Pompeji zählt unbestreitbar zu den berühmtesten und eindrucksvollsten Fundstätten der römischen Antike. Dementsprechend viel ist über die beim Ausbruch des Vesuv 79 n. Chr. verschüttete Stadt auch schon geschrieben worden. In Pompeji. Das Leben in einer römischen Stadt versucht sich nun die bekannte britische Althistorikerin Mary Beard an dem Thema und stellt weniger die nur einführend skizzierte Katastrophe in den Mittelpunkt als das tägliche Leben in einer römischen Stadt und dessen Erforschung. Herausgekommen ist dabei eine lesenswerte, aber stellenweise nicht unproblematische Einführung für ein allgemeines Publikum, die eine Fülle interessanter Sachinformationen mit reichlich Polemik würzt.
Wer einfach nur einen locker und vergnüglich zu lesenden Einstieg in die römische Alltagswelt sucht, ist hier an der richtigen Stelle: Beard schreibt anschaulich, spritzig und humorvoll. So lernt man vom Straßensystem über Wohnverhältnisse, Kunst, Wirtschaft, Politik, Ernährung und Freizeitgestaltung bis hin zur Religion alle wichtigen Bereiche des städtischen Lebens kennen (nur die Dinge, die danach kamen – also Bestattungssitten und Grabarchitektur – sind leider in einen sehr knappen Epilog verwiesen). Hier finden sich viele spannende, unerwartete oder auch einfach nur nette Einzelheiten, und man lernt auch schlaglichtartig Pompejaner kennen, über die man aus Inschriften und archäologischen Funden ein paar biographische Details rekonstruieren kann. Ob nun der Auktionator, der von Stoffen über Maultiere bis hin zu Sklaven alles versteigerte, die Großmutter, die engagiert Wahlwerbung für ihren Enkel betrieb, oder die örtliche Schweinehirtin – Durchschnittsmenschen der Antike sind einem hier plötzlich sehr nah. Diese pralle Lebendigkeit ist unbestreitbar die größte Stärke von Pompeji.
Ärgerlich ist dagegen das überwiegende Fehlen konkreter Quellengaben, die nur für vereinzelte antike Texte vorliegen, nicht aber bei den oft wörtlichen Sekundärliteraturzitaten. Gerade da Beard andere Forschungsmeinungen oft scharf angreift, wäre es sowohl den Kritisierten als auch der Leserschaft gegenüber fairer gewesen, nachzuweisen, aus welchen Werken hier eigentlich zitiert wird und in welchen Zusammenhang die Versatzstücke gehören.
Einige von Beards kritischen Überlegungen sind durchaus bedenkenswert: So setzt sie etwa ein Fragezeichen hinter das gängige Bild der komplett mit allem Inventar erhaltenen Stadt, indem sie darauf hinweist, dass schon in der Antike Bergungstrupps und Plünderer Ausgrabungen unternahmen, die oft nur die leere Hülle eines Gebäudes hinterließen. Auch die Betonung der Tatsache, dass nicht nur der Zweite Weltkrieg und der Tourismus, sondern auch unsachgemäße Restaurierungen große Schäden an den Ruinen angerichtet haben, ist wichtig.
Manches, was Beard als neue Erkenntnis verkauft, ist allerdings auch ein alter Hut – dass nicht jede freizügige Darstellung in einem pompejanischen Wandgemälde zwingend auf ein Bordell hindeutet, dürfte sich mittlerweile herumgesprochen haben. Auf anderen Gebieten wiederum (etwa bei der Beschreibung der römischen Religion) bleibt Beard selbst sehr konventionell und bietet keine neuen Denkanstöße.
Auch eigene Ungenauigkeiten leistet die Autorin sich hier und da. Wenn z.B. die inschriftlich belegten „Publius Cornelius Felix und Vitalis, Sklave des Cuspius“ ein paar Sätze später pauschal als „diese einfachen Sklaven“ bezeichnet werden, wundert man sich, denn die tria nomina des erstgenannten Mannes deuten eigentlich auf einen römischen Bürger hin. Andere Fehler gehen vermutlich auf die ansonsten frische und gut lesbare Übersetzung von Ursula Blank-Sangmeister (unter Mitarbeit von Anna Raupach) zurück: So rätselt man, warum hier ständig römische Handwerker mit einem „Kompass“ zugange sind, bis man darauf kommt, dass wohl das englische compass, das auch „Zirkel“ bedeuten kann, für den Kontext falsch übersetzt wurde.
Solch Flüchtigkeiten würden im Prinzip nicht weiter stören, wenn Beard nicht selbst ständig so wacker austeilen würde. Bei solch einer Grundhaltung erwartet man natürlich besondere Genauigkeit und bleibt so nach der Lektüre insgesamt mit einem zwiespältigen Eindruck zurück. Ein mitreißender Ausflug in die Antike, ja – aber mit einer Reiseleitung, die man sich manchmal etwas bescheidener und zurückhaltender gewünscht hätte.
Mary Beard: Pompeji. Das Leben in einer römischen Stadt. Frankfurt am Main, Fischer, 2017 (Original: London 2008), 480 Seiten.
ISBN: 9783596299690