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Die Ritter

Wenn eine Gestalt idealtypisch für das Mittelalter an sich steht, dann ist es wohl der Ritter. Ob als Held von Romanen und Filmen, Werbefigur oder Kinderspielzeug, er ist in der Vorstellungswelt bis heute sehr präsent und prägt das Bild einer ganzen Epoche. Genauso allgemein bekannt ist jedoch, dass die ritterliche Lebenswirklichkeit sich oft sehr von ihrer Überhöhung in Kunst und Literatur unterschied. Umso spannender ist der von Karl-Heinz Göttert gewählte Ansatz, sowohl reale als auch imaginäre Ritter zu untersuchen und aufzuzeigen, wie beide sich in Hoch- und Spätmittelalter gegenseitig beeinflussten und auch in die Erinnerungskultur der folgenden Jahrhunderte eingingen.
Die fortdauernde Faszination der Ritter führt Göttert dabei originellerweise auf ihre (Handlungs-)Freiheit zurück: Als Kämpfer, die sich aus eigenem Willen entscheiden, Abenteuer zu erleben oder sich für andere einzusetzen, eignen sie sich hervorragend als Projektionsfläche für Wünsche und Sehnsüchte. Historisch war allerdings nicht jeder Ritter so ungebunden: Rein rechtlich betrachtet konnte es sich bei ihm durchaus um einen unfreien Ministerialen handeln. Bis aus der reinen Funktionsbezeichnung für einen Reiterkrieger ein ideelles Konzept und ein sozialer Stand wurden, war es ein weiter Weg, den sowohl religiöse Überzeugungen als auch höfische Kultur und Literatur stark beeinflussten.
Bei seiner Schilderung dieser Entwicklung stellt Göttert immer wieder die Überlieferung zu bestimmten Themen (wie z.B. Krieg, Turnier, Schwertleite oder höfisches Benehmen) in den historischen Quellen ihrer jeweiligen Behandlung in der fiktionalen Literatur gegenüber. Diese bildete die Realität nicht etwa nur geschönt ab, sondern wirkte auch auf sie zurück, ob nun eher allgemein durch das Entwerfen moralischer Vorbilder oder ganz konkret, wenn man sich von ihr z.B. zu „Tafelrundenturnieren“ inspirieren ließ und liebgewonnene Geschichten nachzustellen trachtete.
Deren Reiz ist durchaus auch für den modernen Leser erhalten, und Götterts humorvolle Inhaltsskizzen verschiedener Texte können als lockerer Einstieg in die Artusepik, aber auch in manch anderes Werk mit mehr oder minder ritterlichen Protagonisten dienen. Der Schwerpunkt liegt dabei eindeutig auf dem deutschsprachigen Raum.
Das Gleiche gilt übrigens für die Auseinandersetzung mit den historischen Rittern: Während in der internationalen Forschung oft sehr stark die Situation in England und Frankreich im Vordergrund steht, legt Göttert auch hier den Fokus auf Deutschland und zieht ein aus heutiger Perspektive eher regionalgeschichtlich bedeutendes Ereignis wie die Schlacht bei Worringen als Musterbeispiel für einen militärischen Konflikt des Hochmittelalters heran. Wenn es sich anbietet, richtet jedoch auch er den Blick immer wieder auf andere europäische Regionen (eine so bekannte und populäre Gestalt wie William Marshal darf natürlich auch hier nicht fehlen, wenn es um das Turnierwesen geht).
Bei allem merklichen Vergnügen an seinem Gegenstand spart der Verfasser nicht mit Kritik an Rittern wie Ritterromanen. Während bei Ersteren auf den ersten Blick deutlich wird, dass sie oft auch alles andere als löbliche Taten begingen (ob sie nun Massaker auf Kreuzzügen anrichteten oder als Raubritter kriminell wurden), werden bei Letzteren die negativen Züge gern übersehen. Doch selbst in der Darstellung idealer Ritter schwingt eine latente Heroisierung von Gewalt mit, und die Brutalität, mit der manch ein literarischer Held zu Werke geht, wirkt bei genauerer Betrachtung eher abschreckend als nachahmenswert.
Ihren Charme über die Jahrhunderte hinweg bewahrt haben dagegen viele der Ritter aus Miniaturen und Wandmalereien, Zierteppichen und Skulpturen. Das Buch kann daher mit einer Fülle von Illustrationen aufwarten, die zu betrachten großen Spaß macht und deren Analyse oft auch in Götterts Überlegungen einfließt. Aus den Informationen aller möglichen Quellengattungen und elegant eingeflochtenen Details ergibt sich so ein eindrucksvolles Panorama.
Bis auf wenige kleine Flüchtigkeitsfehler (so kann etwa die für das Porträt Maximilians I. auf S. 262 angegebene Datierung 1460/61 beim besten Willen nicht stimmen) bieten Die Ritter also einen spannenden und rundum gelungenen Einstieg in das kulturgeschichtliche Phänomen des Rittertums.

