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Der Taucher von Paestum

Der sogenannte Taucher von Paestum – das aus dem 5. Jahrhundert v. Chr. stammende Bild eines jungen Mannes, der einen Kopfsprung ins Meer macht – gehört zu den lebendigsten und ansprechendsten Kunstwerken der griechischen Antike. Da es als Verzierung der Deckplatte im nach ihm benannten Grab des Tauchers in Paestum gefunden wurde, hat die Forschung oft versucht, in dem Gemälde symbolische Bezüge zu Tod und Sterben zu entdecken (etwa in der Form, dass der Sprung ins Wasser den Übergang ins Jenseits darstellen würde). Gegen solche Interpretationen wendet sich Tonio Hölscher in seinem elegant geschriebenen und sehr lesenswerten Buch Der Taucher von Paestum. Jugend, Eros und das Meer im antiken Griechenland.

Für Hölscher ist in dem Bild eine Szene aus dem Leben dargestellt, deren Übergangscharakter nicht etwa in einem Verlassen dieser Welt liegt, sondern im Alter des Kopfspringers, in dem er einen Epheben sieht, also einen Jüngling an der Schwelle zwischen Jugendzeit und Erwachsenenalter, wie er auch in dem erotisch aufgeladenen Gastmahl, mit dem die Wände der Grabkammer bemalt sind, mehrfach im Beisammensein mit reiferen Männern erscheint.

Im Zentrum der weiteren Betrachtung steht daher die Meeresküste als besonders mit diesem Lebensabschnitt verknüpfter Ort. Beim Bad im Meer (oder beim Sprung hinein) hatte man nicht nur die Möglichkeit, seinen Körper und seine athletischen Fähigkeiten unter Beweis zu stellen. Vielmehr bot der Aufenthalt am Meer oder an anderen Gewässern außerhalb der Stadt mit ihren festgefügten Regeln männlichen Jugendlichen und, wenn auch in weitaus geringerem Maße, jungen Mädchen die Gelegenheit zum Erleben einer Phase relativer Freiheit vor dem Eintritt in die Verpflichtungen der Erwachsenen.

Hinweise auf diese Verknüpfung zwischen Jugend und Meer finden sich nicht nur an ganz realen Orten (etwa in Form von Felsinschriften auf der Insel Thasos, die ältere Liebhaber oder Bewunderer für Jugendliche an der Küste hinterließen), sondern auch in der Vasen- und Grabmalerei sowie in Literatur und Mythos.  Zugleich ist in Bildern und Geschichten der Aufenthalt im oder am Meer oft mit Erotik oder ganz allgemein mit Sinnenfreuden verknüpft. So finden sich beispielsweise auch Vasenmalereien, die im Wasser mit aufgeblasenen Weinschläuchen spielende Satyrn oder einen wie ein Mensch auf einer Doppelflöte musizierenden Delphin zeigen.

Da anzunehmen ist, dass diese Assoziationen im 5. Jahrhundert auch in der damals griechischen Stadt Poseidonia (dem späteren Paestum) bekannt waren, schlägt Tonio Hölscher die Deutung vor, dass das Bild des Tauchers nicht als Todessymbol zu verstehen ist, sondern wie die Gemälde des Gastmahls dazu diente, dem Verstorbenen eine seiner gehobenen sozialen Stellung und seinem jugendlichen Alter angemessene Umgebung gewissermaßen mitzugeben – ebenso, wie ihm bestimmte charakteristische Gegenstände (Salböl und Leier) als Grabbeigaben ins Jenseits folgten.

Die darauf hinführende Argumentation wird essayistisch und beschwingt, von wissenschaftlicher Trockenheit weit entfernt, entwickelt. Wer allerdings an den Details von Hölschers Auseinandersetzung mit der bisherigen Forschung zum Thema interessiert ist, findet in der ausführlich kommentierten Bibliographie im Anhang alles Notwendige. Aber auch dann, wenn man sich dem Bild des jungen Kopfspringers nur von der Unmittelbarkeit der Darstellung angezogen nähert, ist Der Taucher von Paestum eine lohnende Lektüre, die einem keine konstruierte Interpretation aufdrängt, sondern das Kunstwerk in den Rahmen der Lebenswelt, in der es entstand, einzubetten versucht. Allen an der Antike Interessierten ist das Buch deshalb nur zu empfehlen.

Tonio Hölscher: Der Taucher von Paestum. Jugend, Eros und das Meer im antiken Griechenland. Stuttgart, Klett-Cotta, 2021,160 Seiten.
ISBN: 978-3-608-96480-6


Genre: Geschichte, Kunst und Kultur