Das hier besprochene Buch ist der zweite Band einer Reihe.
Die Rezension des ersten Teils ist hier zu finden.
Der zweite Band der von Rudolf Simek und seinem Team neu übersetzten und herausgegebenen Sagas aus der Vorzeit – derjenigen im Hoch- und Spätmittelalter entstandenen Sagas also, die vor der Besiedlung Islands im 9. Jahrhundert spielen – umfasst die sogenannten Wikingersagas, Geschichten, in denen anders als in den Heldensagas überwiegend keine alten Sagenstoffe im Vordergrund stehen, sondern die oft, wenn auch nicht immer weit weniger tragisch ausgehenden Kämpfe, Plünderungszüge und Brautwerbungen abenteuerlustiger Protagonisten.
Den Anfang macht mit der Saga von Thorstein, Vikings Sohn gleich der vielleicht unterhaltsamste Text dieser Gattung. Der Titelheld Thorstein wird durch die Unbedachtheit seines Bruders in eine lange Rachefehde mit dem Königssohn Jökul verstrickt, der dank der Unterstützung des schurkischen Zauberers Ogautan wohl eindeutig im Vorteil wäre, könnte Thorstein seinerseits nicht auf die Hilfe eines dankbaren Zwergs und einer in Trollgestalt verwandelten Prinzessin zählen …
Thorsteins Sohn Fridthjof wiederum ist der Protagonist der relativ kurzen Saga von Fridthjof dem Kühnen, in der er sich um die Hand der Prinzessin Ingibjörg bemüht, deren Brüder aber einiges gegen diese Verbindung einzuwenden haben.
Durch größere Kontraste in Stimmung und Handlung geprägt ist Die Saga von Gautrek oder Saga von Gaben-Ref, in der sich einerseits Düsteres abspielt (so wird z.B. ein König als Menschenopfer an Odin dargebracht, und in einer Familie hat Selbstmord schon geradezu Tradition), andererseits aber auch eine schräg-humorvolle umgekehrte Hans-im-Glück-Geschichte mit einem listigen Jarl quasi in der Rolle eines gestiefelten Katers abläuft, verhilft er doch durch allerlei Winkelzüge dem titelgebenden Gaben-Ref dazu, sich immer wertvolleren Besitz zu ertauschen und gesellschaftlich aufzusteigen.
Die Saga von Hrolf, Gautreks Sohn dagegen stellt wieder das Brautwerbungsmotiv in den Vordergrund. Hrolf und weitere Männer in seinem Umfeld haben es auf Partnerinnen abgesehen, die es ihnen entweder selbst nicht leicht machen (wie etwa die kriegerische Thornbjörg) oder aber aus anderen Gründen nur unter zahlreichen Abenteuern zu erobern sind. Das sorgt für viele Kämpfe, aber auch für einige Situationskomik.
Schwärzer wird der Humor in der von einem Bauernsohn handelnden Saga von Ketil Lachs, denn dieser tötet auch schon einmal einen Spötter mit einem gut gezielten Fischwurf und ist auch sonst zu allen Handgreiflichkeiten bereit, um zu demonstrieren, dass diejenigen, die ihn unterschätzen, sich im Irrtum befinden.
Ketils Sohn Grim ist die zentrale Figur in der anschließenden kurzen Saga von Grim Zottelwange. Grim hat das Pech, dass seine zukünftige Frau kurz vor der Hochzeit spurlos verschwindet, und muss sich mit Trollen und Berserkern auseinandersetzen, bevor sein Leben doch noch eine glückliche Wendung nimmt.
Weitaus umfangreicher und auch tragischer ist Die Saga von Pfeile-Odd, die das Leben von Grims Sohn Odd schildert, der zwar ein großer Bogenschütze ist und im Laufe seiner Abenteuer mehrere Zauberpfeile erringt, aber zugleich mit einer unheilverkündenden Prophezeiung leben muss und sich in eine Dauerfehde mit dem schurkischen Ögmund verstrickt, die einen ganz anderen Ausgang nimmt, als man vielleicht erwarten könnte.
Zu Ketils Nachfahren zählt auch die Hauptfigur der Saga von An Bogenbieger, die das Motiv des unterschätzten und für dumm gehaltenen Jünglings aufgreift, der sich dann doch mit ungeahnter Schläue und äußerster Brutalität durchzusetzen weiß.
In der anschließenden Saga von Hromund, Greips Sohn ist es dagegen ein Grabraub (komplett mit Konflikt mit dem untoten Grabherrn), der sich als entscheidend für den Erfolg des Helden erweist.
Näher am Bereich der Heldensage als die anderen Texte des Buchs ist die letzte enthaltene Geschichte, Die Saga von Asmund Heldentöter, wird doch der darin auftretende Antagonist namens Hildibrand in der Forschung oft mit dem Hildebrand des Hildebrandslieds in Verbindung gebracht (wobei die fiktiven Biographien der beiden Gestalten allerdings merkliche Unterschiede aufweisen). Bevor er Hildibrand gegenübersteht, erlebt der Protagonist Asmund jedoch schon zahlreiche andere Kampfabenteuer.
Allen hier versammelten Wikingersagas ist gemeinsam, dass sich an ihnen klarer als bei den Heldensagas des ersten Teils die Spielregeln der Gattung, der sie angehören, ablesen lassen, wird doch deutlich, wie stark die Verfasser immer wieder aus einem bestimmten Motiv- und auch Namensrepertoire schöpften, um unterhaltsame literarische Abenteuer zu schaffen. An manchen Stellen kann man sich dabei auch fragen, ob den Autoren die antike Sagenwelt vertraut war, denn es finden sich hier und da Anklänge, so z.B. an Odysseus‘ Aufenthalt in der Höhle des Polyphem oder an den Tod des Orest. Diesen Einzelheiten nachzuspüren, macht Vergnügen, aber auch ansonsten sind die Geschichten mit ihrer Mischung aus Dramatik, immer wieder aufblitzendem Humor und gelegentlicher Derbheit heute durchaus noch lesenswert.
Wie bereits im ersten Band liegt auch mit diesem zweiten Teil der Sagas aus der Vorzeit eine zugängliche, moderne Leseausgabe vor, die dank knapper Einleitungen, Glossar und einer dem Weltbild der Sagas angepassten Landkarte die Geschichten allgemeinverständlich erschließt.
Rudolf Simek, Jonas Zeit-Altpeter, Valerie Broussin (Hrsg. unter Mitwirkung von Maike Hanneck): Sagas aus der Vorzeit. Band II: Wikingersagas. Stuttgart, Alfred Kröner Verlag, 2020, 448 Seiten.
ISBN: 978-3-520-61401-8