Kaum ein Gebäudetyp steht im allgemeinen Bewusstsein so sehr für das Mittelalter schlechthin wie die Burg. Schon begrifflich oft eng mit dem Rittertum verbunden, ist sie mit zahlreichen Assoziationen verknüpft, von denen mach eine jedoch mehr mit Idealisierungen und Schauermärchen des 19. und 20. Jahrhunderts zu tun hat als mit der historischen Realität. Dementsprechend leitet Joachim Zeune seine aufschlussreiche Darstellung, deren geographischer Schwerpunkt auf dem deutschsprachigen Raum liegt, auch mit der heutigen Mittelalterrezeption ein und ist in der Folge bemüht, die tatsächlichen Burgen vom Ballast aller Mythen und veralteten Theorien zu befreien.
Kritik übt er vor allem an der weitverbreiteten Vorstellung von einem primär blutigen und düsteren Mittelalter, die dazu verführt, in der Burg ausschließlich einen Wehrbau zu sehen und ihre politischen, wirtschaftlichen und nicht zuletzt auch repräsentativen Funktionen zu vernachlässigen. Fehden und Belagerungen regten zwar die Phantasie der Nachwelt besonders an, waren aber nicht der Normalzustand. Im Vordergrund standen bei der Auswahl des Bauplatzes und der architektonischen Gestaltung daher häufig nicht militärische Kriterien, sondern der Wunsch nach einer optischen Machtdemonstration. Auch das Ende einer Burg war meist nicht kriegerischen Einwirkungen geschuldet, sondern Unglücksfällen wie etwa Bränden oder Erdbeben. Doch selbst wenn es nicht gar so dramatisch kam, waren immer wieder Instandsetzungsarbeiten oder Umbauten erforderlich.
Diese Passagen, in denen es um die Burg als Bauwerk geht, gehören zu den besten von Zeunes Buch: Minutiös wird anhand erhaltener Burgen bzw. Burgruinen, aber auch mithilfe zeitgenössischer Bild- und Schriftquellen nachgezeichnet, was an Zeit, Material, Geräten und Aufwand nötig war, um die verschiedensten Burgenformen zu errichten und zu erhalten. Auch der Aussagewert moderner Burgenbauprojekte (das bekannteste dürfte wohl Guédelon sein) erfährt in diesem Kontext eine kritische Würdigung.
Darüber hinaus wird deutlich, dass nicht nur Katastrophen aller Art und Gleichgültigkeit für Burgen verhängnisvoll werden können, sondern auch die falschverstandene Liebe zu ihnen. Von Wiederaufbauten des 19. Jahrhunderts, die historisch Gewachsenes zerstörten, über unreflektierte Denkmalschutzmaßnahmen (bei denen z.B. moderne Materialien in Wechselwirkung mit den historischen ungeahnte Schäden verursachen) bis hin zu fragwürdigen Nutzungs- und Tourismuskonzepten werden viele Spielarten eines gutgemeinten, aber verfehlten Umgangs mit Burgen angeprangert. Naturgemäß spielt auch hier das verzerrte Mittelalterbild späterer Epochen immer wieder eine Rolle, und es ist Zeune hoch anzurechnen, dass er bei allem Unmut über die problematischen Aspekte dieser oft naiven Rückschau Verständnis für den ihr zugrundeliegenden Eskapismus aufbringt.
So haben die Ritterburgen unbestreitbar viel Gutes und Lesenswertes zu bieten. Ein Wermutstropfen nicht nur aus germanistischer Sicht ist allerdings, dass Zeune abseits seines Kerngebiets einige Fehler unterlaufen. Bisweilen sind das nur kleinere Versehen, die das Lektorat hätte ausmerzen können, sei es nun, dass Hartmann von Aue auch als „Hartmut von Aue“ erscheint und ebenso wie einige andere mittelalterliche Dichter konsequent das Genitiv-S an der falschen Stelle (nach dem Beinamen) verpasst bekommt oder dass Goethes Theaterstück Götz von Berlichingen als einer der „frühen Ritterromane“ kategorisiert wird. Teilweise werden aber auch veraltete Forschungsmeinungen perpetuiert, so etwa die Annahme, ein voll ausgeprägtes Lehnswesen habe schon seit der Karolingerzeit bestanden (zur Kritik an dieser überkommenen Sicht siehe etwa Steffen Patzold, Das Lehnswesen, ISBN: 978-3406632358).
Daneben finden sich auch einige Thesen, die erstaunlich wirken und bei denen man sich wünscht, Zeune hätte angeführt, worauf sie fußen. Wenn er z.B. die Aussage trifft, „dass es im Mittelater ungleich mehr Linkshänder gab als heute“, wüsste man gern, auf welchen Statistiken dieses Pauschalurteil beruht. Zwar gibt es durchaus diesbezügliche Studien an Skeletten wie denen aus der berühmten englischen Wüstung Wharram Percy, doch kranken Vergleiche mit modernen Populationen daran, dass bei Letzteren Links- oder Rechtshändigkeit oft an der nicht immer freiwillig gewählten Schreibhand festgemacht wird, während der tatsächliche Linkshänderanteil bei Ermittlung z.B. durch Geschicklichkeitstests höher liegt und sich nicht signifikant von den mittelalterlichen Werten unterscheidet.
Mit Burgenbau und -symbolik hat all das zwar nur am Rande zu tun, aber wenn ein Autor explizit antritt, um die „zwölf schlimmsten Irrtümer über Burgen“ zu korrigieren, stechen einem die Missverständnisse, denen er selbst erliegt, natürlich besonders stark ins Auge.
Dementsprechend zwiespältig fällt das Urteil über die Ritterburgen am Ende aus. Wer vor allem an den ersten beiden im Untertitel aufgezählten Aspekten, Bauwerk und Herrschaft, interessiert ist, erhält hier eine Fülle von überzeugenden Informationen und wird Burgen künftig mit anderen Augen betrachten. Im Bereich Kultur dagegen wäre größere Gründlichkeit wünschenswert gewesen, denn hier bleibt der Leser im schlimmsten Fall mit einigen Fehlschlüssen, im besten dagegen mit mehr Fragen als Antworten zurück.
Joachim Zeune: Ritterburgen. Bauwerk, Herrschaft, Kultur. München, C.H. Beck, 2015, 128 Seiten.
ISBN: 978-3406660917