Buchtipps zu Leonardo da Vinci

Leonardo da Vinci (1452-1519) gehört zu den interessantesten Persönlichkeiten nicht allein der Renaissance, sondern vielleicht aller Zeiten: Seine Kunstwerke, seine naturwissenschaftlichen Forschungen, seine Erfindungen und nicht zuletzt auch sein unangepasster Charakter, der ihn trotz aller Erfolge immer wieder in Konflikte mit Auftraggebern geraten ließ und in mancherlei Hinsicht vielleicht auch innerlich einsam machte, faszinieren bis heute. Die Fülle der Literatur zu einer Ausnahmeerscheinung wie ihm lässt sich kaum überblicken; was folgt, ist also keine umfassende Liste von Leonardo-Biographien, sondern ein kurzer Überblick über vier besonders lesenswerte Titel.

1. Martin Kemp: Leonardo. C. H. Beck 2005, 311 Seiten.
ISBN: 3406534627

Der renommierte Kunsthistoriker Martin Kemp gilt als einer der Leonardo-da-Vinci-Experten schlechthin. Seinem Fach gemäß steht bei ihm Leonardo als Künstlerpersönlichkeit im Vordergrund, deren Leben in einem relativ kurzen Überblick (und im Anhang noch einmal tabellarisch) abgehandelt wird, bevor Kemp sich dem zeichnerischen und malerischen Werk unter verschiedenen thematischen Aspekten zu nähern versucht: So geht es etwa um das Sehen, die Beschäftigung mit Körpern und Maschinen und mit der belebten Welt allgemein, aber auch um narrative Elemente in Bildern. Dabei kommen Leonardos naturwissenschaftliche Interessen und seine Erfindungen zwar nicht zu kurz, aber Fluchtpunkt sind und bleiben das ganze Buch hindurch seine Kunstwerke, insbesondere seine Gemälde, die im Anhang auch noch einmal in einer Übersicht zusammengestellt sind. Leonardos Charaktermerkmale und Forschungsinteressen werden dementsprechend vor allem auf ihren Niederschlag in seiner Arbeit als Zeichner und Maler hin überprüft. Auf diese Weise erfährt man vieles über Leonardos Art des Sehens, seine künstlerischen Techniken und die mentalitätsgeschichtlichen Zusammenhänge, in denen seine Bilder stehen, darf aber nicht auf allzu detaillierte biographische Informationen hoffen.

 

2. Charles Nicholl: Leonardo da Vinci. Die Biographie. Fischer Taschenbuch Verlag 2009, 752 Seiten.
ISBN: 978-3596169207

Der Untertitel ist Programm: Charles Nicholl zeichnet Leonardos Leben quellennah chronologisch und um äußerste Genauigkeit bemüht nach und stellt auch sein soziales und historisches Umfeld erschöpfend dar. Familie, Lehrmeister, Werkstattangehörige, Auftraggeber und Bekannte werden in allen Einzelheiten präsentiert, so gut es die Quellen irgend gestatten, so dass ein sehr lebendiges Panorama von Leonardos Welt und Zeit entsteht. Minutiös wird abgehandelt, mit welchen Projekten sich Leonardo in bestimmten Phasen befasste, an welchen Orten er lebte und welche Kontakte und Einflüsse dort auf ihn wirkten. Immer wieder zitiert Nicholl auch aus Leonardos eigenen Schriften, die verblüffend persönliche Einblicke gestatten (sei es, dass der Meister sich bitter über das Verhalten seines Schülers, Mitarbeites und womöglich auch Geliebten Salaì beklagt, sei es, dass er darauf hinweist, seine Notizen nun abbrechen zu müssen, weil die Suppe kalt wird).
Manchmal schießt dieser Versuch, den ganzen Menschen Leonardo zu erfassen, etwas über das Ziel hinaus (wenn Nicholl sich etwa in recht spekulativen Überlegungen zu Zusammenhängen zwischen Leonardos Interesse an Vögeln und am Fliegen allgemein und seinem möglicherweise schwierigen Verhältnis zu seiner Mutter ergeht), aber für diese Abschweifungen in unsichere Gefilde entschädigen die Fülle an Sachinformationen und der reiche Schatz von Abbildungen, die nicht nur Leonardos eigene Kusntwerke zeigen, sondern auch Gebäude und Personen fassbar machen, mit denen er zu tun hatte. Wer auf der Suche nach einer Leonardo-Biographie im klassischen Sinne ist, findet in diesem Buch wohl das kompletteste Lebensbild.

