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Ramses der Große

Eine über sechsundsechzig Jahre dauernde Herrschaft, zahlreiche Ehefrauen (darunter seine Schwester und drei seiner eigenen Töchter), um die hundert Kinder und ein Bauprogramm, das seinesgleichen sucht – Ramses II. (um 1303 bis 1213 v. Chr.) war ein Pharao der Superlative und wurde für spätere ägyptische Könige zum unerreichten Vorbild. Dennoch überdauerte seine 19. Dynastie seinen Tod nur um gut zwei Jahrzehnte, und trotz des relativen Quellenreichtums seiner Zeit (etwa in Form von Inschriften und diplomatischer Korrespondenz) ist eine objektive Wertung kaum möglich, ist doch nur die offizielle und damit nicht selten propagandistisch gefärbte Version der Ereignisse erhalten.
Noch schwerer fällt eine Annäherung an den Menschen Ramses, da es keine Selbstzeugnisse außerhalb seiner Rolle als Pharao von ihm gibt und auch ein privates Schrifttum Dritter fehlt. Eine Biographie des legendären Herrschers zu verfassen, ist also weitaus schwieriger, als sein Bekanntheitsgrad es ahnen lässt.
Der Althistoriker Manfred Clauss nimmt sich der Aufgabe dennoch mit viel Schwung und Erzählfreude an und schlägt den Tücken der Quellenlage gerade dadurch ein Schnippchen, dass er sie anerkennt, unter diesem Vorbehalt aber konsequent eng dem Vorhandenen folgt. Einen Großteil des Buchs nimmt daher eine chronologisch Jahr für Jahr angelegte Schilderung von Ramses‘ Leben ganz im Stile der ägyptischen Annalistik ein; sind für ein spezifisches Jahr keine Ereignisse überliefert, ist es mit der Segensformel „Der Pharao lebe, sei heil und gesund!“ ausgefüllt. So begegnet man Ramses nach einem kurzen Überblick über diejenigen seiner Vorgänger, die sein Vater Sethos I. und er im Osiris-Heiligtum von Abydos auf Ahnentafeln auflisteten (was zu einigen interessanten Auslassungen führt – Echnaton oder Tutanchamun sucht man etwa vergebens), zunächst in seiner Rolle als Kronprinz, um ihn dann durch seine lange Regierungszeit zu begleiten. Dabei steht nicht allein Ereignishistorisches im Mittelpunkt (wie etwa die Schlacht von Kadesch, die Clauss auf 1275 v. Chr. datiert). Vielmehr erfährt man an Ramses‘ Beispiel auch so manches über Aufgaben und Selbstdarstellung eines Pharaos allgemein, so dass der Band auch gut als Einführung in altägyptisches Herrschafts- und Religionsverständnis dienen kann.
Ausführliche eigene Kapitel sind Ramses‘ Umfeld und seiner regen Bautätigkeit gewidmet. Hier finden sich, soweit möglich, Detailinformationen über einzelne Personen in der Umgebung des Pharaos (wie seine Mutter Mut-Tuja, seine Gemahlinnen, seine Kinder oder seine Beamten), aber auch über seine heute größtenteils verschwundene Hauptstadt Pi-Ramesse und bedeutende Einzelbauwerke wie den Tempel von Abu Simbel.
Auch abgesehen von der Nähe zu den Quellen lässt Clauss dabei einen sensiblen Zugang zur ägyptischen Kultur erkennen, der die damaligen Überzeugungen bei aller kritischen Distanz mit Respekt behandelt und sich dadurch positiv etwa vom Zynismus eines Toby Wilkinson abhebt. So deutet Clauss etwa an, dass bei allem Wert der Untersuchungen an der 1870 wiederentdeckten Mumie des Ramses die Wünsche des Pharaos selbst für den Umgang mit seinem Leichnam sicher anders ausgesehen hätten, und schärft so den Blick für die angesichts des heutigen Primats der Naturwissenschaften oft unterrepräsentierte Perspektive, dass Forschungsdrang bei der Beschäftigung mit lange verstorbenen Mitmenschen nicht alles ist oder sein sollte.
Das Staunen über das in vielen Zügen fremdartige Leben des Ramses, das gewöhnliches Menschenmaß zu sprengen scheint, wird durch ein spannendes Fazit zurechtgerückt, das Ramses als Pharao schlechthin mit Augustus als dem römischen Kaiser vergleicht und kontrastiert. Während beide von der Nachwelt zu idealtypischen Herrschergestalten stilisiert wurden, die nach kriegerischen Anfängen ihren Untertanen zu Friedensgaranten wurden, war der Römer bereits mit einer etablierten Geschichtsschreibung konfrontiert, die dafür sorgte, dass seine antiken Biographen auch Fehler und Missetaten nicht in Vergessenheit geraten ließen. Ein solches Korrektiv fehlt bei Ramses – aber dass man sich denken kann, dass man aus den erhaltenen Inschriften und Briefen nicht die ganze Wahrheit erfährt, macht den Teil davon, den Manfred Clauss einzufangen versucht, nicht weniger lesenswert.

Manfred Clauss: Ramses der Große. Darmstadt, Primus Verlag (WBG), 2010, 214 Seiten.
ISBN: 9783896786760


Genre: Biographie