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Dornröschen, wir müssen reden!

Mit unseren Erzählungen weben wir die Welt – dieses Motto stellt Nina Bodenlosz ihrem Buch moderner Märchenumdichtungen voran und macht damit deutlich, wie sehr Geschichten neben ihrem Unterhaltungswert auch die Funktion haben, Weltsichten zu vermitteln und zu prägen. Das manches traditionelle Märchen unter diesem Aspekt nicht sonderlich gut wegkommt, wenn man heutige Wertmaßstäbe anlegt, versteht sich von selbst, und so stellt die Autorin humorvoll allerlei vertraute Geschichten von Rumpelstilzchen bis zur Gänsemagd auf den Kopf (wobei das titelgebende Dornröschen gleich zweimal vertreten ist).

Dem typischen Märchentonfall bleibt sie dabei über weite Strecken relativ treu, bricht ihn aber bewusst, sei es durch eine gezielt moderne Ausdrucksweise in den Dialogen oder punktuelle inhaltliche Aktualisierungen (so betreibt die Mutter der insbesondere für alternde Wölfe mit Vorsicht zu genießenden sieben Geißlein erfolgreich eine Molkerei, während Rapunzels Hexe auf dem Fahrrad anrückt und eines der beiden Dornröschen lieber Krimis liest, als ein anstrengendes Prinzessinnenleben zu führen).

Gelegentlich ist die komplette Geschichte in die Gegenwart versetzt, etwa bei Hänsel und Gretel, die, als planlose Dauerstudenten von ihren Eltern auf rüde Art ausquartiert, einer drogenmischenden Hippie-Hexe in die Falle gehen. Manchmal wirkt auch schon ein Perspektivwechsel wahre Wunder: Die Geschichte Vom Fischer un syner Fru hat nicht nur einen modernen Angler und dessen Freundin zu Hauptfiguren (die gegenüber den Protagonisten des klassischen Märchens auch noch in gewissem Maße die Rollen tauschen), sondern wird zudem aus der Sicht des bedauernswerten Butts erzählt.

Einige der Märchen dienen darüber hinaus als Vehikel für politische Satire. So sind bei dem Herrscher in Bodenlosz‘ Version von Des Kaisers neue Kleider, der die Meinung des Volks mit per Papiervogel versandten Botschaften zu beeinflussen versucht, Ähnlichkeiten zu einem bekannten, eifrig twitternden Staatschef nicht von der Hand zu weisen, und auch der Umgang von Schneewittchens böser Stiefmutter mit ihrem Spiegel erlaubt es, Parallelen zum Verhältnis bestimmter Politiker zu den Medien zu ziehen.

Vor allem aber haben viele Texte eine unverkennbar feministische Stoßrichtung, wenn gnadenlos die aus heutiger Sicht fragwürdige und nicht selten latent bis offen misogyne Moral der ursprünglichen Märchenfassungen bloßgelegt wird. Bei Nina Bodenlosz sind es nicht die Braven und Biederen, die triumphieren, sondern die stillen wie lauten Rebellinnen, ganz gleich, ob sie nun durch einen langen Atem und überlegene juristische Kenntnisse punkten wie die Prinzessin in der Geschichte vom glücklicherweise Doch-nicht-ganz-König Drosselbart, offensiv für ihre Rechte kämpfen wie die Pechmarie oder wie Rapunzel zu der Erkenntnis gelangen, dass es nie zu spät ist, sein Leben selbst in die Hand zu nehmen. Aber nicht nur Frauen haben unter restriktiven gesellschaftlichen Spielregeln zu leiden: So hat es in Fröschelein der Froschkönig auch nicht leichter als die Prinzessin, und wer sich schon immer gefragt hat, warum der eiserne Heinrich – pardon, der Diener Willi! – von allen am unglücklichsten über die Verwandlung seines Herrn war, findet hier eine plausible Erklärung.

Das alles liest sich leicht, locker und vergnüglich weg und schärft dabei den Blick dafür, dass man auch Geschichten, die man schon lange kennt (und womöglich schätzt), nicht unhinterfragt lassen sollte.

Wer Märchen übrigens lieber hört, als sie zu lesen, hat bei diesem Buch Glück: Nina Bodenlosz trägt auf ihrem Youtube-Kanal, unterstützt von Heike Baller von der Kölner Leselust, Auszüge aus Dornröschen, wir müssen reden! mit viel Verve und Begeisterung vor.

Nina Bodenlosz: Dornröschen, wir müssen reden! Märchen, die sich neu erfunden haben. Hamburg, Tredition, 2018, 252 Seiten.
978-3-7469-6539-0 (e-Book; auch als Taschenbuch und gebundenes Buch erhältlich)


Genre: Märchen und Mythen