Jäh werden die drei Söhne der kalabrischen Bauernfamilie Arcuri aus ihrem vergnügten Planschen in einem Tümpel gerissen: Schüsse und Schreie ertönen aus dem nahen Obstgarten, in dem ihre Mutter arbeitet, und obwohl diese die hinzueilenden Kinder rasch wegzuführen versucht, kann sie nicht verhindern, dass der mittlere Sohn Arturo einen Blick auf zwei Tote erhascht.
Mit diesem Paukenschlag setzt Carmine Abates Der Hügel des Windes ein, aber nicht etwa eine linear erzählte Handlung. Vielmehr entpuppt sich die schockierende Szene rasch als Teil dessen, was Arturos Sohn Michelangelo in hohem Alter seinem eigenen Sohn, dem Ich-Erzähler Rino, aus der bewegten Familiengeschichte berichtet, die vom Vorabend des Ersten Weltkriegs durch die politischen Verwerfungen des 20. Jahrhunderts bis fast in die Gegenwart führt.
Rino ist zwar als Lehrer beruflich in die Fußstapfen des Vaters getreten, lebt aber inzwischen im Trentin und ist dem heimatlichen Kalabrien geographisch wie innerlich oft sehr fern. Dafür, dass Michelangelo ihm das Versprechen abnimmt, die Erinnerungen seiner Vorfahren an die noch nicht einmal geborene nächste Generation der Familie weiterzugeben, hat er genauso wenig Verständnis wie für den Entschluss seines verwitweten Vaters, in eine Hütte auf dem titelgebenden Hügel umzuziehen, dem sogenannten Rossarco, unter dem die antike Stadt Krimisa vermutet wird.
Neben dem ständigen Kampf der Familie um den Schutz ihres Landbesitzes gegen die oft kurzsichtigen wirtschaftlichen Interessen anderer wird daher die zunächst einmal vergebliche Suche der Archäologen (darunter historische Persönlichkeiten wie Paolo Orsi) zu einem der roten Fäden, entlang derer sich die Geschichte entspinnt. Die örtliche Bevölkerung sieht die Grabungskampagnen erst einmal skeptisch, denn wissenschaftliche Neugier fehlt ihr größtenteils, ebenso auch die Bereitschaft, die langgeübte Praxis aufzugeben, mit Zufallsfunden nach Belieben zu verfahren. Ganz anders verhält es sich mit Michelangelo, der als Erster in der Familie eine Chance auf Bildung bekommt und später die Archäologin Marisa heiratet: Tief in der bäuerlichen Tradition verwurzelt wird er dennoch zum Suchenden, der in der Auffindung Krimisas bald seinen Lebenstraum sieht.
Das wiederholt hervorgehobene Rot des von Süßklee bewachsenen Hügels gemahnt dabei fast leitmotivisch sowohl an die tragischen bis glücklichen Liebesgeschichten, deren Schauplatz er wird, als auch an die entsetzlichen Bluttaten, zu denen es dort mehrfach kommt. Auch darüber hinaus liefert die schwelgerisch in Ansichten, Düften und Geräuschen heraufbeschworene Natur eindringliche Bilder: So wird die seltene Albinoschwalbe zum Symbol für die unangepassten Arcuris, die sich immer wieder erfolgreich, aber oft um einen hohen Preis gegen scheinbar Unvermeidliches zu sperren wissen.
Der Zauber, den die auch sprachlich sehr schönen, alle Sinne ansprechenden Landschaftsbeschreibungen und das Geheimnis um das sagenumwobene Krimisa entfalten, steht in scharfem Kontrast zu den düsteren und deprimierenden Zügen, an denen die Handlung ebenso reich ist: Bittere Armut, soziale Ungleichheit, Krieg, Kriminalität und Habgier sorgen dafür, dass die Natur und das kulturelle Erbe allzu häufig mit Füßen getreten werden.
Umso berührender und befriedigender ist es, dass es Abate gelingt, seinen Roman zu einem ebenso glaubhaften wie tröstlichen Ende zu führen, das nicht nur Archäologieinteressierte begeistern dürfte und zu der überfälligen Wiederannäherung zwischen Michelangelo und Rino führt.
Diese Stimmigkeit ist gerade deshalb erwähnenswert, weil der Autor in seinem Nachwort erläutert, nicht nach einem festgelegten Plan zu arbeiten, sondern sich selbst so wichtige Details wie die gleichwohl überzeugende, ja geradezu zwingende Auflösung des eingangs geschilderten Mords erst beim Schreiben einfallen zu lassen. In der Schlussbemerkung finden sich auch Informationen über die Inspirationsquellen, die von Abates eigener Familiengeschichte bis zu historischen und archäologischen Sachtexten reichen. Der Brückenschlag zurück in die Realität lässt einen die gelungene Fiktion noch einmal mit ganz anderen Augen sehen und belegt, wie sehr Der Hügel des Windes trotz aller Einbeziehung negativer Züge auch eine Liebeserklärung an eine geschichtsträchtige Region ist.
Carmine Abate: Der Hügel des Windes. Berlin, Aufbau Taschenbuch, 2015, 314 Seiten.
ISBN: 978-3746631004