Ob nun verehrt oder verhasst, Karl Marx ist heute im öffentlichen Bewusstsein oft eher als Symbolfigur präsent denn als reale historische Gestalt mit allen Licht- und Schattenseiten. Es ist aber gerade der Mensch Karl Marx, dem sich Uwe Wittstock in Karl Marx in Algier auf originelle Art zu nähern versucht. Bedauerlich ist dabei, dass das bereits 2018 zum ersten Mal erschienene Buch in seiner überarbeiteten Neuauflage seinen Originaltitel Karl Marx beim Barbier eingebüßt hat, denn ein wenig zurechtgestutzt wird Marx dieser Mischung aus Biographie und Reiseerzählung durchaus.
Zum Ausgangspunkt nimmt Wittstock dabei die Monate, die Karl Marx im Frühjahr 1882, ein Jahr vor seinem Tod und bereits schwer lungenkrank, in Algier verbrachte, das damals bei Europäern als klimatisch geeigneter Kurort für solche Leiden galt, eine Zeit, die er eigentlich zu einer Überarbeitung des Kapitals nutzen wollte, die dann gesundheitsbedingt doch nicht zustande kam. In wechselnden Kapiteln werden detailliert dieser Algerienaufenthalt und überblicksartiger Marx’ Leben und die Genese seines Werks geschildert. In der Auseinandersetzung mit seinem Denken ist Wittstock dabei nicht unkritisch, obwohl er Marx auch abseits der politischen Wirkmacht, die seine Ideen entfalten sollten, das unbestreitbare Verdienst zubilligt, die Geschichtswissenschaft für die Bedeutung ökonomischer Zusammenhänge sensibilisiert und die daraus resultierenden sozialen Probleme klar erkannt zu haben.
Wie auch in seinen die jüngere Vergangenheit behandelnden Büchern Februar 33 und Marseille 1940 erweist Wittstock sich dabei als großer Verlebendiger, der Wetter und Topographie Algiers ebenso greifbar heraufzubeschwören weiß wie die unter anderem durch seine regen Briefwechsel gut nachzuvollziehende innere Welt seines Protagonisten. Ein Heldenbild wird bei allem Einfühlungsvermögen aber aus seiner Darstellung von Marx wahrlich nicht, denn dieser hatte auch über verzeihliche menschliche Fehler und Schwächen hinaus widersprüchliche und negative Züge, sei es nun, dass er, ganz nach Herrenart, mit seinem Hausmädchen einen unehelichen Sohn zeugte, um den er sich dann nicht weiter kümmerte, oder dass er, obwohl selbst jüdischer Abstammung, einen auch für die Verhältnisse des diesbezüglich nicht gerade zimperlichen 19. Jahrhunderts extremen Antisemitismus pflegte und auch gegen Schwarze (übrigens einschließlich eines seiner eigenen Schwiegersöhne, der teilweise kubanischer Abstammung war) Vorurteile hegte, die aus heutiger Sicht fassungslos machen. Selbst wenn man sich schon mit Marx beschäftigt hat, erfährt man auf dieser persönlichen Ebene hier noch neue Details, da Wittstock als Quellen unter anderem auch noch unveröffentlichte Briefe nutzen konnte.
Während in den biographisch orientierten Kapiteln also immer wieder auch unangenehme Überraschungen warten, zeigen die den Wochen in Algier gewidmeten Teile einen nachdenklicheren, verletzlicheren Marx, der sich ebenso mit dem nicht lange zurückliegenden Tod seiner Frau wie mit den eigenen Gebrechen auseinandersetzen musste und wohl auf manches noch einmal eine andere Perspektive entwickelte als in jüngeren, arroganteren Jahren. Sinnbildlich dafür lässt Wittstock nicht zuletzt auch die Episode stehen, der das Buch seinen ursprünglichen Titel verdankt: Nachdem er sich ein letztes Mal mit seinem charakteristischen Rauschebart hatte fotografieren lassen, begab Marx sich kurz vor seinem Aufbruch aus Algier zu einem Barbier, um sich rasieren und die Haare schneiden zu lassen, und war so auf der Rückreise nach Europa zumindest äußerlich ein stark veränderter Mensch. Das passt recht gut dazu, das auch das Bild, das man sich von ihm macht, sich mit der Lektüre von Karl Marx in Algier wandelt und immer mehr von den vertrauten Klischees und Assoziationen löst.
Uwe Wittstock: Karl Marx in Algier. Leben und letzte Reise eines Revolutionärs. München, C. H. Beck, 2025, 256 Seiten.
ISBN: 978-3-406-83072-3