Karl-Heinz Göttert: Die Ritter. Stuttgart, Reclam, 2011, 298 Seiten.
ISBN: 9783150108079


Genre: Geschichte, Kunst und Kultur

Magie im Alltag. Warum wir immer noch Daumen drücken und auf Holz klopfen

Zauberei, Dämonenglaube, Geisterfurcht – all das scheint mittlerweile zumindest hierzulande der Lebenswirklichkeit der meisten Menschen sehr fern zu sein. Doch in gewissem Maße ist das ein Trugschluss, wie der Germanist Karl-Heinz Göttert aufzeigt, nimmt er doch in seiner Sammlung kleiner Artikel (die zum Teil zunächst für seine Zeitungskolumne entstanden) heutige Relikte magischen Denkens zum Ausgangspunkt, um mit leichter Hand durch die Kulturgeschichte der abendländischen Magie zu führen. Während er einerseits vor jedem Aberglauben warnt, möchte er andererseits auch Reiz und Schönheit eines magischen Weltbilds erfahrbar machen. Das gelingt über weite Strecken durchaus, wenn auch mit gewichtigen Abstrichen.
Zunächst einmal darf man nicht den Fehler begehen, irgendeine Form von rotem Faden oder allzu scharfer Kategorisierung zu erwarten. Die Artikelsammlung ist locker in Oberkapitel aufgeteilt, die Texte zu bestimmten Praktiken (wie etwa Wahrsagerei) oder Gestalten bündeln (z.B. Große Magier, unter denen historische Persönlichkeiten ebenso vertreten sind wie literarische Figuren). Eine fortlaufende Argumentation ist aber nicht angestrebt, und so bleibt es bei kleinen Häppchen von ungefähr zwei Seiten Länge, in denen ein buntes Sammelsurium unterschiedlichster Themen abgehandelt wird. Hier lässt sich mancherlei entdecken, das amüsiert, erstaunt und unverständlich Gewordenes erklärt (z.B., warum es sich nicht gehört, mit dem Finger auf andere Menschen zu zeigen, oder gegen welche Gefahr das Daumendrücken eigentlich helfen soll).
Durchgängig erkennbar ist Götterts Bemühen, möglichst humorvoll und vergnüglich zu schreiben. Während die augenzwinkernden Formulierungen einem tatsächlich das ein oder andere Schmunzeln entlocken, wirken einige der Scherze allzu bemüht und haben eine etwas unglückliche Tendenz. So beklagt der Autor zwar die mittelalterliche Misogynie, zieht aber an anderer Stelle selbst genüsslich darüber her, dass doch so gut wie jede Frau einen Schuhtick habe und ihrem Mann damit auf die Nerven falle – ein müdes Klischee, das zwar sicher witzig gemeint ist, einen aber eher zum resignierten Kopfschütteln als zum Lächeln reizt.
Wohl der geringen Artikellänge geschuldet ist zudem manches arg verkürzt und undifferenziert dargestellt, interessanterweise sogar dort, wo Götterts eigentliches Spezialgebiet, die Germanistik, betroffen ist. Wenn er etwa die „Merseburger Zaubersprüche, mit denen man Vieh heilte“ erwähnt, will man ihm gern glauben, dass der zweite Merseburger Zauberspruch, der eine Pferdeheilung schildert, auch bei anderen Tieren angewandt wurde. Man fragt sich allerdings, wie weit man mit dem ersten, der eine Gefangenenbefreiung zum Inhalt hat, wohl im Kuhstall kommen würde. Andere Informationen sind sogar schlicht fehlerhaft, wie etwa die Behauptung, der römische Kaiser Valens habe „in der Schlacht von Adrianopel gegen die Perser“ gekämpft, denn eigentlich waren es die Goten. Ebenso erstaunt liest man hier von der „Wahl von Samuel zum ersten König der Israeliten“ – dass dann doch Saul den Thron bestieg, war demnach wohl ein über die Jahrtausende geschickt vertuschter Staatsstreich.
Gerade aufgrund solcher Ungenauigkeiten und Schnitzer ist es bedauerlich, wenn auch in Anbetracht der Entstehungsgeschichte des Buchs erklärlich, dass sowohl auf Fußnoten als auch auf eine umfangreiche Bibliographie verzichtet wurde. Die kleinen Literaturhinweise im Nachwort geben zwar eine Richtung vor, wenn man sich mit dem Themenspektrum von Magie im Alltag noch etwas tiefer auseinandersetzen möchte, helfen aber nicht dabei, zu rekonstruieren, wie einzelne kritikwürdige Aussagen zustandegekommen sind.
So ertappt man sich alles in allem bei dem Wunsch, die an sich so nette Idee, ein buntes Kaleidoskop der Alltagsmagie in Geschichte und Gegenwart zu bieten, wäre mit etwas mehr Sorgfalt umgesetzt worden. Ganz abzuraten ist von der Lektüre sicher nicht, hat sie doch ihren Unterhaltungswert und ihre lehrreichen Augenblicke. Aber wie so vieles im Bereich von Zauberei und Aberglauben ist eben auch Magie im Alltag mit Vorsicht zu genießen.

Karl-Heinz Göttert: Magie im Alltag. Warum wir immer noch Daumen drücken und auf Holz klopfen. Stuttgart, Reclam, Neuausgabe 2014 (Original: 2003), 239 Seiten.
ISBN: 9783150203613


Genre: Kunst und Kultur