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Helenas Töchter

Unter Althistorikern gilt Mode- und Kostümgeschichte oft allenfalls als Nischenthema. Wie grundfalsch es jedoch ist, Kleidung, Accessoires und ihren raschen oder langsamen Wandel als bloße Oberflächlichkeit abzutun, zeigen Klaus Junker und Sina Tauchert in ihrem schönen, reich illustrierten Band Helenas Töchter. Frauen und Mode im frühen Griechenland.
Herstellung und Pflege von Textilien waren im alten Griechenland mit seiner ausgeprägten Geschlechterrollenverteilung ein zentrales Aufgabenfeld der Frauen. Doch Kleidung machte nicht nur Arbeit, sondern war auch ein unverzichtbares Element weiblicher Selbstdarstellung in einer Welt, die Frauen ansonsten abgesehen von bestimmten religiösen Funktionen nur wenige Möglichkeiten einräumte, sich öffentlich zu präsentieren und auszudrücken.
Weil Kleider in aller Regel die Jahrtausende gar nicht oder allenfalls fragmentarisch überdauern, ist zur Rekonstruktion der Mode der hier behandelten archaischen bis frühklassischen Zeit ein Rückgriff auf Text- und vor allem Bildquellen notwendig. Neben Vasenbildern, die gerade im früheren Teil der Epoche oft stark stilisiert und deshalb nur bedingt aussagekräftig sind, spielen Reliefs und Statuen eine große Rolle. Da Reste ihrer ursprünglichen Bemalung mit modernen Methoden wieder sichtbar gemacht werden können, geben sie nicht nur Aufschluss über die Art der Gewänder, sondern auch über Farbgebung, Muster und Ornamente.
Deutlich wird vor allem ein beharrlicher Grundzug, der im Vergleich zur heutigen Kleidung, aber auch zu der zeitgleicher Kulturen (etwa im alten Orient) überrascht: In der altgriechischen Mode wurde so wenig wie möglich genäht und kaum etwas zugeschnitten. Der wichtigste Herstellungsschritt war das Weben, bei dem gern schon Verzierungen eingefügt wurden; die Stoffbahnen drapierte man dann mithilfe von Gürteln und Gewandnadeln am Körper. Die so entstandenen Kleidergrundformen Chiton und Peplos existierten jahrhundertelang, wurden aber in Stoffqualität und Trageweise und mit allerlei Accessoires erstaunlich vielfältig variiert.
Einfluss auf die Mode hatten dabei nicht nur individuelle Vorlieben, obwohl auch sie immer wieder aufscheinen. Vielmehr waren auch kultureller Austausch und politische Situation von nicht zu unterschätzender Bedeutung. So zeigen Junker und Tauchert etwa am Beispiel der durch Fernhandel reich gewordenen Inselpolis Samos, wie ägyptische und kleinasiatische Vorbilder in der griechischen Damenmode abgewandelt wurden. Die Entwicklung in Athen dagegen zeigt die Abhängigkeit dessen, was als angemessene Kleidung galt, von der jeweiligen Herrschaftsform: Während man unter der Tyrannis der Peisistratiden versuchte, sich gegenseitig durch prunkvolle Gewänder, reichen Schmuck und üppige Frisuren zu übertrumpfen, wandelte sich die Mode mit dem Erstarken der Demokratie und des Gleichheitsgedankens grundlegend. Nun waren schlichtere Kleider aus oft ungemusterten Stoffen und unkompliziert hochgebundene Haare gefragt. Mit den Perserkriegen schließlich erreichten modische Anregungen aus dem Orient auch das griechische Festland: Plötzlich sind auch hier tunikaähnliche Kleidungsstücke mit langen Ärmeln nachweisbar.
Zur Ergänzung des spannenden Bilds, das sich aus den vielen akribischen Einzelbeobachtungen ergibt, hätte man sich nur zweierlei noch gewünscht: ein genaueres Eingehen auf die nur ganz am Rande erwähnte Fußbekleidung (oder ihr gelegentliches Fehlen) und einen Ausblick in die spätere Klassik und die hellenistische Zeit (für die allerdings die Quellenbasis dürftiger ist, wie die Autoren selbst erläutern). Ein wenig entschädigt für das Fehlen der weiteren antiken Entwicklung allerdings ein Exkurs, der auf die moderne Rezeption altgriechischer Kleidung eingeht, deren charakteristische Elemente Anfang des 20. Jahrhunderts der spanische Designer Fortuny mit dem Delphos-Kleid aufgriff.
Der schönste Schluss, den man aus der vergnüglichen und bereichernden Lektüre ziehen kann, ist also vielleicht der, dass sich die Beschäftigung mit der Antike nicht nur aus historischem Interesse lohnt, sondern auch reichlich ästhetische Inspiration zu bieten hat.

Klaus Junker, Sina Tauchert: Helenas Töchter. Frauen und Mode im frühen Griechenland. Darmstadt, Philipp von Zabern (WBG), 2015, 136 Seiten.
ISBN: 9783805348584


Genre: Geschichte, Kunst und Kultur