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Märchen vom Meer

Das Meer ist für die Menschen von jeher ambivalent: Als malerischer Sehnsuchtsort, Reiseweg und Nahrungsquelle positiv besetzt, birgt es zugleich Gefahren für Seeleute und Küstenbewohner. Kein Wunder also, dass sich auch zahlreiche Geschichten ums Meer ranken und dort neben Fischen und Walen noch ganz andere Wesen wie etwa Nixen oder Gestaltwandler vermutet werden.

Michaela Brinkmeier hat für ihre Anthologie Märchen vom Meer Märchen aus den unterschiedlichsten Sammlungen des 16. bis 20. Jahrhunderts überarbeitet und neu zusammengestellt. Präsentiert werden die Geschichten thematisch geordnet in fünf Gruppen, zwischen denen sich allerdings hier und da inhaltliche Überschneidungen ergeben.

Das Kapitel Von Abenteuern auf See umfasst Märchen, deren Protagonisten sich aus den unterschiedlichsten Gründen aufs Meer hinauswagen, etwa um als Fischer ihren Lebensunterhalt zu verdienen oder um vor bösartigen Angehörigen zu fliehen. Ganz gleich, was der Auslöser der Fahrten ist, mit übernatürlichen Geschehnissen ist in ihrem Verlauf zu rechnen.

Dagegen geht es im folgenden Abschnitt Von wundersamen Welten auf dem Meeresgrund unter die Wasseroberfläche. Hier hausen allerlei wundersame Wesen, und wer sie besuchen darf, kann entweder sein Glück finden oder gezwungen sein, das eigene Verhalten einmal gründlich zu überdenken.

Mit eher nicht im Biologiebuch zu findenden Meerwesen befasst sich auch das Kapitel Von allerlei Meerleuten, doch sind es hier oft diese, die menschliche Unterstützung benötigen oder sich für eine Weile – ob nun freiwillig oder nicht – auf dem Festland aufhalten.

Vom Warum und Woher – Fragen zum Meer bewegt sich dagegen eher in einer Grauzone zwischen Märchen und ätiologischen Sagen; in welche Kategorie genau man die enthaltenen Texte zur Entstehung von Ebbe und Flut oder zur Herkunft des Salzwassers einordnen möchte, ist Ermessenssache.

Abschließend sind in Von Fluch und Segen des Meeres Märchen zusammengestellt, die deutlich machen, dass das Meer große Reichtümer schenken, aber auch Leib und Leben bedrohen kann. Hier ist mit Von dem Fischer und seiner Frau wohl auch das bekannteste unter allen ausgewählten Märchen enthalten.

Geographisch ist der Rahmen von Grönland bis Polynesien weit gespannt, aber zahlenmäßig besonders stark vertreten sind Geschichten aus dem Nordseeraum und insbesondere aus Skandinavien, vielleicht, weil aufgrund der Bedeutung des Meeres für die angrenzenden Länder hier besonders viele Meeresmärchen überliefert sind, oder aber auch, weil dank reger Sammeltätigkeit schon im 19. Jahrhundert der Märchenbestand dieser Region sehr gut erschlossen ist.

Eine Erklärung zu den Auswahlkriterien hätte sich im Vorwort angeboten, vor allem aber auch eine historische Einordnung mancher Texte, die heute eher fragwürdig wirkende Vorurteile ihrer Entstehungszeit erkennen lassen. So fürchtet sich etwa in dem im 16. Jahrhundert entstandenen oder zumindest verschriftlichen italienischen Märchen Fortunio und die Sirene eine Prinzessin vor einer Heirat mit einem „garstigen Sarazenen“ (S. 153), der aber natürlich, bevor es so weit kommen kann, vom Helden aus dem Weg geräumt wird.

Nicht nur hier wären ein paar Worte zum Weltbild der Entstehungsepoche für ein modernes Publikum sicher nützlich gewesen. Da es in anderen Märchenbüchern aus demselben Verlag (z.B. den Märchen von Füchsen) durchaus ausführlichere Sachtextanteile gibt, ist es schade, dass die Herausgeberin sich hier darauf beschränkt, als Vorwort eine knappe atmosphärische Einstimmung zu liefern, statt etwas mehr in die Tiefe zu gehen. Als bunte und über weite Strecken auch vergnügliche Leseauswahl von Meeresmärchen taugt der Band aber dennoch.

Michaela Brinkmeier (Hrsg.): Märchen vom Meer. Zum Erzählen und Vorlesen. Krummwisch bei Kiel, Königsfurt-Urania, 2021, 192 Seiten.
ISBN: 978-3-86826-093-9


Genre: Märchen und Mythen