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Unter Briten

Christoph Scheuermann war von 2012 bis 2017 Großbritannienkorrespondent für den SPIEGEL. Seine in dieser Zeit insbesondere in England und Schottland gemachten Erfahrungen präsentiert er in Unter Briten, einer Sammlung von fünfundzwanzig kleinen Reportagen über Begegnungen mit verschiedenen Menschen.
Die Auswahl an Interviewten oder auch nur Beobachteten ist dabei buntgemischt: Von Prinz Charles geht es über Prominenz wie Boris Johnson (zum Zeitpunkt des Treffens noch Bürgermeister von London), die Schauspielerin Tilda Swinton und den Schriftsteller John le Carré bis hin zu Normalbürgern aller Schichten. Eton-Schüler und junge Konservative stehen hier neben einer Callcentermitarbeiterin, einem LKW-Fahrer oder einem Pfandleiher samt seiner weit unten in der Gesellschaft angekommenen Kundschaft. Auch viel Exzentrisches wird geschildert: Verarmte Landadlige als Stars einer Reality-TV-Sendung sind ebenso vertreten wie die Mitglieder einer eher schrägen Untergrundband oder UFO-Gläubige, die schon der Entführung durch missgünstige Aliens entronnen sein wollen. Nicht nur deshalb ist der Unterhaltungswert von Unter Briten durchgängig hoch. Scheuermann schreibt geistreich, humorvoll und oft auch ein wenig selbstironisch, und die kurzen Kapitel bieten sich auch als Lektüre für zwischendurch an, da sie sich problemlos einzeln lesen lassen.
Dennoch würde es dem Buch nicht gerecht werden, wollte man in ihm nur eine Serie vergnüglicher bis berührender Artikel sehen. Kaleidoskopartig ergibt sich aus ihnen nämlich Stück für Stück eine Art Psychogramm der britischen Seele.
Eine tiefergehende Analyse bietet die Sammlung von Momentaufnahmen natürlich nicht, aber dennoch kristallisieren sich im Laufe der Lektüre bestimmte Züge heraus, die Großbritannien allgemein zu prägen scheinen und Entwicklungen wie den Brexit bis zu einem gewissen Grade erklären. So unterschiedlich die porträtierten Menschen auch sind, bei vielen von ihnen wird eine tiefe Sehnsucht nach vermeintlich besseren früheren Zeiten erkennbar, die – je nach sozialer Herkunft und individueller Situation – vielleicht nur ein paar Jahrzehnte, vielleicht aber auch fünfhundert Jahre zurückliegen. Die Bandbreite reicht dabei von verständlicher Unzufriedenheit mit der Gegenwart (wie z.B. im Falle von Bergleuten, die durch Zechenschließungen ihre Arbeit verloren haben) über harmlose Nostalgie bis hin zu weit verstörenderen Sichtweisen, die der Kolonialherrschaft oder der Gelegenheit, zum Kriegshelden zu werden, nachtrauern. Sieht man diese Tendenzen in Verbindung mit der auch immer wieder aufscheinenden Neigung, die eigene Insellage zu betonen und einen gewissen Stolz auf die kulturelle Abgrenzung von Kontinentaleuropa zu empfinden, beginnt man zu ahnen, warum die EU-Skepsis gerade in diesem Land so einen fruchtbaren Nährboden fand, dass es zum Austrittsbeschluss kommen konnte.
Vor diesem Hintergrund betrachtet ist der Untertitel Begegnungen mit einem unbegreiflichen Volk dann doch ein wenig tiefgestapelt, denn Christoph Scheuermann hilft einem hier durchaus, vieles ein wenig besser zu verstehen und überkommene Traditionen ebenso wie Entwicklungen der Moderne in ein Gesamtbild einzuordnen.

Christoph Scheuermann: Unter Briten. Begegnungen mit einem unbegreiflichen Volk. München / Hamburg, DVA / Penguin Verlag / SPIEGEL-Verlag, 2017, 237 Seiten.
ISBN: 978-3328102083


Genre: Sachbuch allgemein