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Ungeheuerlich

Alte Karten und Beschreibungen von Küsten und Meeren sind voller Fabelwesen, die mit der realen Fauna der dargestellten Region allenfalls bedingt etwas zu tun haben. Der Historiker Erling Sandmo nimmt sich in Ungeheuerlich. Seemonster in Karten und Literatur 1491 – 1895 der verblüffenden, unheimlichen und oft auch sehr amüsanten Kreaturen an, die durch die Bestände der norwegischen Nationalbibliothek geistern. In kurzen Kapiteln, die sich auch sehr gut unabhängig voneinander lesen lassen, wird jeweils ein wundersames Tier oder Phänomen vorgestellt, um dann in einer meist doppelseitigen historischen Illustration auch im Bild präsentiert zu werden. Die Übersetzung von Sylvia Kall wirkt elegant und flüssig, so dass die Lektüre zur genüsslichen Entdeckungstour werden kann.
Während Seeschlangen, Meermenschen oder schiffeversenkende Riesenkraken fast schon zum Standardinventar phantasievoller Seefahrergeschichten zählen, begegnet man in Sandmos kleinem Kompendium der bizarren Meeresbewohner auch originelleren Geschöpfen, so etwa dem ebenso gierigen wie ängstlichen swamfisk, der sich im Notfall sogar selbst auffrisst.
Neben Ungeheuern im eigentlichen Sinne bevölkern auch reale Tiere, über die man Merkwürdiges berichtete, die Seiten. Vermeintliche Wunderzeichen (wie eine im 17. Jahrhundert gefangene Scholle, deren Haut ein Kreuzeszeichen aufwies, so dass man sogleich den Bischof von Bergen informierte) stehen neben ungewöhnlichen Verhaltensweisen, die man bei Walross, Rochen oder Wal beobachtet haben wollte. Darüber hinaus spielen immer wieder auch andere erstaunliche Geschichten eine Rolle. So vertrat ein Geistlicher im frühen 18. Jahrhundert etwa die Theorie, Odysseus habe nicht nur die Lofoten bereist, sondern sei überdies mit Odin gleichzusetzen.
Wie vieles in dem Buch regt diese These aus heutiger Sicht natürlich zum Schmunzeln an, aber all das Witzige, Abstruse und Unterhaltsame trägt letztlich dazu bei, eine durchaus ernsthafte Geschichte zu erzählen – die nämlich von einem Wandel des Weltbilds, das in der hier im Zentrum stehenden Frühen Neuzeit einen allmählichen Übergang von Wundergläubigkeit und mythischer Zeichenhaftigkeit zu naturwissenschaftlichen Erklärungen erlebte. Stand erst noch die Frage im Vordergrund, was Erscheinen und Verhalten eines monströsen Wesens im wahrsten Sinne des Wortes zu bedeuten hätten, überwog später der Aspekt der Erforschung. Sandmo weiß mit leichter Hand deutlich zu machen, dass die Welt im Zuge ihrer Entzauberung zwar viel von ihrem Schrecken, aber in gewisser Weise auch etwas von ihrem Charme einbüßte.
Umso schöner ist es, den heute größtenteils vergessenen Bewohnern eines mit Magie und Legenden aufgeladenen Meeres in Ungeheuerlich begegnen zu können und sich auch an der liebevollen Gestaltung zu freuen: Beispielsweise ist im vorderen Buchdeckel der Innenteil einer Windrose ausgespart, so dass einen vom Vorsatzblatt aus ein Ungeheuerauge aus dem geschlossenen Buch anblickt. Ein rundum gelungenes kleines Werk also, dem man viele begeisterte Leserinnen und Leser (sowie Betrachterinnen und Betrachter) wünscht!

Erling Sandmo: Ungeheuerlich. Seemonster in Karten und Literatur 1491 – 1895. München, Nagel & Kimche, 2018, 100 Seiten.
ISBN: 9783312010943


Genre: Kunst und Kultur, Märchen und Mythen, Sachbuch allgemein