 

3. Stefan Klein: Da Vincis Vermächtnis oder wie Leonardo die Welt neu erfand. Fischer Taschenbuch Verlag 2009, 336 Seiten.
ISBN: 978-3596178803

Einen ganz anderen Ansatz verfolgt der Biophysiker und Wissenschaftspublizist Stefan Klein, der Leonardo vor allem als Forscher und Erfinder in den Mittelpunkt stellt und seine Kreativität nicht auf die Kunst allein reduziert, sondern Neugier und überbordenden Einfallsreichtum in allen Gebieten seines Wirkens gespiegelt sieht. Kleins Buch schärft das Bewusstsein dafür, dass Leonardo von vielen seiner Zeitgenossen gar nicht primär als Maler gesehen, sondern aufgrund seiner anderen Talente geschätzt wurde. Darüber hinaus enthält es zahlreiche interessante Überlegungen zum Denken und zur Auseinandersetzung mit der Welt allgemein, die über Leonardo hinausverweisen und auch heute noch relevante Themen berühren (so etwa die These, dass eine geordnete und streng zweckgebundene Schulbildung, wie sie Leonardo fehlte, Universalgenies vielleicht eher verhindert als schafft). Was hier geboten wird, ist also weniger eine typische Biographie ans eine Einladung, sich Leonardo in mancherlei Hinsicht zum Vorbild zu nehmen und sein Leben und Denken auf die Moderne zu beziehen.

 

4. Ross King: Leonardo und das letzte Abendmahl. Knaus 2014, 448 Seiten.
ISBN: 978-3813503425

Ross King hat schon mehrere Bücher über die italienische Renaissance veröffentlicht und lässt sein breites Wissen über diese Zeit auch in sein Werk über Leonardo einfließen. Der Titel täuscht ein wenig, denn während das berühmte Abendmahlsgemälde tatsächlich einen Schwerpunkt der Betrachtung bildet, ist das Buch zugleich eine recht umfassende Leonardo-Biographie und in einem dritten Strang eine Auseinandersetzung mit Aufstieg und Fall der Sforza in Mailand, unter deren Herrschaft das Bild entstand und in deren Repräsentationskonzept es einzuordnen ist. Gelegentlich merkt man King dabei an, dass er nicht nur Sachbuchautor ist, sondern seine literarische Karriere eigentlich als Romancier begonnen hat, denn statt durchgängig wissenschaftliche Distanz zu wahren, setzt er oft eher auf den Charme der Anekdote oder die Einprägsamkeit starker Bilder. Das führt hier und da zu einem eher undifferenzierten Urteil (wie dem, dass Leonardo als Genie der Welt ein großes Werk „geschuldet“ habe), sorgt aber zusammen mit manch humorvoller Formulierung auch dafür, dass Leonardo und das letzte Abendmahl sich von allen Büchern auf dieser Liste vielleicht am Unterhaltsamsten liest und sicher den lockersten Zugang zu Künstler und Epoche ermöglicht.

Sobald man mehr als ein Buch über Leonardo da Vinci gelesen hat, wird eines übrigens schnell deutlich: Mehr noch als bei anderen historischen Gestalten gibt es den einen „wahren“ Leonardo nicht, und das nicht nur, weil es wahrscheinlich ein Universalgenie von seinem Kaliber erfordern würde, seine breitgefächerten Kenntnisse, Fähigkeiten und Interessen wirklich umfassend und ausgewogen zu würdigen. Zu umstritten sind aufgrund der schwierigen Quellenlage auch schon ganz banale Einzelheiten (so etwa die soziale Stellung seiner Mutter Caterina, die ihn als uneheliches Kind zur Welt brachte – war sie eine toskanische Bäuerin oder eine Sklavin nahöstlicher Herkunft?). Doch gerade, weil manches wohl für immer Konjektur oder Spekulation bleiben muss, lohnt sich die Auseinandersetzung mit den zahlreichen unterschiedlichen Ansätzen, deren Schnittmenge vielleicht näher an die historische Wirklichkeit führt, als eine einzelne Perspektive es je könnte.


Genre: Biographie