Es sind nicht unbedingt nur glückliche Erinnerungen, die den Vor- und Frühgeschichtler Ingwer Feddersen mit seinem Heimatdörfchen Brinkebüll verbinden. Doch als es mit der Gesundheit seiner dementen Großmutter Ella und ihres starrköpfigen Mannes Sönke steil bergabgeht, nimmt Ingwer sich ein Sabbatjahr, um als Pfleger einzuspringen und sich zugleich um den maroden Dorfkrug der Familie zu kümmern. Die Heimkehr auf Zeit wird nicht nur zu einer Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit, sondern auch mit dem radikalen Wandel des ländlichen Raums seit dem Zweiten Weltkrieg …
In weitaus stärkerem Maße als Dörte Hansens Debüt Altes Land ist ihr neuer Roman Mittagsstunde eine Abfolge von Stimmungsbildern ohne sonderlich ausgeprägte übergreifende Handlung. Im Mittelpunkt stehen weniger die Erlebnisse der sperrigen und gerade nicht als leicht zugängliche Identifikationsfiguren angelegten Protagonisten, sondern die oft zerstörerischen Veränderungen, denen Landschaft und Lebensweise in den letzten fünf bis sechs Jahrzehnten unterworfen waren. Dreh- und Angelpunkt der Entwicklung ist dabei in Brinkebüll eine Flurbereinigung, die nicht nur das Leben der Wirtsfamilie Feddersen durcheinanderwirbelt und indirekt für Ingwers Existenz verantwortlich ist, sondern dem Ort auch sein bisheriges Gesicht nimmt (bis auf das in letzter Sekunde vom Dorflehrer gerettete Hünengrab).
Hansen beschwört dabei nicht nur in spröder Klarheit eine fiktive, aber realitätsnahe Topographie herauf, sondern erweist sich auch wieder einmal als präzise Beobachterin unterschiedlicher Milieus in allen behandelten Epochen – von der starren alten Dorfgemeinschaft, der die titelgebende Mittagsstunde heilig ist, über eine Hippiekommune auf dem Lande bis hin zu Ingwers akademischer Umgebung und alternder WG im Kiel der Gegenwart. Gelegentlich kann man sogar etwas schmunzeln (so gibt es z.B. Anspielungen auf ihren Spezialinteressen sehr ergebene Archäologen, in denen man u.a. Alfred Dieck und Marcus Junkelmann erkennen kann, und auch einige der zu einem Großteil auf Plattdeutsch gebotenen Dialoge enthalten einen Spritzer Humor).
Insgesamt ist die Atmosphäre jedoch deutlich düsterer und hoffnungsloser als im Alten Land. Dass eine exzentrische Dorfbewohnerin sich als Weltuntergangsprophetin betätigt, ist symptomatisch: Verlust, Abschied, Tod und die Unerfüllbarkeit ureigenster Wünsche sind zentrale Themen, vermeintlich Tröstliches wird in mehr als einem Fall als Lebenslüge entlarvt, und mehr als einem Neuanfang haftet ein Hauch von Erbärmlichkeit an. Hansens Nordfriesland erscheint als Gegenbeweis zu dem alljährlich durch die Medien geisternden Befund, in Schleswig-Holstein würden die glücklichsten Menschen von ganz Deutschland leben. Dennoch weiß man nicht ganz, ob man das Ende der überkommenen Sozialstruktur wirklich bedauern soll, denn so, wie sie beschrieben wird, hatte sie viel geistige Enge, Verlogenheit und Raum für Gewalt zu bieten, aber abgesehen von einem diffusen Heimatgefühl nicht viel, was dem postmodernen Trübsinn der Romangegenwart überlegen wäre. So ist das Vergnügen, das die Mittagsstunde einem durch Hansens Sprachkunst und ihr Talent für eine ganz spezielle Art geschriebener Genrebilder bietet, eher intellektueller als emotionaler Natur. Wer ein Buch sucht, das ihn ein wenig mit der Welt und der Menschheit versöhnen kann, wird es hier jedenfalls nicht finden.
Dörte Hansen: Mittagsstunde. München, Penguin, 2018, 320 Seiten.
ISBN: 9783328600039