Mesopotamien gilt als eine der Wiegen der Zivilisation, war aber von alters her kein homogenes Gebiet, sondern ein je nach Epoche unterschiedlich umrissener geographischer Raum, in dem allerlei Stadtstaaten und später auch Großreiche um die Vorherrschaft rangen. Verbindendes Charakteristikum all dieser Gemeinwesen war der Gebrauch der Keilschrift, und so ist Karen Radners Mesopotamien als Überblick über die Geschichte der Keilschriftkulturen vom späten 4. Jahrtausend v. Chr. bis in die römische Kaiserzeit angelegt.
Die Wechselfälle der Überlieferung dieser Schriftquellen, zu denen archäologische Funde nur ergänzend hinzugezogen werden, bestimmen deshalb auch die jeweilige Schwerpunktsetzung der chronologisch geordneten Darstellung. Details einer kontinuierlichen Ereignisgeschichte lassen sich für die frühen Jahrhunderte, in denen die Schrift primär administrativen und geschäftlichen Zwecken diente, gar nicht rekonstruieren. Von Uruk über Akkad bis Mittani muss man sich also naturgemäß mit groben Umrisslinien der politischen Vorgänge und unvermeidlichen Lücken begnügen.
Punktuell dagegen erfährt man sehr viel, etwa über die Tätigkeit altassyrischer Kaufleute des 19. Jhs. v. Chr. in Anatolien, deren Korrespondenz erhalten ist und einen sehr nahe ans damalige Leben heranführt (so lernt man den Fall eines Mannes aus Assur kennen, dem es offenbar gelang, sich durch seinen Aufenthalt im Ausland dreißig Jahre lang erfolgreich seinen Gläubigern in der Heimat zu entziehen). Auch aus dem Babylon des Königs Hammurabi (18. Jh. v. Chr.), der nicht ohne Grund für seine Gesetzesstele bekannt ist, verraten die Schriftquellen viel, darunter Nachvollziehbares (wie etwas das Bemühen, die Schuldsklaverei einzudämmen), aber auch teilweise aus heutiger Sicht eher Bizarres (wie das Eherecht der Nonnen des Gottes Marduk, die zwar heiraten, aber keinen Geschlechtsverkehr mit ihren Ehemännern haben durften, so dass zur Zeugung von Nachkommen Nebenfrauen oder Sklavinnen als eine Art Leihmütter einspringen mussten).
Ab dem 14. Jh. v. Chr., in dem der Stadtfürst Assur-uballit I. von Assur den Grundstein für den Aufstieg Assyriens zur Großmacht legte, ändert sich das Bild, und eine durchgehende Geschichtserzählung wird möglich. Kriege, Erbfolgestreitigkeiten und die Verlegung der assyrischen Hauptstadt nach Kalchu, Dur-Scharrukin und schließlich Ninive lassen sich ebenso nachverfolgen wie der Untergang des Reichs im späten 7. Jh. v. Chr. und die Entwicklung des kurzlebigeren neubabylonischen Reichs (626 bis 539 v. Chr.) bis zur Eroberung durch die Perser.
Durch die Nutzung des in einer Alphabetschrift geschriebenen Aramäischen verlor die Keilschrift schon in neubabylonischer Zeit an Bedeutung. Unter persischer, seleukidischer und parthischer Herrschaft erscheint sie nur noch im religiösen und gelehrten Kontext und in Familienarchiven, um dann – soweit überliefert – 79 n. Chr. in einem astronomischen Text ein letztes Mal genutzt zu werden. Auch hier tritt die politische Geschichte deshalb wieder sehr in den Hintergrund.
Karen Radners Verdienst ist es, dass sie ihr disparates und Jahrtausende umspannendes Material durch die konsequente Orientierung an der Keilschrift und ihrem Gebrauch sinnvoll zu einem kompakten Überblick zu kondensieren versteht. Zu diesem Eindruck von Geschlossenheit trägt auch bei, dass die Forschungsgeschichte bis auf einen kurzen Ausblick am Schluss nicht gesondert behandelt, sondern jeweils in die Darstellung der einzelnen Zeitabschnitte eingeflochten wird. Vervollständigt durch eine hilfreiche Übersichtskarte und Abbildungen von Inschriften und Kunstwerken entsteht so eine auch für Laien gut lesbare, vorzügliche Einführung, die allen Interessierten ausdrücklich empfohlen werden kann.
Karen Radner: Mesopotamien. Die frühen Hochkulturen an Euphrat und Tigris. München. C. H. Beck, 2017, 128 Seiten.
ISBN: 9783406714061