Der letzte Lesestoff-Beitrag liegt schon ein halbes Jahr zurück. Höchste Zeit also, einen Blick in mein aktuelles Buch Oktoberperlen zu werfen, und zwar in einen kleinen Rückblick daraus, der – passend zum derzeitigen Wetter – an einem heißen Sommertag spielt, an dem sich der Koch und frühere Krieger Wulf und der etwas angeschlagene ehemalige Spion Ivar miteinander anfreunden.
Wolf und Wiesel
(Oktoberperlen, S. 19-21)
Gleich zu Beginn von Ivars neuem Leben, als er bei aller Dankbarkeit dafür bisweilen verunsicherter gewesen war, als er es nach außen hin je eingestanden hatte, war Wulf nämlich in einem Augenblick der Ruhe nach einem langen Kanzleimorgen zu ihm in den Garten gekommen und hatte eine dampfende Teeschale mit einem Gebräu, zu dem außer dem zu erwartenden Tee noch Apfelwein und das starke Sanddornzeug, das man hier an der Küste bekommen konnte, gehörten, auf dem flachen Stein unter dem Apfelbaum abgestellt.
»Trinkt das, Ihr seht aus, als ob Ihr es nötig habt«, hatte er gesagt und vermutlich weder das gebrochene Handgelenk noch den verstauchten Fuß, die Ivar damals geplagt hatten, gemeint. »Die Mischung hilft gegen alles, und mit dem Sanddorn ist sie noch besser, als sie unten in Aquae mit gewöhnlichem Branntwein war.«
Ivar hatte artig gedankt, sich aber gehütet, gleich allzu begierig nach der unverhofften Gabe zu greifen. »Warum tut Ihr das für mich?«, hatte er stattdessen gefragt, und wäre es nicht eben einer jener ersten sonderbaren Tage gewesen, hätte er es wohl unausgesprochen gelassen, aber in der lastenden Mittagshitze, die selbst in den Apfelbaumschatten drang, war seine Neugier stärker gewesen als seine Vernunft.
Wulf hatte seinen Blick ruhig erwidert. »Ich weiß doch, wie es ist.«
Wie es war, äußerlich wie innerlich wund aus einer ungerechten Haft zurückzukommen und gleich wieder auf den Beinen sein zu müssen, wusste er in der Tat, aber das war es nicht gewesen, worauf Ivars Frage abgezielt hatte.
»Das wisst Ihr, ja«, hatte er am Ende gesagt, »also noch einmal mit besserer Betonung: Warum tut Ihr das für mich? Glaubt nicht, dass ich nicht mitbekommen habe, dass Ihr mich ein Wiesel nennt, wenn Ihr hofft, dass ich es nicht höre.«
Wulf hatte es nicht geleugnet, sondern nur die Teeschale auf dem Stein ein wenig näher an Ivar herangeschoben. »Ist Euch dabei denn nie in den Sinn gekommen, dass ein Wiesel zwar bissig und einigermaßen tödlich sein mag, wie Euch jede Maus bestätigen wird, aber zugleich recht unterhaltsam zu beobachten und liebenswert ist? Wenn ich beleidigend hätte werden wollen, hätte das ganz anders geklungen.«
Ivar wusste bis heute nicht, ob das nur schlagfertig oder vollkommen ernst gemeint gewesen war, aber es hatte ihn halb gegen seinen Willen zum Lachen gebracht, und dass Wulf mitgelacht hatte, war eine Grundlage gewesen, den ganzen langen Sommer über und auch den Herbst hindurch im Gespräch zu bleiben und irgendwann füreinander zu »Du, Wulf« und »Du, Ivar« zu werden