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Raunächte

Nach vierzig Jahren kehrt Manfred, von schwerer Krankheit gezeichnet, in der Weihnachtszeit in seine Heimat im Reichstal im Schwarzwald zurück. Als alter Mann möchte er endlich seinen Bruder Sebastian wiedersehen, zu dem er keinen Kontakt mehr hatte, seit das einst enge Verhältnis an Neid und Eifersucht von Manfreds Seite zerbrochen ist. Während er sich, zunächst erfolglos, um ein Treffen bemüht, durchstreift er die winterlichen Wälder und erinnert sich zurück: an Minna, zu der beide Brüder sich hingezogen fühlten, an die Abenteuer der gemeinsamen Kindheit, an eine örtliche Sage über ein unglückliches Liebespaar und an abergläubische Vorstellungen, die sich zumal mit den Raunächten zwischen Weihnachten und Dreikönigstag verbinden. Doch je länger Manfred auf Sebastian wartet, desto stärker kristallisiert sich heraus, dass eigentlich nicht die angeblich um diese Jahreszeit umgehenden Dunkelbolde zu fürchten sind, sondern das, was Menschen einander und sich selbst antun können.

Raunächte von Urs Faes ist eine verstörende Erzählung, sprachlich schön und übervoll mit Versatzstücken alter Sagen, historischen Einzelheiten aus der weiteren Umgebung (so findet z. B. Johann Friedrich Oberlin Erwähnung) und zarten Naturschilderungen, denen man heimlich wünscht, in einer liebenswerteren und weniger deprimierenden Geschichte vorzukommen. Denn Manfred ist ein handfester Antiheld, und sensible Menschen, insbesondere Pferdefreunde, sollten um die Raunächte vielleicht lieber einen Bogen machen.

Trotz aller schockierenden und abstoßenden Elemente des Inhalts muss man aber einräumen, dass die Art, wie Urs Faes erzählt, gelungen ist und bis in die kleinsten Details bewusst wirkt. Schon die Namensgebung ist zielgerichtet: Während „Minna“ die Liebe evoziert, die sie in beiden Brüdern weckt, heißt das Pferd, das Manfreds Rachedurst zum Opfer fällt, „Amaro“, also „bitter“, und es ist gewiss auch kein Zufall, dass Sebastian den Namen eines der bekanntesten gemarterten Heiligen trägt. Ob ihn tatsächlich ein wirksamer Fluch seines Bruders getroffen hat oder nur aus ganz irdischer Ursache mehrere Leben zerstört worden sind, bleibt in der Schwebe, aber es fällt bei der Lektüre doch auf, dass überwiegend den Frauen zugeschrieben wird, mit dem Unheimlichen und Unheilbringenden durch Religion und Volksbräuche einen erträglichen Umgang zu finden, während die Männer, die zum Aberglauben vordergründig Distanz zu wahren suchen, das Böse mit Wucht im realen Leben aufflammen lassen.

Manfreds Wandeln in einem gespenstischen Wald der Kindheits- und Jugenderinnerungen wird von den Illustrationen von Nanne Meyer unterstrichen, die winterliche Bäume, die den Menschen klein werden lassen, mit Figuren kombiniert, die wie aus alten Fotos entnommen wirken. Ein Schaudern lässt sich da kaum vermeiden, und eine intensive Gesamtwirkung wird man dem Buch nicht absprechen können, auch wenn man sich gegen die Grausamkeit des Geschehens innerlich sträuben mag.

Urs Faes: Raunächte. 4. Aufl. Berlin, Insel, 2020, 84 Seiten.
ISBN: 978-3-458-19452-1


Genre: Erzählung