittelalterlichen Denkers hinaus gelingt Ehlers jedoch zugleich ein Panorama einer ganzen Epoche und ihrer zentralen geistigen Strömungen. Schon einige Vorkenntnisse zur Ereignisgeschichte der späten Salier- und frühen Stauferzeit zu haben, schadet bei der Lektüre allerdings nicht. Allen, die auf hohem Niveau sehr nahe ans Hochmittelalter herangeführt werden möchten, sei Otto von Freising wärmstens ans Herz gelegt.
Joachim Ehlers: Otto von Freising. Ein Intellektueller im Mittelalter. Eine Biographie. München, C.H. Beck, 2013, 384 Seiten.
ISBN: 9783406654787