Unmittelbar vor dem Beginn der Totenmesse für den hochbetagt gestorbenen Léon Le Gall in Notre-Dame tritt eine der versammelten Familie fremde alte Dame an den Sarg und gibt dem Toten eine Fahrradklingel mit auf die letzte Reise. Eine völlig Unbekannte ist die Frau allerdings nicht: Schnell ahnen alle, dass es sich um Léons langjährige Geliebte Louise Janvier handeln muss. Ihr denkwürdiger Auftritt auf der Trauerfeier ist Grund genug für einen von Léons zahlreichen Enkeln, sich auszumalen, wie die Liebesgeschichte der beiden verlaufen sein muss, und so erfährt man, dass Léon und Louise sich schon an der Schwelle zum Erwachsenwerden in der französischen Provinz kennenlernen, bevor sie im Ersten Weltkrieg unter dramatischen Umständen voneinander getrennt werden. Als sie sich Jahre später in Paris wiedersehen, ist Léon längst mit einer anderen verheiratet, und so scheint ihre Liebe keine Zukunft zu haben. Doch die Verwerfungen des Zweiten Weltkriegs lassen vieles noch einmal in einem ganz neuen Licht erscheinen …
Es ist die Erzählsituation, die den Roman Léon und Louise von Alex Capus zu etwas Besonderem macht, denn dadurch, dass Léons Enkel als Ich-Erzähler Ereignisse zu rekonstruieren versucht, über die er nur aus Erzählungen und Briefen spärliche Informationen hat, die er mit eigenen Schlüssen und Spekulationen anreichert, ergibt sich gewissermaßen eine Staffelung potenziell unzuverlässiger Erzähler. So eindringlich manche Szene auch geschildert sein mag, der Illusion, dass man in diesem Buch die (fiktive) Wahrheit über Léon und Louise erfährt, wird damit von vornherein ein Riegel vorgeschoben.
Das, was vielleicht gewesen sein könnte, ist aber darum nicht weniger lesenswert, denn über die reine Liebesgeschichte hinaus wird ein Bild Frankreichs in den ersten beiden Dritteln des 20. Jahrhunderts entworfen. Die Protagonisten können ihrer Zeit nicht entkommen und setzen sich dennoch phasenweise auch kritisch damit auseinander, sei es nun, dass Léon im deutsch besetzten Paris bei seiner Arbeit für die Polizei erkennen muss, dass man selbst mit den besten Absichten im Kleinen in die Kollaboration abrutschen kann, oder dass Louise, die es zur selben Zeit nach Mali (bzw. in den damaligen Soudan français) verschlägt, sich die Frage stellt, ob die dort als brutale Kolonialherren auftretenden Franzosen sich den zu Recht verhassten Deutschen wirklich getrost moralisch überlegen fühlen können.
Trotz dieser ernsten Untertöne und der präzisen Beobachtungen menschlicher und allzumenschlicher Verhaltensweisen geht es in Léon und Louise aber immer wieder auch um die großen und kleinen Freuden des Lebens, von kulinarischen Genüssen über Rad-, Auto- und Bootstouren bis hin zur Liebe, die sich zwar vielleicht nicht in die gesellschaftlichen Konventionen einpassen lässt, aber doch bis über den Tod hinaus anhält. Das alles ist in eine sprachlich schöne Form gegossen, bei der manche Formulierung lange nachhallt und auch der Humor nicht zu kurz kommt. So ist es von Anfang bis Ende ein Lesevergnügen, das Protagonistenduo durch Höhen und Tiefen eines (außer-)gewöhnlichen Lebens zu begleiten.
Alex Capus: Léon und Louise. München, DTV, Sonderausgabe 2021 (Original: 2011), 320 Seiten.
ISBN: 978-3-423-14810-8