Denisova

In der Altsteinzeit durchstreiften Neandertaler und frühe moderne Menschen die Welt, Erstere starben aber irgendwann aus, so dass nur noch wir übrig blieben – so lässt sich vereinfacht das Bild zusammenfassen, das man lange landläufig von der Urgeschichte hatte. Erst 2010 erkannte man, dass mit den sogenannten Denisova-Menschen oder Denisovanern noch eine dritte Menschenart zur selben Zeit lebte. Anders als für prähistorische Funde typisch, waren für die Bestimmung der neuen Art keine morphologischen Beobachtungen an Fossilien ausschlaggebend: Vielmehr war es die genetische Analyse eines optisch nicht weiter auffälligen Fingerknochens aus der namensgebenden Denisova-Höhle durch das Leipziger Forschungsteam des vor allem für die Entschlüsselung des Neandertaler-Genoms berühmt gewordenen Svante Pääbo. Damit nicht genug: Ebenso, wie sich in heutigen Europäern einige Neandertalergene nachweisen lassen, haben Denisovaner-Gene in Asiaten überdauert. Ganz verschwunden ist auch der Denisova-Mensch also nicht, obwohl er so lange vergessen war.

Die Paläoanthropologin Silvana Condemi und der Journalist François Savatier schildern in Denisova. Die Entdeckung einer neuen Menschenart nicht nur diesen wissenschaftlichen Erfolg, sondern zeichnen auch ganz allgemein die urzeitliche Besiedlung Asiens durch mehrere Wellen früher Menschen und die durch die insbesondere in den tropischen Regionen des Kontinents schwierigen Erhaltungsbedingungen für Fossilien alles andere als einfache Erforschung dieser prähistorischen Vorgänge nach, um dann schließlich ein Bild des Denisova-Menschen selbst und seiner Umgebung (die sich beileibe nicht nur auf den Altai, wo die ersten Funde gemacht wurden, beschränkte) zu entwerfen und Überlegungen anzustellen, welche bisher noch nicht genetisch untersuchten Fossilien womöglich ebenfalls Denisovanern zuzuordnen sind und so die eher schmale Fundbasis, die von dieser Menschenart zeugt, beträchtlich erweitern könnten.

Apropos Menschenart: Den beiden gelingt es in ihrem von Anna und Wolf Heinrich Leube angenehm übersetzten Buch dabei auch, Kompliziertes und aus Laiensicht erst einmal ziemlich Widersprüchliches allgemeinverständlich zu erläutern, so etwa, dass zwar heute meist das von Ernst Mayr geprägte Artkonzept der biologischen Art als Gemeinschaft, die sich untereinander fortpflanzen und fruchtbare Nachkommen zeugen kann, zur Abgrenzung einer Spezies angewandt wird, Homo sapiens, Neandertaler und Denisovaner, die genetisch nachweisbar in der Lage waren, miteinander fruchtbare Nachkommen zu zeugen, aber dennoch nicht als Unterarten einer einzigen Menschenart (wie sie es eigentlich nach dieser Definition sein müssten), sondern als drei getrennte Menschenarten gelten, weil bei der Bestimmung prähistorischer Arten eine rein morphologische Artdefinition zur Anwendung kommt – nicht zuletzt auch, weil bis zu den Fortschritten der Genetik in den letzten Jahrzehnten  ja überhaupt keine Möglichkeit bestand, bei ausgestorbenen Arten nach anderen Kriterien als dem äußeren Anschein zu entscheiden.

Auch sonst erfährt man viel Interessantes, manchmal sogar Amüsantes über die Tücken der Forschung, mag es nun um die verheerende Wirkung von Hyänen auf Knochen und deren spätere Untersuchbarkeit gehen oder um chinesische Bemühungen, zum Ruhm des eigenen Landes eine Entstehung des Menschen in China, nicht in Afrika, nachzuweisen.

Zusätzlichen Reiz gewinnt das Buch durch die sehr schönen Rekonstruktionszeichnungen von Benoit Clarys, die, teilweise als „Porträts“ konkreter Funde, Lebensbilder von Denisovanern und anderen frühen Menschen präsentieren und dabei dankenswerterweise auf das leider bis heute verbreitete Klischee der Urgeschichte als Musterbeispiel einer brutalen, ausschließlich von Jagd und Kampf geprägten Männerwelt verzichten. So zeigt eine Illustration, die alle drei Menschenarten darstellen soll, eine friedliche Runde aus drei Frauen (jeweils eine Neandertalerin, eine Homo-Sapiens-Frau und eine Denisovanerin), den von zweien von ihnen auf dem Rücken getragenen Babys und einem etwas größeren Kind, begleitet von der Bildunterschrift, die drei Menschenarten hätten „sich bestimmt gefreut, einander kennenzulernen“ (S. 66) – ein sympathisch positiver und optimistischer Blick darauf, dass zwischenmenschliche Kontakte eben nicht immer gleich identisch mit Konflikten sein müssen, sondern auch freundliche Szenarien denkbar sind.

Dementsprechend viel Freude macht dieser Ausflug in ferne Zeiten, obwohl oder gerade weil noch viele Fragen über die Denisova-Menschen offen sind.

Silvana Condemi, François Savatier: Denisova. Die Entdeckung einer neuen Menschenart. München, C. H. Beck, 2025, 256 Seiten.
ISBN: 978-3-406-82697-9


Genre: Geschichte, Sachbuch allgemein