Elisabeth von Luxemburg, Tochter Kaiser Sigismunds und mit dessen Nachfolger, dem Habsburger Albrecht II., verheiratet, war schwanger, als ihr Mann 1439 einer Krankheit erlag, und hoffte darauf, einen männlichen Erben zur Welt zu bringen und so bald wie möglich zum König von Ungarn krönen lassen zu können. Dazu war die auf der Plintenburg in Visegrád verwahrte ungarische Königskrone unabdingbar notwendig, die Aussicht allerdings, dass man sie Elisabeth einfach aushändigen würde, gering: Der ungarische Adel pochte auf seinen Einfluss, wollte das dynastische Prinzip bei der Nachfolge nicht gelten lassen und hätte einen Erwachsenen gegenüber einem Kindkönig bevorzugt. In dieser Situation beauftragte Elisabeth die loyal zu ihr stehende Kammerfrau Helene Kottannerin, die Krone heimlich zu stehlen und zu ihr zu bringen – ein Vorgang, über den wir im Detail nur deshalb so gut unterrichtet sind, weil die Diebin wider Willen in späteren Jahren einen ausführlichen autobiographischen Bericht darüber und über die weiteren Geschehnisse noch über die tatsächlich erfolgte Krönung von Elisabeths Sohn Ladislaus Postumus hinaus verfasste.
Es ist dieser ungewöhnliche, leider nur unvollständig überlieferte Text aus einer an Memoiren zumal von Frauen noch sehr armen Zeit, den die Historikerinnen Julia Burkhardt und Christina Lutter in ihrem lesenswerten Buch in neuhochdeutscher Übersetzung präsentieren (und durch hilfreiche Unterüberschriften gliedern), um dann eine umfassende historische Einordnung vorzunehmen, die ein tiefes Eintauchen in die Welt des späten Mittelalters ermöglicht.
Schon geographisch in einer Kontaktzone zwischen verschiedenen Kultur- und Sprachräumen angesiedelt, ist der Bericht der Helene Kottannerin (die sich übrigens selbst darin „Helena“ oder „Elena“ nennt, während die Forschung ihr die Namensform „Helene“ gegeben hat) auch deshalb so interessant, weil er zwar in einem höfischen Umfeld spielt, aber aus der Perspektive einer Person bürgerlichen Standes geschrieben ist, die Kontakt zu Menschen aus unterschiedlichen sozialen Schichten hatte und diesbezüglich auch oft eine Vermittlerinnenrolle einnahm. Neben der politischen Geschichte der Durchsetzung der erwünschten Nachfolge durch die Königin spielt daher auch viel Alltagshistorisches eine Rolle, von beschwerlichen Reisen des Hofs über Schlafarrangements und Kinderpflege bis hin zu Religiosität und Aberglauben (so liest man hier von wundertätigen Erbsenschoten und davon, dass aus Sicht der Kammerfrau entweder ein Gespenst oder der Teufel höchstpersönlich den Kronendiebstahl zu hintertreiben versuchte).
Wer das Vorurteil hat, dass ein mittelalterlicher Text notwendigerweise trocken und schwierig zu lesen sein muss, wird hier eines Besseren belehrt, denn Helene Kottannerin schreibt nicht nur anschaulich, sondern auch sehr lebensnah und in manchen Punkten ehrlicher, als man es vielleicht im Voraus erwartet (so führt die Krönung eines wenige Monate alten Babys trotz aller Feierlichkeit eben auch und vor allem zu einem wie am Spieß brüllenden kleinen König). Diese erfrischende Offenheit macht die Quelle zu einer, die über ihre historische Bedeutung hinaus auch einen hohen Unterhaltungswert hat und nebenbei mit dem Klischee aufräumt, Frauen im Mittelalter seien bestenfalls passive Schachfiguren in männlichen Machtspielen gewesen. Sowohl die Königin als auch ihre Kammerfrau wissen sehr genau, was sie wollen, und finden Mittel und Wege, es auch zu erreichen.
Zahlreiche Abbildungen und nützliche Hilfsmittel (wie Kartenmaterial, eine Konkordanz der deutschen und ungarischen Formen von Ortsnamen und eine Stammtafel, aus der sich die teilweise verwirrenden familiären Verflechtungen zwischen Luxemburgern, Habsburgern, Cilliern und Jagiellonen entnehmen lassen) runden den ebenso kompakten wie gelungenen Band ab, der hiermit allen ans Herz gelegt sei, die sich für das späte Mittelalter interessieren.
Julia Burkhardt, Christina Lutter: Ich, Helene Kottannerin. Die Kammerfrau, die Ungarns Krone stahl. Darmstadt, wbg Theiss, 2023, 192 Seiten.